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Zwei tschechische Schönheiten, die miteinander rivalisieren: Prag (links) und Brünn. Bildrechte: Collage: Colourbox.de / Colourbox.de

TschechienBrünn vs. Prag: Eine tschechische Hassliebe

16. September 2023, 16:58 Uhr

Rivalitäten zwischen Städten gibt es überall – und sie werden genussvoll zelebriert: So schimpft man in Leipzig über Dresden und anders herum, auch Kölner und Düsseldorfer lassen kein gutes Haar aneinander. Das ist in Tschechien nicht anders: Hier sind es Brünn und die Hauptstadt Prag, die ihre Feindschaft pflegen – mit Witz und bösen Worten.

"Wie heißt die bewohnte Abzweigung zwischen Prag und Wien? Antwort: Brünn." 

Das ist nur einer von vielen Witzen, die die Bewohner der tschechischen Hauptstadt auf Kosten der zweitgrößten Stadt des Landes reißen. 1,3 Millionen Prager stehen 400.000 Brünner gegenüber, beide Städte trennen rund 200 Kilometer – und eine Flut an Gemeinheiten und Sticheleien. 

Besonders gehässig geht es auf Facebook zu: Dort gibt es schon lange eine Seite mit der vielsagenden Bezeichnung "Prager Institut für die Beleidigung Brünns" ("Pražský institut pro urážení Brna"). Sie hat 93.000 Follower und ist voll von mehr oder weniger gelungener Satire über die wichtigste Stadt des mährischen Landesteils. Schon auf dem Profilbild der Satire-Seite findet sich die Anspielung auf den wohl wundesten Punkt überhaupt: Das Fehlen einer U-Bahn in Brünn. Daher die Abbildung einer imaginären Station Špilberk, die sich unter dem gleichnamigen Stadthügel Brünns befinden sollte.

Die Haltung der Prager gegenüber der zweitgrößten Stadt des Landes (Symbolbild). Bildrechte: IMAGO / CHROMORANGE

Auch einer der bekanntesten Brünn-Witze basiert auf einem Wortspiel mit dem Begriff "Metropole". Demnach sei Brünn die einzige Metropole ohne "Metro", wie die U-Bahn in Tschechien generell genannt wird, aber dafür ein "Pole", was im Tschechischen "Feld" oder "Acker" bedeutet. Die Betreiber des Satire-Accounts stellen Brünn als biederes "Provinznest" dar, in dem man angeblich nur ein paar Minuten braucht, um von einem Ende der Stadt zum anderen zu gelangen.

Aus der Sicht der Brünner ist gerade das jedoch ein Beweis für die Überheblichkeit der Hauptstadtbewohner. Auch sie haben auf Facebook zur Gegenwehr angesetzt und zwar mit einer Fanpage, die originellerweise "Brünner Institut für die Beleidigung Prags" heißt (Brněnský institut pro urážení Prahy). Sie hat allerdings wesentlich weniger Follower, nur etwas mehr als 5.000.

Ohne Metro keine Metropole: Die U-Bahn in Prag. Bildrechte: IMAGO / PEMAX

Ein neues Phänomen

Diese Rivalität zwischen Prag und Brünn gab es nicht immer, sie ist relativ jungen Ursprungs, wie der tschechische Ethnologe und Folkloristik-Experte Petr Janeček für den MDR erläutert: "Das hat in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, bzw. Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre begonnen und hing stark mit der Entstehung einer neuen tschechischsprachigen Identität Brünns zusammen. Die neue örtliche Künstlerszene versuchte sich der lokalen Kultur und insbesondere des spezifischen Brünner Dialektes anzunehmen. Bis Kriegsende war ja Brünn eine überwiegend deutsche und auch jüdische Stadt. Zur zweitgrößten tschechischen Stadt gleich nach Prag ist Brünn erst als Folge des Holocaust und der Vertreibung der Deutschen geworden."

Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen vernichteten den spezifischen Mikrokosmos, den es in Brünn über Jahrhunderte gab. Was aus dem permanenten Aufeinandertreffen von deutscher und tschechischer Sprache, sowie Jiddisch und Romanes übrigblieb, ist der spezifische Dialekt, der sich "Hantec" nennt, und heute immer stärker in Vergessenheit gerät. Das unter den Pragern bekannteste und am meisten parodierte Wort aus diesem Dialekt heißt "Šalina". Das ist die örtliche Bezeichnung für die Straßenbahn, die auf Tschechisch "Tramvaj" heißt. Dementsprechend wird Brünn oft "Šalingrad" genannt. Manch Brünner reagriert allergisch, wenn ein Fremder fragt, wo denn bitte die nächste Haltestelle der "Tramvaj" sei. In Brünn dagegen wird Prag oft "Cajzlov" genannt. Das ist von der dialektalen Variante ("Zeisel") des Begriffes "Zeisig" abgeleitet, wobei die Singweise des besagten Vogels an die Sprachmelodie der Prager erinnern soll.

Das ist eine Šalina - und keine Tramvaj: Eine Straßenbahn in Brünn. Bildrechte: IMAGO / Panthermedia

Ursprung im Theater?

Der tschechische Literaturkritiker und Autor Jakub Šofar hält die Rivalität beider Städte allerdings für etwas Künstliches, was insbesondere von der Brünner Seite sorgfältig gepflegt wurde und wird: "Ich denke, dass das teilweise mit Künstlern und Schauspielern rund um das bekannte und renommierte Brünner Theater am Faden (Divadlo na provázku) zusammenhing. Diese hatten natürlich aber auch Rollen und Engagements in Prag übernommen. Sie taten das allerdings mit so einem Grundton, als ob sie von Brünn kommend in Prag die Dinge aufs rechte Gleis setzen müssten. Natürlich war das zur Gänze übertrieben und wohl auch nicht ganz ernst gemeint. Aber bei einigen Brünnern scheint das verfangen zu haben und sie glauben allen Ernstes bis heute daran."

Brünn hat sich als gefragter Wissenschaftsstandort etabliert. Im Bild: Das Planetarium und einige auswärtige Besucher. Bildrechte: IMAGO / CTK Photo

Vor der Wende waren alle Städte in der damaligen Tschechoslowakei grau und verkommen. Doch Brünn war noch grauer als die anderen. Ab den 1950er Jahren wurde es zu einer Garnisonsstadt mit einer Architektur nach sowjetischen Mustern ausgebaut. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als die ersten westlichen Investoren nur Augen für Prag hatten, versuchte Brünn aus der Not eine Tugend zu machen. Obwohl die Stadt weit weg von den Prager Ministerien und deren finanziellen Zuwendungen gelegen war, gelang es Brünn, sich als gefragter Wissenschafts-Standort zu etablieren. Man war eben etwas quirliger als die Prager, wenn es um das Anzapfen der ersten europäischen Fördergelder ging. Konsequent wurde auch die relative Nähe - rund 150 Kilometer - zur österreichischen Hauptstadt Wien genutzt, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ebenfalls aus ihrem Dornröschenschlaf erwachte.

Bier vs. Wein

Und ja, natürlich kultivierte man auch die bereits bestehenden Vorurteile gegenüber Prag. Was stört eigentlich die Brünner bis heute am meisten an den Pragern? "Ihnen wird eine angebliche Geringschätzung anderer vorgeworfen, dazu ein übertriebener Kosmopolitismus. Die Brünner parodieren auch oft die etwas ´singende´ Redeweise der Prager, die übrigens gar keine Prager Besonderheit ist, sondern in Wahrheit typisch für Dialekte, die im Südwesten Tschechiens gesprochen werden," meint der Ethnologe Janeček. Und was ist das überhaupt größte Vorurteil den Hauptstädtern gegenüber? "Die Prager würden angeblich nichts vom Wein verstehen. Damit geht eine in Brünn beliebte Klassifizierung der Qualität eines Weines einher, die insgesamt drei Stufen unterscheidet: erstens gut, zweitens nicht so gut und drittens gut für Prag."

Apropos Alkohol: Auch das ist ein markanter Unterschied nicht nur zwischen Prag und Brünn, sondern auch zwischen dem böhmischen und dem mährischen Landsteil Tschechiens. Im Ersten dominiert die Bierkultur, im Letzteren die Weinkultur. Das gibt naturgemäß Anlass zu Witzen. Dabei steht insbesondere die Brünner Lokalbrauerei Starobrno im Fokus. Zum Beispiel: "In Brünn kann man das Wasser nur dann genießen, wenn es mehrfach überkocht ist. Das Ergebnis ist dann das Bier Starobrno."

Ziel manchen Spottes: Die Brauerei Starobrno. Bildrechte: IMAGO / Volker Preußer

Laut dem Folkloristen Petr Janeček gibt es trotz aller Gegensätze etwas, das die Prager und Brünner miteinander verbindet: "Der Humor. Ich muss aber eingestehen, dass es wesentlich mehr Brünner Witze über Prager gibt, als umgekehrt. Sie sind auch farbiger, of um einen derberen Ausdruck nicht verlegen."

Eine "Brünner Regierung"

Dennoch lässt sich nicht verhehlen, dass im Duell der Städte Prag und Brünn Letztere ein wenig das Nachsehen hatte. Das hat sich jedoch schlagartig nach den letzten Wahlen geändert. Seither wird das Land nämlich von einer Regierung geführt, deren wichtigste Mitglieder aus Brünn stammen. Beginnend mit Premier Petr Fiala, der vor seinem Gang in die Politik in der zweitgrößten tschechischen Stadt die dortige Masaryk-Universität leitete.

Auch die Minister für Gesundheit und Justiz und für Bildung kommen aus Brünn. Im Volksmund ergo auf Social Media wird daher das Kabinett Fiala schon mal als "Brünner Regierung" bezeichnet. Vor allem die von Fialas Regierung verordneten Sparpakete könnten die Hassliebe zwischen beiden Städten künftig noch ein Stück intensiver werden lassen. Es ist also anzunehmen, dass die Prager Witze über Brünn und Brünner über Prag sich nicht so leicht erschöpfen werden.  

Brünns derzeit mächtigster Sohn: Der tschechische Premier Petr Fiala. Bildrechte: picture alliance/dpa/EPA POOL/AP

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Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT | 02. Juni 2023 | 13:50 Uhr