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MDR KULTUR | 08.09.2023Schabbat Schalom mit Michal Natovich: Zeit der Einkehr vor dem jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana

06. September 2023, 15:24 Uhr

Die Zeit vor dem jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana ist dazu da, die eigene Seele zu erforschen. Wie gestalte ich meine Beziehungen zu anderen? Wie gehe ich mit mir selbst um? Das stärkt unser Selbstwachstum, meint die Leipziger Religionspädagogin Michal Natovich in ihrer Auslegung des Wochenabschnitts Nizawim Wajelech.

Der Wochenabschnitt Nizawim eröffnet die Reihe der vier kürzesten Wochenabschnitte in der Tora. In diesem Jahr lesen wir ihn zusammen mit dem Wochenabschnitt Wajelech. Moses fährt fort, seine Rede an das Volk Israel zu halten, kurz bevor sie nach Israel ziehen.

Michal Natovich lebt als Religionspädagogin in Leipzig. Bildrechte: Michal Natovich

Wir lesen unseren Wochenabschnitt am letzten Schabbat vor dem jüdischen Feiertag Rosch Haschana. Rosch Haschana ist einer der wichtigsten jüdischen Feiertage und steht für den Beginn des neuen jüdischen Jahres. Es ist kein Zufall, dass wir diesen Wochenabschnitt gerade vor diesem besonderen Feiertag lesen, denn die Parascha spricht hervorragend über den wichtigsten Gedanken von Rosch Haschana, die "Teschuwa" auf Hebräisch, den Prozess des Umdenkens und der Veränderung unserer Gedanken und unseres Verhaltens zum Besseren. "Und du kehrst zu deinem Gott zurück ... mit ganzem Herzen und ganzer Seele", sagt Moses im Wochenabschnitt (Deuteronomium 30, 2).

"Prüft euer Verhalten, kehrt um in Reue.“

Bei Rosch Haschana ist es wichtig, dass sich jeder Mensch persönlich Rechenschaft über seine Handlungen im vergangenen Jahr ablegt, um auf diese Weise Seelenforschung zu betreiben. Dieser Prozess beginnt einen Monat vor Rosch Haschana zu Beginn des Monats Elul. Um diesen Prozess der Seelenerforschung zu unterstützen, blasen wir den Schofar in den Synagogen während der Feiertage zu Beginn des Jahres und im Monat davor.

Der Schofar ist das Horn eines Tieres, normalerweise eines Schafes oder eines Hirsches. Der Klang des Schofar-Horns ist für unsere Ohren nicht so angenehm, er ist sehr scharf und schneidet alles, was sich ihm in den Weg stellt. Maimonides, der berühmte Rabbiner des Mittelalters, sagte, dass der Schofar den Zweck hat, das Bewusstsein wach zu rütteln, oder, in seinen eigenen Worten:

"Ihr, die ihr schlaft, erhebt euch aus eurem Schlaf, und ihr, die ihr schlummert, erhebt euch aus eurem Dämmerzustand, prüft euer Verhalten, kehrt um in Reue." (Mischne Tora, Gesetze der Reue, 3:4)

Maimonides zufolge hat der Schofar die Funktion, uns aus unserem Alltagsträumen, aus unseren Routinen und automatischen Verhaltensweisen aufzuwecken und uns dazu zu bringen, für ein paar Momente innezuhalten und über uns selbst nachzudenken. Wir könnten über unser Verhalten gegenüber anderen Menschen im vergangenen Jahr nachdenken. Wie haben wir mit unseren Partnern, unseren Kindern, den Kollegen am Arbeitsplatz gesprochen und uns verhalten? Waren wir ihnen gegenüber verurteilend oder gerecht? Welche Verantwortung tragen wir in der Beziehungsdynamik? Können wir es ändern?

Selbst wachsen, nicht sich selbst geißeln

Das Schofar-Blasen könnte uns auch nicht nur im Umgang mit anderen, sondern auch im Umgang mit uns selbst wachrütteln. Wie haben wir mit uns selbst gesprochen? War ich in meinen Gedanken und Handlungen freundlich zu mir selbst, oder habe ich mich immer nur kritisiert? Oder vielleicht auch umgekehrt: Habe ich mich über andere gestellt? Das Schofar-Blasen könnte uns auch helfen, unsere Gewohnheiten zu überdenken. Bin ich wirklich glücklich mit meinem Alltag, mit meinen kleinen Abhängigkeiten von Serienunterhaltung oder sozialen Medien zum Beispiel? Welche meiner Gewohnheiten möchte ich ablegen, und mit welchen Gewohnheiten möchte ich anfangen? Was will ich wirklich mit meiner Zeit anfangen? Wie kann ich in diesem Leben wirklich wach sein?

Ein letzter Gedanke: in diesem ganzen Prozess der Seelen-Erforschung halte ich es für sehr wichtig, sich daran zu erinnern, dass das Ziel Selbstwachstum und nicht Selbstgeißelung sein sollte. Erinnern wir uns auch an unsere schönen Momente im vergangenen Jahr, in denen wir es geschafft haben, wach und bei uns selbst zu sein. Und freuen wir uns, dass dies tatsächlich möglich ist.

Und mit diesem Gedanken wünsche ich uns allen ein gutes und süßes Jahr, Shana Tova und Schabbat schalom!

Zur Person: Michal NatovichMichal Natovich wurde 1979 in Israel geboren und wuchs in einer modernen orthodox-jüdischen Familie auf. Sie studierte Literatur auf Lehramt und arbeitete nach ihrem Diplom-Abschluss mehrere Jahre als Lehrerin für Hebräische Sprache und Literatur an einer israelischen Schule.

Seit 2012 wohnt sie mit ihrer Familie in Leipzig. Dort war sie als Hebräisch-Dozentin in verschiedenen Institutionen tätig.

Seit 2020 arbeitet sie als Lehrerin für Jüdische Religion in Leipzig und Dresden.

Schabbat Schalom bei MDR KULTURDie Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 08. September 2023 | 15:45 Uhr