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Sind sie wirklich die "letzte Generation vor den Kipppunkten" - in der Klimaforschung nicht unumstritten. Bildrechte: IMAGO / aal.photo

Globale ErwärmungForschende hadern mit "Letzte Generation vor den Kipppunkten"

16. Mai 2023, 14:45 Uhr

Aktivisten der "Letzten Generation" argumentieren, ein Überschreiten von Kipppunkten im Klima werde eine Dominoreaktion bei der globalen Erwärmung auslösen. Forschende warnen aber, dass die Fakten komplizierter sind.

Gibt es gefährliche Kippelemente im globalen Klimasystem und droht bei deren Überschreiten eine unkontrollierbare Kettenreaktion in Gang gesetzt zu werden? Klimaforschende wie Joachim Schellnhuber haben in den vergangenen Jahren vor solchen Punkten gewarnt – und davor, dass die entstehenden Schäden nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten.

Auf diese Aussagen berufen sich nun die Aktivisten der Organisation "Letzte Generation", die nun häufiger auch mit dem Zusatz "Letzte Generation vor den Kipppunkten" auftritt. Aber wie verhält es sich mit den Kippelementen wirklich? Stehen wir als Menschheit kurz davor, den Klimawandel nicht mehr aufhalten zu können? Diese Frage wird in der Wissenschaft durchaus noch debattiert.

Wird ein "Point of no return" überschritten?

"Der Name 'Die letzte Generation vor den Kipppunkten' ist unsinnig. Gemeint ist wahrscheinlich 'Die letzte Generation, die das Erreichen von Kipppunkten noch vermeiden kann'", sagt etwa Gerrit Lohmann, Klimaforscher am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung und an der Universität Bremen.

Doch auch mit dem Begriff der Kippelemente selbst hadert Lohmann noch, wenn es um die Details geht. "Wann die Kipppunkte erreicht werden, ist noch nicht ganz in der Wissenschaft geklärt. Es gibt sogenannte positive und negative Feedbacks, einige davon sind noch nicht ausreichend erforscht. Trotzdem sollte man potenzielle Gefahren und irreversible Änderungen des Klimas jetzt im Blick haben", sagt er.

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GastbeitragEs gibt keinen Point-of-no-Return im Klimaschutz

Die Aussichten in Sachen Klimakrise sind dem Weltklimarat-Bericht zufolge ziemlich dramatisch und trotzdem ist das kein Grund, die Hoffnung zu verlieren: Ein Gastbeitrag von Prof. Jochem Marotzke - einem der Leitautoren.

In der öffentlichen Debatte werden die Kipppunkte im Allgemeinen oft als "Points of no return" verstanden. Das würde bedeuten, dass an bestimmten Punkten die globale Erwärmung einen Sprung nach oben macht, der sich durch keine Maßnahme mehr rückgängig machen lässt. Ein Abschmelzen der Eisflächen an den Polen und in Grönland könnte ein solcher Faktor sein, wird häufig argumentiert. Aber genau hier hat Lohmann Zweifel: "Im Detail ist nicht ganz klar, ob einzelne Phänomene wie zum Beispiel das Abschmelzen des arktischen Packeises irreversibel sind."

Mehr Mut – weniger Apokalkypse

Diese Debatte ist allerdings vor allem eine innerhalb der Wissenschaft, die für die Klimapolitik eigentlich keine Rolle spielen sollte, denn: "Etliche der Phänomene sind keine Kippelemente/-punkte, aber trotzdem sehr gravierend", sagt Lohmann. Weltuntergangsstimmung sei hier aber nicht angebracht.

Ich fände es besser, konsequente Wege in die kohlenstofffreie Energieversorgung zu fordern und zu verfolgen. Ich habe hier allerdings keine gute Idee, wie man das gut benennen könnte. Die Herausforderungen sind in der Tat mit drastischen (und möglicherweise abrupten) Klimawechseln sowie mit unserem Umgang mit den Ressourcen auf der Erde verknüpft. Da brauchen wir eine mutige Herangehensweise, weniger Apokalypse.

Gerrit Lohmann, Leiter der Arbeitsgruppe Dynamik des Paläoklimas, Alfred-Wegener-Institut

Schmelze des Grönlandeises könnte sich selbst beschleunigen

Eine andere Lesart versteht die Kippelemente viel stärker als die ersten Steine in einer Domino-Kette. Sie können vielleicht später wieder aufgestellt werden, aber zunächst lösen sie eine Kettenreaktion aus, die erst einmal viele neue Probleme bringt.

Ein Beispiel dafür könnte das Abschmelzen des Eisschilds in Grönland sein, vermutet Lohmanns Kollege Helge Goessling. "Wenn dieser zunehmend abschmilzt, gelangt seine Oberfläche in tiefere und damit wärmere Luftschichten, wodurch die Schmelze weiter beschleunigt wird, bis große Teile des Eisschildes komplett verschwunden sind. Es könnte sein, dass die bisherige Erwärmung sogar bereits ausreicht, um diesen Kipppunkt in Gang zu setzen."

Arktisches Meereis kann wieder wachsen – zumindest theoretisch

Wann genau ein Kipppunkt erreicht wird und wie lange der Umschwung von einem Zustand in den anderen andauert, ist nicht eindeutig geklärt, sagt Martin Claußen, Meteorologe an der Universität Hamburg. Manche Kippelemente könnten das Klima nicht schlagartig, sondern über Jahrhunderte oder Jahrtausende verändern. Bei anderen könnte noch ein Gleichgewicht herrschen, das aber nicht bekannt sei. "Um festzustellen, ob ein Klimagleichgewicht vorliegt, müssten die Klimamodelle über eine sehr lange Zeit gerechnet werden, und dies ist mit den Modellen, die die Klimaprozesse im Kilometerbereich zu beschreiben gestatten, zurzeit noch nicht möglich."

Nur zwei Kippelemente im Klimasystem seien gut erforscht. Diese seien aber keine Klimakippunkte, so Claußen: Der Verlust tropischer Korallenriffe und der Verlust des arktischen Sommermeereises. " Der Verlust tropischer Korallenriffe hat im Wesentlichen sozioökonomische Folgen. Ihre Klimaeffekte sind vermutlich gering", sagt er. Das arktische Sommermeereis wiederum sei kein Kippelement, da der Effekt rückholbar sei, sollte sich das Klima wieder abkühlen.

Damit sagt der Forscher aber nicht, dass es einfacher wird. Die Erwärmung zu bremsen, wenn durch das Abschmelzen des Eises weniger Wärme zurück in den Weltraum reflektiert wird.

(ens/smc)

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | 22. März 2023 | 08:00 Uhr

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