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In intensiver Teamarbeit und mit modernen Dokumentationsmethoden untersucht ein ukrainisch-deutsches Forschungsteam ein kupferzeitliches Versammlungshaus aus der Zeit um 3.750 v. Chr. in der Siedlung Maidanetske, Ukraine. Bildrechte: Sarah Jagiolla, Institut für Ur- und Frühgeschichte, Universität Kiel

ArchäologieUrzeitliche Großstädte in der Ukraine: Osteuropäische Wiege der Zivilisation

22. April 2024, 16:48 Uhr

Der Ukraine-Krieg gefährdet unter anderem archäologische Fundstätten der Cucuteni-Tripolje-Kultur. Diese brachte vor rund 6.000 Jahren die ersten, im Westen immer noch kaum bekannten Großstädte Europas hervor.

Von den frühen Großstädten Mesopotamiens berichten unter anderem Tora, Bibel und Koran. Die Schriften der großen Religionen aus dem Nahen Osten erzählen von Städten wie Babylon. Es war wohl vor allem die Erfindung der Schrift an sich, die die Erinnerung an die vor über 5.000 Jahren gegründeten Städte erhalten hat. So ist Uruk im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, dem heutigen Irak, Fundort der bislang ältesten bekannten Schrift.

Tripolje-Urstädte in der Ukraine: Machtanhäufung einer kleinen Elite ließ sie scheitern

Dass umgekehrt bis zum heutigen Tag kaum bekannt ist, dass es zu diesen biblischen Zeiten auch auf dem Gebiet der heutigen Ukraine erste, in den Maßstäben der damaligen Zeit riesige Städte gegeben hat, liegt wahrscheinlich daran, dass ihre Bewohner keine Schrift erfunden hatten. Doch ansonsten verfügte die nach ihren Fundorten benannte Cucuteni-Tripolje-Kultur über viele fortschrittliche Errungenschaften, Güter und Technologien. Auf den um 4.000 vor Christus gegründeten, bis zu 200 Hektar großen Siedlungen lebten mitunter wohl bis zu 15.000 Menschen. Sie stellten eine reich verzierte Bandkeramik her, konnten in Öfen die ersten Metallwerkzeuge aus Kupfer herstellen und bauten zweigeschossige Häuser mit einer Lager- und einer Wohnetage.

Ganz besonders fasziniert sind Archäologen von den Überresten von Häusern, die wahrscheinlich als Versammlungsorte für die Bewohner gedient haben. Sie sind so zahlreich und regelmäßig über die Siedlungsanlage verteilt, dass einige Wissenschaftler denken, dass sich diese Gesellschaften egalitär organisiert haben – heute würden wir wahrscheinlich basisdemokratisch dazu sagen.

Gescheitert sind die Tripolje-Großsiedlungen wohl an dem Punkt, an dem der Kreis der Entscheider immer kleiner und zentraler wurde – also vielleicht eine kleine Elite versucht hat, alle Macht an sich zu reißen. Das geschah schon nach weniger hundert Jahren. Die Bewohner brannten ihre Häuser nieder und verließen die Siedlungen, die in Vergessenheit gerieten.

Künstlerische Darstellung der Großsiedlung Maidanetske, einer frühen Großstadt auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, in um 4.000 vor Christus wahrscheinlich bis zu 18.000 Menschen gelebt haben. Aus der Vogelperspektive dargestellt sind die Häuser der Siedlung in mehreren Ringen um einen großen, runden großen Platz in der Mitte angelegt. Die Siedlung wird außen durch einen Wall und einen Fluss begrenzt. Bildrechte: Susanne Beyer, Institut UFG, Uni Kiel

Ukrainische Archäologen haben durch den Krieg jetzt andere Probleme

Heutige Landschaft über der urzeitlichen, rund 200 Hektar großen Siedlung Maidanetske. Bildrechte: Institut für Ur- und Frühgeschichte/Universität Kiel

Wie so viele Reichtümer der Ukraine gefährdet Russlands Überfall auch die Forschung an dieser Frühkultur, deren Überreste sich vor allem in der Zentralukraine, südwestlich von Kiew befinden. Die Gefahr für die Ausgrabungsorte durch die Kampfhandlungen ist derzeit zwar nicht akut, der Krieg findet derzeit vor allem im Osten und im Süden statt. Doch viele ukrainische Forscher, die sich intensiv mit der Tripolje-Kultur (in der englischsprachigen Literatur auch Trypillia genannt) beschäftigt haben, seien nun selbst mit der Verteidigung ihres Landes beschäftigt oder geflohen, sagt der deutsche Archäologe Robert Hofmann. "Die haben derzeit ganz andere Probleme, als die Forschung", hält er nüchtern fest.

Durch spezielle Methoden der magnetischen Prospektion wird die ursprüngliche Struktur der Siedlungen sichtbar, hier Maidanetske. Bildrechte: Umzeichnung René Ohlrau, Institut für Ur- und Frühgeschichte

Hofmann arbeitet am Sonderforschungsbereich "Transformationsdimensionen – Mensch-Umwelt Wechselwirkungen in prähistorischen und archaischen Gesellschaften" der Universität Kiel. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen war er Teil einer internationalen Gruppe von Forschern, die in den vergangenen Jahren die bereits zu Sowjetzeiten begonnene Erforschung der Tripolje/Trypillia-Kultur weiter vorangetrieben haben. "Da gibt es im Moment eine sehr intensive Forschung an diesen Siedlungen und es hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gegeben, nicht nur durch uns, sondern durch mehrere internationale Projekte", sagt er.

Egalitäre Gesellschaft: Einzelne durften nicht zu reich werden

Durch Luftbildarchäologie und durch magnetische Prospektion wurde schon in den 1970er-Jahren sichtbar, wie groß diese urzeitlichen Städte waren. Doch die Verbesserung der Technik habe zuletzt noch einmal ein deutlich detailreicheres Bild geliefert, sagt Hofmann. Da ist zum einen der Aufbau der Siedlungen, der darauf schließen lässt, dass sie planvoll angelegt wurden. Dann gibt es das System der Versammlungshäuser. Einige wenige DNA-Funde zeigen zudem, dass die Bewohnerschaft wohl sehr heterogen warm, also viele Menschen unterschiedlicher Herkunft gemeinsam die neue Siedlung aufgebaut haben. "Die sind da offenbar zusammengekommen, weil sie eine egalitäre Ideologie hatten. Und sie sind gescheitert, als diese egalitäre Idee gescheitert ist", glaubt Hofmann.

Ausgrabungsfeld eines Versammlungshauses in Maidanetske. Bildrechte: SFB 1266

Die Funde zeigen, dass nicht nur die Organisationsform nach heutigen Begriffen basisdemokratisch war, sondern dass es auch Rituale gab, die verhinderten, dass sich bei einzelnen Familien zu viel Reichtum anhäufte. "Das gibt es auch in anderen Gesellschaften, dass Rituale abgehalten werden, bestimmte Feste etwa, wo eine Familie dann den angehäuften Reichtum ausgibt und dafür Prestige der Gemeinschaft erhält", sagt Hofmann.

Keramiktechnologien: Ideenaustausch mit Mesopotamien?

Ob es Handelsbeziehungen zu den etwa zur gleichen Zeit entstehenden Städten Mesopotamiens gab? Nach heutigen Bergriffen sind die beiden Regionen gar nicht so weit voneinander entfernt. Es trennen sie nur rund 1.600 Kilometer Luftlinie, die Berge der Türkei, das Schwarze Meer und die Flüsse Dnister oder Dnjepr. Funde, die Hinweise auf solche Handelsbeziehungen liefern, gebe es allerdings nicht, sagt Hofmann und sie seien auch eher unwahrscheinlich.

"Verbunden mit großen Tripolje-Siedlungen tritt um 4.000 vor Christus auch ein neuer Typ von Töpferöfen auf, bei dem getrennte Kammern für das Brennmaterial (also Holz) und das Brenngut (die Keramik) existierten", sagt Hofmann. Prinzipiell ähnliche Öfen habe es bereits seit dem sechsten Jahrtausend in Westasien, darunter auch im eigentlichen Mesopotamien und Iran gegeben und die formalen Ähnlichkeiten ließen mögliche Verbindungen zwischen den Kulturen erahnen. "Allerdings unterscheiden sich die Öfen in wichtigen technischen Details deutlich voneinander. Man gewinnt den Eindruck, dass die Bewohner von großen Tripolje-Siedlungen vielleicht von den Öfen in Westasien gehört haben, die technischen Lösungen aber selbst fanden."

Fundstätten und Siedlungsüberreste: Gefahr durch Krieg und Landwirtschaft

Obwohl die bereits entdeckten Siedlungen in den vergangenen Jahren gründlich erforscht worden seien, könne es auch in Zukunft noch neue Entdeckungen geben – ein Ende des Kriegs vorausgesetzt, glaubt Hofmann. "Es gibt immer noch Gegenden, die nicht ganz so gut erforscht sind, etwa westlich des südlichen Bugs." Dort könnten bei Untersuchungen noch neue Siedlungen gefunden werden. So seien erst vor kurzem wieder zehn neue Städte gefunden wurden. Eine davon war rund 130 Hektar groß mit tausenden Häusern. "So etwas kann man vom Forschungsaufwand her nur ganz punktuell gezielt genau untersuchen", sagt der Archäologe.

Zu tun gäbe es für die Wissenschaft in der Gegend noch jede Menge, etwa die Wanderung von Bevölkerungen vor 6.000 Jahren besser zu verstehen und die Übergänge zu Siedlungen im Donaudelta. Und die Zeit drängt. Nicht nur Krieg gefährdet die Fundstätten. Auch die immer intensiver werdende Landwirtschaft mit ihren Großmaschinen kann die in 20 bis 100 Zentimeter Tiefe liegenden Überreste Jahrtausende alter Städte zerstören. "Nur ist im Moment leider nicht an neue Forschungsprojekte in der Gegend zu denken", sagt Hofmann.

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