Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio

Religion & Gesellschaft

KalenderGottesdiensteJüdisches LebenKontakt
Blick aufs Tote Meer Bildrechte: IMAGO / YAY Images

Schabbat Schalom | 22.07.2022Elija Schwarz: "Krieg und Frieden – wir müssen zu beidem fähig sein"

21. Juli 2022, 12:00 Uhr

Ein Frieden, der auf einem faulen Kompromiss beruht, wird nicht von Dauer sein. Davon erzählt Kantor Elija Schwarz mit Blick auf die Tora anhand zweier Männer, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Pinchas, kompromisslos, was Grundwerte angeht – und Jehoschuà, der immer wieder versucht, Frieden zu schaffen. Beiden wird die Führerschaft eines Volkes zugesprochen: heiliger Eifer vs. offener Geist – was bedeutet dieses Gegeneinander zweier Prinzipien?

Wenn wir in Israel am Strand des Toten Meeres liegen und auf das gegenüberliegende jordanische Ufer schauen, sehen wir nicht nur die Herkunftsgegend von König Dawids Urgroßmutter Rut und das Land, in dem Mosche seine letzte Ruhe fand; wir sehen auch das ehemalige Königreich Mo‘aw. Wenn die Tora von Mo'aw erzählt, ist es im Allgemeinen negativ und auch sexuell konnotiert. Das fängt schon mit Mo'aws Herkunftserzählung an, aus der sich ergibt, dass Mo'aw und Jissra'el Verwandte sind. Denn der Urvater Mo'aw war das Ergebnis einer inzestuösen Beziehung zwischen Awrahams Neffen Lot und seiner ältesten Tochter.

Die Tora berichtete letzte Woche, dass die Israeliten auf ihrem Zug von Ägypten ins Heilige Land dem Königreich Mo'aw gegenüber in großer Zahl lagerten. König Balak sah dies und versuchte zu retten, was noch zu retten war. Wir lasen von seiner misslungenen Unternehmung, die Jissra'eliten durch den Magier Bil'am verfluchen zu lassen. Noch bevor dieser erfolglos das Weite suchte, gab er Balak einen heißen Tipp, wie er die Kinder Jissra'el schwächen und den Ewigen gegen sie aufbringen könne.

Der Zorn des Ewigen erglühte

König Balak solle die Töchter seines Landes dazu bringen, um die Männer Jissra'els zu buhlen, eine sexuelle Beziehung mit ihnen einzugehen und gemeinsam dem Fruchtbarkeitsgötzen Ba'al Pe'or zu dienen. Das war natürlich ein Verstoß gegen das zweite Gebot: "Du sollst keine fremden Götter haben vor mir." Der Zorn des Ewigen erglühte und manifestierte sich in einer ausgewachsenen Seuche mit 24.000 Toten.

Gott befahl Mosche, harte Anti-Seuchen-Maßnahmen durchzuziehen und alle Verantwortlichen zu töten. In dieser Zeit gab es mit dem sexuellen Stelldichein der mo‘awitischen Fürstentochter Kosbi und dem israelitischen Fürstensohn Simri innerhalb der High Society und damit auch innerhalb der Führungsebene der Israeliten einen ganz offensichtlichen und plakativen Verstoß gegen die Anti-Seuchen-Maßnahmen.

Die beiden, in flagranti beim Frönen eines Fruchtbarkeitskultes Getöteten, waren Prominente, deren Tun und Lassen Beachtung fanden innerhalb des Volkes. Von Vorbildwirkung keine Spur! Mosche, Aharon und die 70 Ältesten waren in ihrem Entsetzen und ihrer Trauer zu keiner Reaktion fähig. Aharons Enkel Pinchas hingegen geriet in einen religiösen Eifer, und tötet beide während ihres Beischlafes auf Simris Lagerstatt mit einem Speerstich. Der mittelalterliche Kommentator Raschi betont, dass der Stich sauber durch beider Genitalien ging, Werkzeuge ihrer Sünde – und dass danach sofort Gottes Grimm und damit die Seuche endete. Pinchas erhält den Friedensbund und die ewige Priesterwürde für sich und seine Nachkommen.

Wieso wird ein solcher religiöser Eifer belohnt und so ausgezeichnet? Normalerweise hört man nicht davon, dass von Fanatikern die Welt je besser geworden wäre!

Elija Schwarz

Zwei Kapitel weiter lesen wir: "Und der Ewige sprach zu Mosche: Nimm dir den Jehoschu'a, Sohn Nun, einen Mann, in dem Geist ist, und lege deine Hand auf ihn." Das meint, mache ihn zu deinem Nachfolger. Raschi schreibt zu Geist, im Zusammenhang mit dieser Stelle: "der den Geist eines jeden von ihnen ertragen kann." Jehoschu'a, der zukünftige Anführer der Israeliten, verkörpert einen Menschentypus, der in der Lage ist, sein Herz zu öffnen für Vielfalt und Kompromiss.

In unserem Wochenabschnitt werden zwei Gegensätze gepriesen und sowohl Pinchas als auch Jehoschu'a Führerschaft des Volkes zugesprochen – heiliger Eifer vs. offener Geist?

Jegliches hat seine Zeit

In Kohelet, dem Prediger Salomo, lesen wir, dass jegliches unter dem Himmel seine Zeit hat: "Eine Zeit hat Lieben und eine Zeit Hassen; eine Zeit ist des Krieges und eine Zeit des Friedens." 

Krieg und Frieden – wir müssen zu beidem fähig sein.

Elija Schwarz

Pinchas ist kompromisslos und Kompromisslosigkeit ist gut, wenn die Grundwerte unseres Zusammenlebens auf dem Spiel stehen. Pinchas hat den von Teilen der Führungsschicht ausgehenden Bruch in der Gesellschaft erst sichtbar gemacht.

Denn Frieden ist nicht nur ein soziales und politisches Gleichgewicht – es bedeutet auch ein moralisches Gleichgewicht. Wenn es uns nur politisch und sozial gut geht, ohne einen funktionierenden moralischen Kompass, wird der Friede nicht von Dauer sein.

Kein Friede mit Gott und unter uns Menschen kann gebaut werden auf der Grundlage von faulen Kompromissen oder einer Appeasement-Politik. Es gibt in der Bibel die Grundwerte von Freiheit, Menschenwürde und Gerechtigkeit. Sie müssen vor Infragestellung verteidigt und geschützt werden müssen.

Elija Schwarz

Der Preis für einen unsoliden, trügerischen Frieden, ist schon die Prämie für die Übeltäter. Für die uns allerheiligsten Sachen brauchen wir jemanden wie Pinchas – und so war sein Tätigkeitsfeld als Priester auch das Allerheiligste.

Und Jehoschu'a? Ist der jetzt für den Rest zuständig? Irgendwie ja! Wenn Menschen, so verschieden sie der Herr des Universums, auch geschaffen hat, eine vielschichtige, streitbare, meinungsreiche Gesellschaft werden sollen, die Widersprüche bereichernd findet – dann brauchen wir jemanden, der sie, wie Raschi schreibt, alle erträgt und auf einem Weg geeint zum Ziel führen kann.

Wir brauchen beide grundsätzlichen Denkweisen, die von Jehoschu‘a und die von Pinchas. Wir brauchen Politiker mit offenem Geist, beim Gestalten unserer Gegenwart und Zukunft und heiligem Eifer, wenn es um die Grundlagen unseres Zusammenlebens geht. Denn Alltäglichkeiten dürfen keine 'Heiligen Kühe' werden und Grundwerte sind nicht verhandelbar. Und mit Gottes Hilfe finden wir ein Gleichgewicht beider Denkweisen in unserer Gesellschaft, in unseren Partnerschaften und letztlich auch tief in uns selbst.

Zur Person: Elija SchwarzElija Schwarz (*1969) arbeitet als Kantor und Religionslehrer für den Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen und betreut auch das Jüdische Seniorenheim Hannover. Zuvor war er fünf Jahre lang Kantor der Etz-Chaim-Synagoge in Hannover. Parallel dazu leitet seit er 2003 Gottesdienste im Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein. Wenn er nicht dienstlich unterwegs ist, lebt Elija Schwarz in Halle an der Saale.

Schabbat Schalom bei MDR KULTURDie Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Weitere Sendungen von Schabbat Schalom

Mehr über Schabbat Schalom im MDR

Das könnte Sie auch interessieren

Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 22. Juli 2022 | 15:45 Uhr