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MDR Kultur | 16.06.2023Schabbat Schalom mit Michal Natovich: Wann ist ein politischer Streit legitim?

15. Juni 2023, 14:38 Uhr

Woran lässt sich ein populistischer Politiker erkennen? Er streitet nicht für die Sache, sondern nutzt Meinungsverschiedenheiten für persönliche Interessen. Das gilt seit der Antike, sagt Michal Natovich in ihrer Auslegung des Wochenabschnitts Korach.

Der Wochenabschnitt Korach beginnt mit einer der interessantesten politischen Geschichten aus der Zeit der Israeliten in der Wüste. Die israelitische Bevölkerung befindet sich bereits seit einigen Jahren in der Wüste, und viele Menschen sind mit dieser Situation nicht zufrieden. Die Führung von Moses und den Priestern wird von einer starken Opposition herausgefordert. Ihr Anführer heißt Korach, der niemand Anderes ist als der Cousin von Moses, ein reicher und mächtiger Mann. Zusammen mit 250 anderen wichtigen Männern ruft er zum Protest gegen Moses und Aaron.

Worum geht es bei diesem Streit?

Korach und seine Anhänger wenden sich direkt an Moses und Aaron und schreien: "Zuviel für euch! Denn die ganze Gemeinde sind allesamt Heilige, unter denen der Ewige ist, und warum erhebt ihr euch über die Versammlung des Ewigen?" (Num. 16.3)

Mit anderen Worten, sie versuchen zu sagen, dass alle Menschen heilig sind, das ganze jüdische Volk. Warum also versuchen Mosche und Aaron, eine Hierarchie der Führung und der Priester zu schaffen und sich über alle anderen zu stellen? Sie sprechen gegen die so genannte "Elite-Führung" von Mosche und Aharon und sagen, dass das so genannte "Volk" das Recht hat, Gott nahe zu sein.

Auf den ersten Blick scheint es, dass Korach einen berechtigten Anspruch hat. Es scheint, als ob sie sich zu Recht gegen die religiöse Erbschaft von Moses als Anführer und Aaron und den Priestern als Diener Gottes wenden.

Nur der Streit um die Wahrheit ist legitim

Was viele Kommentatoren der Wochenabschnitt bemerkt haben, ist, dass hinter diesen sehr überzeugenden Argumenten andere Motive stecken. Rabi Jonathan Sacks behauptete, dass Korach dachte, er hätte das Recht, Präsident seines Stammes zu sein. Er, und nicht der Mann, den Moses schließlich wählte. Seine Bitterkeit gegenüber Moses war also in Wirklichkeit sehr persönlich.

Er war also ein populistischer Anführer auf der Suche nach Macht, benutzte aber Argumente der Gerechtigkeit und des Ausgleichs, um die Stimme des Volkes zu gewinnen. Außerdem war Korach so sehr davon überzeugt, dass er Recht hatte und die Wahrheit kannte, dass er der anderen Seite nicht zuhören wollte. Und es gab keine Möglichkeit, mit ihm zu diskutieren.

Dennoch waren die jüdischen Weisen nicht gegen Meinungsstreit, das Gegenteil ist der Fall. Die jüdischen religiösen Bücher sind voller Argumente und Meinungsverschiedenheiten. Juden werden ermutigt, unterschiedliche Meinungen zu haben. Ein alter jüdischer Anspruch sagt: "Wo zwei Juden sind, man kann mindestens drei Meinungen finden".

Doch der Weise unterscheidet zwischen einer Meinungsverschiedenheit um der Wahrheit willen und einer Meinungsverschiedenheit um des Sieges und persönlicher Interessen willen, wie es mit Korach war. Dem Weisen zufolge ist der einzige Streit, der Bestand hat und legitim ist, der Streit um die Wahrheit, um Prinzipien.

Der Wochenabschnitt, der Korachs Widerstand schildert, endet damit, dass Korachs Familie und er selbst von der Erde verschlungen und seine 250 Anhänger vom Feuer verzehrt wurden. Der Streit von Korach wurde im Judentum zu einem Symbol für einen Streit aus egoistischen Gründen.

Was können wir aus der Geschichte von Korach lernen? Vielleicht dieses: Wenn wir die wahren Absichten eines Politikers erkennen wollen, sollten wir nach den echten Motivationsgründen suchen und nicht nur nach den Argumenten, die überzeugend oder wahr erscheinen mögen. Ob überraschend oder nicht, obwohl sich die politischen Strukturen seit der Antike so sehr verändert haben, stehen wir immer noch vor dem gleichen Dilemma. Wir müssen das große Bild betrachten, wenn wir die Wahrheit finden wollen.

Schabbat Schalom!

Zur Person: Michal NatovichMichal Natovich wurde 1979 in Israel geboren und wuchs in einer modernen orthodox-jüdischen Familie auf. Sie studierte Literatur auf Lehramt und arbeitete nach ihrem Diplom-Abschluss mehrere Jahre als Lehrerin für Hebräische Sprache und Literatur an einer israelischen Schule.

Seit 2012 wohnt sie mit ihrer Familie in Leipzig. Dort war sie als Hebräisch-Dozentin in verschiedenen Institutionen tätig.

Seit 2020 arbeitet sie als Lehrerin für Jüdische Religion in Leipzig und Dresden.

Schabbat Schalom bei MDR KULTURDie Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 16. Juni 2023 | 15:45 Uhr