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Anne Gersdorf von "JOBinklusive" fordert die schrittweise Auflösung des Werkstätten-Systems. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

NachgefragtWerkstätten: "Menschen mit Behinderung stehen nicht im Mittelpunkt"

08. November 2023, 17:36 Uhr

Die Initiative "JOBinklusive" ist ein Bereich der Sozialhelden in Berlin. Sie will erreichen, dass mehr Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden. Ihre Sprecherin Anne Gersdorf fordert einen schrittweisen Ausstieg aus den Werkstätten.

Martin Fromme, MDR Selbstbestimmt: Was halten Sie von so einer Aktion wie dem Schichtwechsel?

Anne Gersdorf, JOBinklusive: Ehrlich gesagt, nicht viel. Weil das eine Alibiveranstaltung ist. Die Mehrheitsgesellschaft bekommt gezeigt, wie gut Werkstätten eigentlich sind und das sollte nicht Sinn und Zweck von einer großen Aktion sein, es geht darum, Werkstätten zu verändern.

Was ist die Aktion Schichtwechsel?Menschen mit und ohne Behinderungen tauschen für einen Tag ihren Arbeitsplatz und ermöglichen so einen Perspektivwechsel. Den Mitarbeitenden aus Unternehmen ermöglicht der Aktionstag zudem Begegnungen mit den Menschen in den Werkstätten, Einblicke in die Vielfalt der Produkte und Dienstleistungen und ein Mitwirken an den Arbeitsprozessen.

Die Beschäftigten der Werkstätten schnuppern in Berufsfelder des allgemeinen Arbeitsmarkts und lernen ein Unternehmen für einen Tag näher kennen. Der Aktionstag findet seit 2017 in Berlin statt.

Was finden Sie so problematisch daran?

Das Problem ist, dass das System sehr miteinander verknotet ist. Und keiner diesen Knoten auflöst. Alle Seiten profitieren davon: Unternehmen, die Wirtschaft, der Staat und die Werkstätten. Es geht nicht um Menschen mit Behinderung, die stehen da nicht im Mittelpunkt, und das ist unsere große Kritik daran.

Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

JOBinklusive hat sich mit der Rolle der Werkstätten im Wirtschaftssystem auseinandergesetzt:Die Wirtschaft gibt Aufträge an die Werkstätten, die diese für nur sieben Prozent Mehrwertsteuer günstig erledigen. Große Unternehmen können durch die Aufträge außerdem die Ausgleichsabgabe verringern. Diese müssen sie zahlen, wenn sie zu wenige behinderte Mitarbeiter haben.

Die öffentliche Hand zahlt rund 17.000 Euro pro Jahr für jeden behinderten Menschen in der Werkstatt. Plus Grundsicherung und andere soziale Leistungen. Davon fließt ca. die Hälfte durch Abgaben oder Versicherungen zurück. Die öffentliche Hand, Wirtschaft und die Werkstätten für behinderte Menschen hängen so direkt zusammen.

Sie fordern die Schließung der Werkstätten?

Also wir fordern nicht die absolute Schließung von heute auf morgen. Ich weiß nicht, wer das erfunden hat. Aber wir fordern den Einstieg in den Ausstieg und zwar nicht erst in fünf Jahren, sondern heute. Und wir haben ganz viele Maßnahmen, wir haben das Budget für Arbeit, das Budget für Ausbildung in den Werkstätten, wir haben unterstützte Beschäftigung, aber wir nutzen die Sachen nicht.

Wie soll das vonstatten gehen?

Wir fordern, dass der Mindestlohn in Werkstätten eingeführt wird, das kann aber nur ein erster Schritt sein, weil es an dem System eigentlich nichts verändert. Und Werkstätten müssen transparenter sein: Wie werden die Leute konkret unterstützt, die dort arbeiten und beschäftigt sind, dass sie auf den allgemeinen Arbeitsmarkt kommen und dann müssen wir uns eben daranmachen, die Werkstätten nach und nach aufzulösen.

Pro und Contra Werkstätten im "Selbstbestimmt"-Magazin Oktober 2021

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt | 10. Oktober 2021 | 08:00 Uhr