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Der Altpapier-Jahresrückblick am 29. Dezember 2021Dokumentarische Wahrhaftigkeit

30. Dezember 2021, 17:38 Uhr

"Mit dem 'Wunder des Schneeschuhs' hat Fanck die deutsche Kinematographie um einen neuen Film bereichert, nein nicht um einen neuen Film – um eine neue Filmgattung!" Ein Altpapier-Jahresrückblick von Jenni Zylka.

Das "Wunder des Schneeschuhs" also. Der weltweit erste Dokumentarfilm in Spielfilmlänge, in dem unter der Regie von Arnold Fanck Skifahrer als Kameramänner fungieren und waghalsige Abfahrten und Sprünge dokumentieren, kam vor fast genau einem Jahrhundert in die deutschen Kinos. Und begeisterte nicht nur Autoren und Autorinnen wie Vera Bern, von der jener Eindruck einer "neuen Gattung" stammt: Auch der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer schwärmte im Juni 1921 in der FAZ von "Bildern von seltener Schönheit".

Die AutorinJenni Zylka

In den darauffolgenden 100 Jahren konnte der Dokumentarfilm sich entwickeln. Er fand mannigfaltige Einsatzmöglichkeiten – nicht nur das "Schöne" soll und muss dokumentiert werden, sondern auch und vor allem das Schlimme: Der 1984 entstandene Film "Die Befreiung von Auschwitz" besteht größtenteils aus von US-amerikanischen Soldaten 1945 gefilmten, erschütternden Bildern des Grauens. Man ordnete dem Dokumentarfilm Kategorien wie "Direct Cinema" (mit Protagonisten wie Donn A. Pennebaker oder Albert und David Maysles), "Cinéma vérité" oder den "Fly on the wall"-Style zu, zeigte ihn auf Extra-Festivals und widmete ihm spezielle Filmpreiskategorien.

Wie es Kracauer vor 100 Jahren andachte, sah man ihn als Kunstfilm, der sich großer künstlerischer Freiheit bedienen darf – es entstanden Hybridformen, die so genanntes "Reenactment", also von Schauspielerinnen und Schauspielern nachgestellte Szenen, mit Originalbildern vermischten; genauso wie philosophische, nur mit Musik unterlegte, experimentelle Meditationen wie 1982 "Koyaanisqatsi" von Godfrey Reggio, oder "Baraka" von Ron Fricke. Manche dokumentarischen Formen lassen sich der bildenden Kunst zuordnen, andere gehören zu den so genannten "Reality"-Formaten, und werden vor allem im Fernsehen ausgestrahlt.

Der auf dem internationalen Dokumentarfilmfestival "dok.fest" in München im Mai 2019 uraufgeführte Film "Lovemobil" über das Leben nichtdeutscher, vermeintlicher Prostituierten, die in Wohnmobilen in Niedersachsen arbeiten, startete, bereits ausgezeichnet mit einigen Preisen, im März des nächsten Jahres im Kino, coronabedingt nur einige Tage. Im Dezember 2020 zeigte der NDR stolz das von ihm koproduzierte Werk im Fernsehen. Anlässlich dieser Ausstrahlung und einer ankündigenden Rezension im Deutschlandfunk hatte ich ihn ebenfalls kurz zuvor gesehen – und war, wie viele andere, begeistert. Zwar konnte ich die Intimität der gezeigten Bilder und Situationen, die Offenheit, mit der die Protagonistinnen und Protagonisten ihre Schicksale, Gedanken und Gefühle schilderten, und die Freier und Nutznießer der Frauen sich präsentierten, kaum glauben, und recherchierte zunächst nach Interviews und Statements der Regisseurin Elke Lehrenkrauss, die ihre Arbeitsweise erläutern, und die Authentizität der Bilder beweisen sollten.

Doch Lehrenkrauss erklärte es: Man habe sich in jahrelanger Annäherung das Vertrauen der gezeigten Personen erarbeitet, sagte sie – eine im Dokumentarfilmbereich übliche Vorgehensweise. Der Film spielt größtenteils in den Wohnmobilen, und dass Sexworkerinnen und Sexworker an diesem Ort tatsächlich ihre Dienste in Wohnwagen anbieten, und es dort auch, wie im Film erwähnt, vor ein paar Jahren einen Mord gab, ließ sich schnell als wahr auskundschaften. In einigen wenigen Szenen lassen die Protagonistinnen zudem durchblicken, dass sie sich der Anwesenheit des observierenden Filmteams durchaus bewusst sind, indem sie etwa in die Kamera schauen. "Lovemobil" erschien somit wie die Königsklasse des Dokumentarfilms: Inhaltlich relevant, anrührend und politisch, und ästhetisch überzeugend.

Die Grimme-Nominierungskommission witterte im Januar 2021 laut ihrem Vorsitzenden und dem Altpapier-Kollegen René Martens zwar ebenfalls mögliche "inszenierte Szenen", erachtete diese jedoch als legitim, so lange sie "wahrhaftig" seien, und nominierte den Film. Als Jurymitglied für den Grimme-Preis 2021 hatte ich "Lovemobil" wenige Wochen später in Sachen Preiswürdigkeit zu begutachten, doch da war die Bombe schon geplatzt: Im März 2021 hatte die NDR-Redaktion "STRG F" nach Hinweisen der Editorin des Films Recherchen veröffentlicht, in denen sie nachweisen konnte, dass fast alle der beteiligten Personen Darstellerinnen und Darsteller waren, die in einer Art "Scripted Reality" das wiedergaben, was die Regisseurin ihnen vorgeschrieben hatte. Weder die Sexworkerinnen selbst noch die Freier und Clubbesitzer seien authentisch, einige von ihnen distanzierten sich nach den Veröffentlichungen von dem fertiggestellten Film. Einzig die Besitzerin der Wohnmobile arbeitete tatsächlich als Vermieterin, doch auch sie behauptete später, von der Regisseurin Anweisungen für ihre Dialoge erhalten zu haben.

Die Grimme-Kommission zog die Nominierung zurück, für uns als Jury stand eh längst außer Frage, dass wir den Film nicht berücksichtigen würden. Lehrenkrauss hatte inzwischen auch den Deutschen Dokumentarfilmpreis zurückgegeben, mit dem der Film ausgezeichnet worden war, und sprach, nachdem sie zunächst eine Weile geschwiegen hatte, von einem "dokumentarischen Format", das seine Wahrhaftigkeit durch die Authentizität der zugrundeliegenden Strukturen bekommen sollte. Die Tatsachen, von dem im Film berichtet wird, seien real, sie habe lediglich versäumt, ihre Redaktion von ihrer Auslegung des Begriffs "Dokumentarfilm" zu unterrichten. In einem Statement Lehrenkrauss‘ gegenüber dem NDR fand sich der inhaltlich absurde Satz, dass die Realität, die sie in "Lovemobil" geschaffen habe, eine "viel authentischere Realität" sei.

Während der Diskussionen um den Film, die sich schnell zu einer Debatte um "Wahrhaftigkeit" im Dokumentarfilm ausweiteten, geriet auch die Arbeitsweise der NDR-Redaktion unter Beschuss: Dass es zu einem solchen Film kommen konnte, sei eine Folge des großen Drucks, unter dem die traditionell schlecht bezahlten Dokumentarfilmregisseurinnen und -regisseure ständen, schrieben einige Kolleginnen und Kollegen; zudem seien die Grenzen zwischen Inszenierung und Realitätsabbildung schon lange fließend. Man würde schließlich akzeptieren, dass Protagonistinnen und Protagonisten Szenen wiederholten, wenn sie beim ersten Mal nicht gut gefilmt seien; und die Regie eines Dokumentarfilms gäbe ohnehin durch Schnitt und Intention vor, was zu erzählen sei.

Genau in diese diskursreiche Zeit fiel der im Mai 2020 erstmals ausgestrahlte und für einen Grimme-Preis nominierte Film "Die Unbeugsamen" von Marc Wiese (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Dokumentarfilm von Torsten Körner aus dem Jahr 2021), den ich ebenfalls als Grimme-Preis-Jurymitglied bewerten sollte. Zu dieser Produktion über die gefährdete Pressefreiheit, die Arbeit des Webportals "Rappler" und dessen Chefredakteurin Maria Ressa auf den Philippinen bekamen wir Jurymitglieder von einem Film-Beteiligten im Vorfeld ungefragt Informationen zugeschickt, die Wieses Arbeitsweise in Frage stellten, und die Inhalte des Films anzweifelten. Die Grimme-Preis-Leitung holte daraufhin Reaktionen des Regisseurs ein, die die Kritik zu widerlegen suchten, und leitete sie an uns weiter.

Inzwischen hatte die "Zeit" auf Grundlage der gleichen Informationen zwei Artikel veröffentlicht, in denen Zweifel an der Authentizität des Films formuliert werden: Es ging um angeblich falsche Übersetzungen, falsche Bezeichnungen von Beteiligten und die Glaubwürdigkeit von Wiese als Regisseur. (Gegen diese Berichterstattung wurde eine mittlerweile rechtskräftig bestätigte, einstweilige Verfügung erlassen, wie unter anderem die FAZ berichtete. Die "Zeit"-Artikel können nicht mehr abgerufen werden.)

Als Jury konnten und wollten wir weder die Wahrhaftigkeit dieser Zweifel recherchieren noch die Gegen-Statements des Regisseurs berücksichtigen. Denn es ist nicht unsere Aufgabe, Fakten zu checken, und beispielsweise philippinische O-Töne zu übersetzen. Auch können wir die Stimmung innerhalb einer anscheinend zerstrittenen Filmcrew nicht bewerten, etwaige "Lügen" nicht nachprüfen. Generell müssen wir der Arbeit der beauftragenden Redaktionen vertrauen: Wie alle anderen Konsumentinnen und Konsumenten von Dokumentarfilmen beurteilt auch eine Fachjury das Produkt, den Film, unter mannigfaltigen, zum Teil immer wieder neu zu evaluierenden Qualitätskriterien. Natürlich ist Authentizität eines dieser Merkmale – aber dessen Verifikation liegt bei den Redaktionen und Produktionsfirmen.

Dass persönliche Zweifel an einer Authentizität in die subjektive Bewertung mit einfließen, steht außer Frage – auch etwa bei Filmen wie dem 2013 oscarprämierten, schwedisch-britischen Dokumentarfilm "Searching for Sugarman" hätte man sich darüber wundern können, wie perfekt die Suche nach dem Musiker Sixto Rodriguez in eine klassische Filmdramaturgie passt. Das Vertrauensverhältnis zwischen Auftraggeberinnen oder Auftraggebern, Regie/Produktion und Publikum muss aber stark sein, damit ein Dokumentarfilm rezipiert werden, damit er wirken kann.

Die Kontroversen um beide Filme (nachdem Maria Ressa im Oktober 2021 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, zeigte das Erste "Die Unbeugsamen" am 20.10. noch einmal) hatte besagtes Vertrauensverhältnis in diesem Jahr, und damit fast genau 100 Jahre nach der Entstehung der "neuen Filmgattung" schwer erschüttert.

Aber der Diskurs hatte auch sein Gutes: Dokumentarregisseurinnen, -regisseure und Initiativen nutzten die Aufmerksamkeit, um auf die Situation hinweisen, in der sie sich befinden – Rechercheerfolge sind oft kaum zu evaluieren, nicht nur bei Langzeitdokumentationen spielt sensibel erarbeitetes Vertrauen zwischen den Objekten (bzw. Subjekten) des Interesses, und den Filmemacherinnen und Filmemachern eine riesengroße Rolle. Die relevante Frage, was ein "Hybridfilm" ist, ob und wie er gekennzeichnet werden muss, ist durch den Diskurs stärker in das Bewusstsein von viel mehr Menschen und Zuschauerinnen und Zuschauern gerückt. Und die aktuelle Situation, in der pandemiebedingt mehr (oder fast alles) auf der "kleinen Leinwand", dem Bildschirm, konsumiert wird, hat ebenfalls zu einer erstaunlichen Wahrnehmung und einem regen Interesse an dokumentarischen Formen geführt – die erste Staffel der Netflix-Serie "Tiger King" war - auch lockdownbedingt – ein absoluter Publikumserfolg. In diesem Jahr wurden im Kulturbereich, wo das Live-Erlebnis gestrichen werden musste, zudem so viele Musikdokumentationen wie selten veröffentlicht.

Es liegt also, wie so oft, an der Sichtweise: Der Disput um den Dokumentarfilm mag seinem Image in mancher Hinsicht geschadet haben. Doch am meisten hat er denjenigen die Petersilie verhagelt, die die Kritik zu verantworten hatten. Die erregte Ernsthaftigkeit, mit der senderseitig, redaktionell, journalistisch und aus dem Publikum reagiert wurde, die Enttäuschung über Unwahrheiten, spricht von einer großen Wertschätzung. Vielleicht steht der Dokumentarfilm also eigentlich seit diesem Jahr erst in voller Blüte.


Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Artikels hieß es, die "Zeit" habe mehrere Artikel veröffentlicht, in denen Zweifel an der Authentizität des Films "Die Unbeugsamen" formuliert werden. Tatsächlich waren es zwei Artikel. Des Weiteren hieß es, gegen diese Berichterstattung sei eine einstweilige Verfügung erlassen worden. Diese wurde mittlerweile rechtskräftig bestätigt.

Der Altpapier-Jahresrückblick 2021