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UkrainekriegZerstörtes Charkiw - Warum die Ukrainer gerade jetzt ihre Häuser wieder aufbauen

17. März 2023, 10:25 Uhr

In der Ukraine scheint kein Frieden in Sicht, jeden Tag wird heftig gekämpft. Menschen sterben, kritische Infrastruktur und Privathäuser werden durch russische Angriffe zerstört. Doch Aufgeben ist für viele keine Option – es gibt sogar viele Ukrainer, die ihre zerstörten Häuser nicht zurücklassen, sondern sich um den Wiederaufbau kümmern und ihre Häuser sanieren.

von Anna Kolomiitseva, Kiew

Die Wohnung der 20-jährigen Maryna liegt am östlichen Rand der Stadt Charkiw in der "Friedensstraße". An Frieden ist hier, 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, noch lange nicht zu denken, immer wieder kommt es zu russischen Angriffen. Maryna wohnt in einem fünfstöckigen Plattenbau aus der Sowjetzeit. Als im Frühling vergangenen Jahres die russischen Truppen in die Vororte Charkiws einrollten, stand Marynas Viertel wochenlang unter Beschuss. Ihr Haus wurde zweimal getroffen. "Die Streumunition hat die Türen zerstört. Das ganze Haus ist ins Wanken geraten, dadurch sind Risse in den Wänden entstanden, die Tür zum Badezimmer konnte man nicht mehr schließen. Die Wohnung war eigentlich unbewohnbar."

Beim Wiederaufbau der ukrainischen Stadt Charkiw ist das Engagement der Bürger gefragt. Bildrechte: privat

Kurz nach dem Angriff sollten die Bewohner entscheiden: Abriss oder Sanierung? "Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein derart zerstörtes Haus überhaupt saniert werden kann. Aber man hat tatsächlich den gesamten Hauseingang wieder aufgebaut!"

Maryna floh im Frühling 2022 aus Charkiw, kehrte aber bereits im Mai desselben Jahres wieder zurück. Zunächst lebten außer ihr nur noch vier andere Menschen im gesamten Haus, erst jetzt kehren ihre Nachbarn langsam wieder zurück.

Die Hälfte der Hochhäuser in Charkiw zerstört

Charkiw ist durch die russische Bodenoffensive bis heute stark gebeutelt. Vor dem Krieg lebten knapp zwei Millionen Menschen hier, jetzt sind es gerade einmal 1,1 Millionen. Ungefähr 4.500 bis 5.000 Mehrfamilienhäuser sind beschädigt – rund die Hälfte aller bewohnbaren Hochhäuser der Stadt. Die Schäden, die in Charkiw durch den russischen Angriff entstanden sind, belaufen sich groben Schätzungen zufolge auf rund neun Milliarden Dollar.

Durch den russischen Überfall sind rund 150.000 Menschen obdachlos geworden. Viele von ihnen sind in Studentenwohnheimen, die zurzeit leer stehen, untergekommen. Der Wiederaufbau geht nur langsam voran, obwohl der Wille da ist: Die Stadtverwaltung selbst hat bisher 185 Wohnhäuser saniert oder neu errichtet, sagt Bürgermeister Ihor Terechow. "Meine Aufgabe ist dabei, alles Mögliche für den Wiederaufbau schon vor unserem Sieg zu tun, damit die Menschen dann blitzschnell zurückkehren können. Weil wir weiterhin eine Metropole, eine Zwei-Millionen-Stadt sein müssen", sagte Terechow in einem Interview mit BBC Ukraine.

Britischer Star-Architekt will beim Wiederaufbau helfen

Die Stadt hat die Nachkriegszeit bereits im Blick und zeigt sich durchaus ambitioniert: So willigte der britische Star-Architekt und Pritzker-Preisträger Lord Norman Foster ein, an dem Wiederaufbau Charkiws ehrenamtlich mitzuwirken. Seitdem gibt es zwischen ihm und dem Bürgermeister von Charkiw, sowie einer Gruppe einheimischer Sachverständiger regelmäßige Gespräche. Kurz vor der Jahreswende wurden die Pläne bei einem Treffen im ukrainischen Ushhorod der Öffentlichkeit vorgestellt. Planungs-Schwerpunkte dabei sind: Denkmalschutz, Umwelt, Industrie, Wohnraum sowie Wissenschaft.

Kriegszerstörungen in Charkiw: Stanislaws Wohnung nach dem Beschuss durch die russische Armee. Bildrechte: privat

So weit in die Zukunft können die meisten Einwohner Charkiws aber wohl noch nicht denken. Zu sehr drücken aktuelle Sorgen. Der 36-jährige Stanislaw wohnt mit seiner Mutter in der Nähe einer Militärschule, die während der russischen Angriffe unter starkem Beschuss stand. "Unsere Fensterscheiben zerbarsten, das Dach wurde zerstört, der Putz bröckelte von der Decke." Die Hausverwaltung begutachtete und dokumentierte die Schäden, Stanislaw und seine Mutter erhielten in der Folge insgesamt knapp 2.000 Euro (75.000 ukrainische Hrywnas), um die Wohnung zu sanieren. Doch gerade in stark zerstörten Häusern läuft dabei vieles schief, erzählt Stanislaw: "Man hat uns neue Heizkörper installiert. Dann waren sie plötzlich leck, überall waren Pfützen".

Dass der Wiederaufbau nicht überall gelingt, zeigt auch das Beispiel der 31-jährigen Maryna. Kurz vor dem Krieg hatte sie ihre Einzimmerwohnung in dem Charkiwer Vorort "Nordsaltiwka" renoviert und stand kurz vor dem Einzug. Dann begann der russische Überfall auf die Ukraine und ihr Stadtteil lag in einem hart umkämpften Gebiet, Marynas Haus wurde zweimal getroffen und schwer beschädigt. Als die Stadtverwaltung dann im Herbst 2022 die Heizung anstellte (in der Ukraine werden Mehrfamilienhäuser zentralisiert beheizt), kam es wegen beschädigter Rohrleitungen im Haus zu einer großen Überschwemmung. Marynas frisch sanierte Wohnung ist jetzt kaum noch bewohnbar. "Was unsere russischen 'Nachbarn' nicht kaputt gemacht haben, machen die Versorgungsbetriebe kaputt", sagt sie entmutigt.

Unter Beschuss Reperaturen vornehmen

Beim Wiederaufbau ist häufig das Engagement der Bürgerinnen und Bürger gefragt. Einer davon ist Kostjantyn, der im Stadtviertel Pjatichatki wohnt, das am nächsten zur russischen Grenze liegt. Hier wurde bereits am Nachmittag des ersten Kriegstages, am 24. Februar 2022, gekämpft. Die Häuser sind stark beschädigt. Bereits seit April des vergangenen Jahres engagiert sich der 33-Jährige ehrenamtlich im Kiez.

Wegen des andauernden russischen Beschusses geht den Bauarbeitern in Charkiw die Arbeit nicht so schnell aus. Bildrechte: privat

Vor dem Krieg hatte sich der Bauarbeiter auf Höhenarbeiten spezialisiert. Der Entschluss, seinen Nachbarn beim Wiederaufbau zu helfen, war schnell gefasst. "Im April wurden wir noch beschossen, keiner wagte sich in diesen Stadtteil", sagt der junge Mann. Er und sein fünfköpfiges Team waren oft die ersten, die die zerstörten Fenster der Nachbarn instandsetzten, Dächer flickten und Rohre reparierten. Das Baumaterial lieferte die Stadtverwaltung.

Auf die Frage, ob er dabei sein eigenes Leben riskierte, antwortet Kostjantyn: "Ja. Es war heikel, besonders im April und Mai. Manchmal musste ich praktisch unter Feuer arbeiten. Aber der Mensch kann sich an alles gewöhnen". Kostjantyn hat bereits in rund 60 Häusern in der Nachbarschaft Sanierungsarbeiten durchgeführt, in manchen sogar mehrmals. "In der Gegend gibt es kaum noch ein Haus, das nicht getroffen wurde", sagt er.

Jetzt führt er kleinere Arbeiten durch, die keine schwere Technik verlangen. Alles andere übernimmt die Stadtverwaltung, die seit Herbst auch in diesem Stadtbezirk den Wiederaufbau vorantreibt. "Wir helfen einfach den Menschen in Not", sagt Kostjantyn über seine Arbeit, "ich denke nicht viel an die Zukunft. Ich tue einfach das, was ich tun muss".

Den Nachbarn helfen und nicht an die Zukunft denken: Kostjantyns Team hat Spaß bei der Arbeit. Bildrechte: privat

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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | MDR AKTUELL | 09. März 2023 | 07:00 Uhr