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MDR Kultur | 18.08.2023 | Wochenabschnitt: "Schof´tim"Schabbat Schalom mit Michal Natovich: Der Gerechtigkeit nachjagen

15. Juni 2023, 14:38 Uhr

Nach Gerechtigkeit zu streben ist entscheidend für unser Zusammenleben. Denn nur so können wir eine Gesellschaft schaffen, die auch die anstehenden Herausforderungen meistert, meint Michal Natovich in ihrer Auslegung des Wochenabschnitts Schof´tim.

"Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollt ihr nachjagen, damit ihr leben und das Land erben könnt, das der Herr, euer Gott, euch gibt."

Diese Worte, die am Anfang des Wochenabschnitts "Schof´tim§ stehen, sind dessen Kerngedanke. Die Israeliten sind viele Jahre in der Wüste und bald werden sie das Land Israel erben. Dazu müssen sie sich von Sklaven zu einer eigenständigen Nation entwickeln. Moses hält eine Rede und bietet den Israeliten eine grundlegende Gesellschaftsstruktur an, die diese Gerechtigkeit schaffen soll. Regeln für Richter, Könige, Priester, Propheten, Zeugen, Krieg und ungeklärte Morde.

Lassen Sie uns zur Eröffnung des Wochenabschnitts zurückgehen und den Satz "Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst du nachjagen" noch einmal betrachten. Warum wiederholt Moses das Wort "Gerechtigkeit"? Viele Kommentatoren gaben Erklärungen für die Wiederholungen dieses Wortes. Der große Rabbiner Menachem Mendel von Kotzk sagte, dass die Verdoppelung des Wortes zeige, dass das Streben nach Gerechtigkeit auch gerechtfertigt sein sollte. Manchmal streben wir nach Gerechtigkeit in einer bestimmten Angelegenheit, sind dabei aber blind für die Ungerechtigkeit, die wir dabei anrichten.

Gerechtigkeit muss erkämpft werden

Die Wiederholung unterstreicht, welche Bedeutung das Wort "Gerechtigkeit“ für das Verständnis von Moses‘ Rede hat. Aber mehr noch: der Satz sagt weiter, dass man die Gerechtigkeit aktiv verfolgen, ihr nachjagen soll. Wir wissen aus der Geschichte der Kämpfe für die Menschenrechte, für die Gleichberechtigung der Frauen, der Schwarzen, der Homosexuellen und natürlich auch der Juden, dass die "Gerechtigkeit" nicht umsonst zu haben ist, sondern dass man dafür kämpfen muss.

Gerechtigkeit ist keine feststehende Sache

Interessant finde ich auch die Wahl des Verbes "nachjagen ", auf Hebräisch "Tir`dof", als ob die Gerechtigkeit ein Schmetterling sei, der sich nicht fangen lässt - und jedes Mal, wenn man es versucht, fliegt er davon.  Die Verwendung des Wortes "nachjagen" könnte darauf hindeuten, dass die Gerechtigkeit keine feste, greifbare Sache ist, dass sie eine Sache ist, die man anstrebt, wie eine platonische Idee. Es könnte sein, dass die Jagd nach Gerechtigkeit in jeder Generation anders aussieht, da die Bedingungen und Umstände jeweils andere sind. Wichtig ist, dass wir versuchen, ihr näher zu kommen, sie zu erreichen.

Gerechtigkeit hat die Aufgabe, das Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen

Und nun kommen wir zum letzten Teil des Satzes, dem Grund, warum man der Gerechtigkeit nachjagen sollte. "Damit du lebst und das Land erbst, das der Herr, dein Gott, dir gibt", so lautet der Satz aus dem Wochenabschnitt. Die Bibel betont, dass Gerechtigkeit ist für unser persönliches Leben von entscheidender Bedeutung ist. Ohne das Streben nach Gerechtigkeit wird es nicht möglich sein, eine Gesellschaft zu schaffen, die Bestand hat und Herausforderungen meistert. Dies galt schon vor langer Zeit für die Israeliten, die vor der Herausforderung standen, vom Leben in der Wüste zur Leitung eines Dorfes in Israel überzugehen. Es gilt auch für uns heute, die wir mit den vielen ungerechten Dingen auf der Welt konfrontiert sind.

Aber was passiert, wenn zwei große Gruppen in einer Gesellschaft sich nicht darüber einig sind, was "Gerechtigkeit" bedeutet? Wenn jede Gruppe unterschiedliche Werte hat, die aufeinanderprallen, wie es derzeit in der Gesellschaft in Israel passiert? Vielleicht können wir aus dem biblischen Satz hier lernen, dass Gerechtigkeit den Zweck hat, uns das Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Wenn unser Streben nach Gerechtigkeit zu Tod, zu Krieg usw. führt, dann geht es in die Irre – und wir sollten neu nachdenken, damit wir jener Gerechtigkeit nachjagen, die zum Leben führt.

Schabbat Schalom!

Zur Person: Michal NatovichMichal Natovich wurde 1979 in Israel geboren und wuchs in einer modernen orthodox-jüdischen Familie auf. Sie studierte Literatur auf Lehramt und arbeitete nach ihrem Diplom-Abschluss mehrere Jahre als Lehrerin für Hebräische Sprache und Literatur an einer israelischen Schule.

Seit 2012 wohnt sie mit ihrer Familie in Leipzig. Dort war sie als Hebräisch-Dozentin in verschiedenen Institutionen tätig.

Seit 2020 arbeitet sie als Lehrerin für Jüdische Religion in Leipzig und Dresden.

Schabbat Schalom bei MDR KULTURDie Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 18. August 2023 | 15:45 Uhr