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Schabbat Schalom mit Rabbinerin Esther Jonas-MärtinWochenabschnitt Dewarim – Worte für Gerechtigkeit!

20. Juli 2023, 13:02 Uhr

Dass Gerechtigkeit die Sache Gottes ist, bedeutet nicht, dass Menschen keine gerechten Urteile fällen sollen. Der Mensch als richtende Instanz soll die entsprechende Bescheidenheit und die Sorgfalt an den Tag legen, meint die Leipziger Rabbinerin Esther Jonas-Märtin in ihrer Auslegung des Wochenabschnitts.

Der Text, den wir diese Woche lesen, trägt den Titel Dewarim, übersetzt "Worte" oder auch "Dinge". Es ist der erste Text des letzten Buches Moses.

Moses hält hier seine letzte Ansprache, sozusagen sein Testament, und zwar richtet er seine Worte an diejenigen, die das Gelobte Land betreten werden. Vierzig Jahre nach dem Exodus gibt es die Generation der Sklaven nicht mehr, stattdessen Menschen, die gelernt haben, mit Freiheit umzugehen, Menschen, die gelernt haben, für ihre Fehler einzustehen und nicht zuletzt Menschen, die nun einem einheitlichen Gesetzeskodex folgen.

Eine freie Gesellschaft braucht Gesetze, die alle wesentlichen Dinge im Umgang regeln

Gesetze allein genügen jedoch nicht, es braucht auch ein System, das Übertretungen und Gesetzesbruch bestraft. Dass dies nicht so einfach ist und ebenfalls Regeln braucht, ist Thema dieses Textes, so heißt es im Vers 16 (Deut. 1:16):

"Euren Richtern gebot ich, Moses, in jener Zeit also: Hört eure Brüder an, und richtet mit Gerechtigkeit zwischen Angehörigen des Volkes oder dem Fremdling."

"Hört Eure Brüder an", es mag selbstverständlich klingen, aber für eine ehemalige Sklavengesellschaft und Stammeskultur ist genau dieser Akt nicht selbstverständlich: Alle Parteien eines Konflikts sollen angehört werden. Es ist ausdrücklich verboten, eine Partei anzuhören, bevor die andere Partei dazu gekommen ist. Es ist ebenfalls verboten, allein auf Basis des Anhörens einer Partei ein Richtspruch zu fällen.

Damit nicht genug: Gerechtigkeit soll angewandt werden nicht nur zwischen den Angehörigen des Volkes, sondern auch gegenüber den Fremden.

Der nächste Vers (Deut. 1:17) ergänzt den Anspruch auf Gerechtigkeit noch um ein weiteres Detail:

"Ihr sollt kein Ansehen kennen im Gericht; den Niedrigen wie den Hohen sollt ihr zuhören. Fürchtet euch vor keiner Partei, denn Gerechtigkeit ist Sache Gottes."

Die Niedrigen und die Hohen sollen gleiche Redezeit erhalten, und ebenso sollen beide gleich gestellt sein vor Gericht. Selbst wenn eine Partei bei Gericht bekannt ist, soll sie so behandelt werden, als wäre sie unbekannt. Dass letztlich Gerechtigkeit die Sache Gottes ist, bedeutet nicht, dass Menschen keine gerechten Urteile fällen könnten. Es bedeutet allerdings, dass der Mensch, als richtende Instanz, die entsprechende Bescheidenheit und die Sorgfalt an den Tag legt, die erwartet wird.

Gerechtigkeit und Wohltätigkeit sind eng miteinander verknüpft

Im Hebräischen sind die Worte für Gerechtigkeit und Wohltätigkeit eng miteinander verknüpft, Tzedek - Gerechtigkeit und Tzedakah - Wohltätigkeit. Allerdings sind wir Menschen aufgefordert, sehr unterschiedlich damit umzugehen. Tzedakah, dieWohltätigkeit, erlaubt nicht nur unsere persönlichen Gefühle von Verantwortung für jene, die uns am nächsten stehen, sondern es ist sogar erlaubt, dass diese Gefühle unsere Entscheidungen dominieren. Tzedek, die Gerechtigkeit dagegen gebietet, persönliche Gefühle zu ignorieren. Bei der Nähe dieser beiden Begriffe mag es irritieren, wie unterschiedlich wir damit umgehen sollen. Der Unterschied liegt im Grad unserer Verpflichtung.

Das Gebot Tzedakah, zu geben, gilt individuellen Personen und ist abhängig vom Grad der persönlichen Großzügigkeit der Geber.

Das Gebot Tzedek, Gerechigkeit zu üben, richtet sich an eine Gemeinschaft, in der kein Raum ist für individuelle Gefühle. Jüdische Quellen betonen, dass ein unparteiisches Gerichtsystem notwendig ist, um nicht nur die Rechte derjenigen zu beschützen, die Teil der Gemeinschaft sind, sondern vor allem auch  derjenigen, die „Fremde“ sind.

Tzedek und Tzedakah sind eng miteinander verbunden. Im Kern bedeutet Tzedakah nicht, den Armen zu spenden - sei es aus Mitgefühl oder aus Verpflichtung. Und: Tzedek bezieht sich im Kern nicht auf die Entscheidungen eines Gerichts. Beides dreht sich darum, das Unrecht, das nur allzu offensichtlich ist in unserer Welt, zu berichtigen. Beides dreht sich um Gerechtigkeit und sollte sich gegenseitig begünstigen. Erstens: Wenn Sie das nächste Mal spenden, dann tun Sie es unabhängig davon, wer oder was Ihnen nahesteht. Und Zeitens: Im Streben nach mehr Gerechtigkeit in der Welt sind Sie ganz individuell gefragt, es geht um Ihre persönliche Verantwortung, mehr Gerechtigkeit in die Welt zu tragen, indem wir gerecht leben.

Schabbat Schalom!

Zur Person: Rabbinerin Esther Jonas-MärtinEsther Jonas-Märtin studierte Jüdische Studien, Literaturwissenschaft, Moderne Geschichte und Religionswissenschaften in Leipzig und Potsdam und erwarb 2006 den Master of Arts.

2017 schloss sie ihr Studium zur Rabbinerin mit dem Master of Arts in Rabbinics und der Rabbinischen Ordination in Los Angeles ab.

Sie ist Initiatorin und Gründerin des Lehrhauses Beth Etz Chaim in Leipzig (2018) sowie Referentin und Autorin einer Vielzahl von Artikeln und Beiträgen in den Themenbereichen: moderne jüdische Geschichte, Gender, Jiddische Poesie, Jüdische Ethik und Judentum.

Schabbat Schalom bei MDR KULTURDie Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 21. Juli 2023 | 15:45 Uhr

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