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Das Altpapier am 6. Dezember 2019Das 21. Jahrhundert kann beginnen

06. Dezember 2019, 11:25 Uhr

Die Ministerpräsidenten haben Bratwurst gegessen und den Daumen für den Medienstaatsvertrag gehoben. Eine beinahe "historische Entscheidung" sei das, heißt es – lange genug hat sie jedenfalls gedauert. Was ist das Wichtigste am neuen Vertragswerk? Ein Altpapier von Klaus Raab.

Die Süddeutsche Zeitung stellt heute im Rahmen eines Interviews diese Frage: "Müssten Sie nicht heute noch nachverhandeln?" Und die Antwort lautet: "Nicht nachverhandeln, aber weiter nachdenken. Wir müssen jetzt schon an die Erarbeitung der Punkte gehen, die wir noch nicht gelöst haben."

Wer aber hat’s gesagt?

Der AutorKlaus Raab

Nein, es waren nicht Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, dank denen das Wort "nachverhandeln" ins Lexikon des Jahres aufgenommen werden dürfte. Es war ein anderer SPD-Politiker, Hamburgs Kultur- und Mediensenator Carsten Brosda (zuletzt im Altpapier vom Mittwoch), der sich zum Medienstaatsvertrag äußert.

Das Wording ist interessant, weil es den doch etwas schwerer zugänglichen Bereich der Medienpolitik an eine aktuelle nachrichtliche Großbaustelle anschmiegt: Wer "nachverhandeln" newsgoogelt, findet nun nicht nur den talkshowrelevanten SPD-Kram, sondern irgendwann auch Brosdas Interview zum Medienstaatsvertrag. So funktioniert Suchmaschinenoptimierung ohne SEO.

Die Nachricht hinter dem Interview hat, nur zum Beispiel, faz.net: "Der seit 1991 geltende Rundfunkstaatsvertrag soll durch einen neuen Medienstaatsvertrag ersetzt werden. Die Ministerpräsidenten fassten am Donnerstag auf ihrer Konferenz in Berlin einen entsprechenden Beschluss zu einem Vertragsentwurf."

Lang und steinig war der Weg, deswegen bejubeln das nun natürlich alle Beteiligten. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) spricht von einem "medienpolitischen Meilenstein". Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ist neben ihr auf den Verkündungsfotos zu sehen; er war auch der gestrige Twitter-Bubble-König mit einem Foto, auf dem man ihn mit seinen Krawattenjungs zur Feier des Tages Nürnberger Bratwürste mit Gelb essen sieht – gewiss ein subtiler Hinweis, dass sie alle ihren Senf dazugegeben haben.

Carsten Brosda, der mit der rheinland-pfälzischen Staatssekretärin Heike Raab die Medienkommission der SPD leitet, ist zum Thema aber heute der wortlautinterviewteste Politiker von allen. Und damit derjenige, der den Champagner köpfen und über die Nachricht gießen darf: "Wir kümmern uns jetzt nicht mehr nur um Rundfunk, sondern erweitern das Feld um die kommunikative Öffentlichkeit unserer Gesellschaft. Das ist großartig und eine beinahe historische Entscheidung", sagt er.

Er hat Recht: Gerade noch rechtzeitig vor Silvester, also kurz bevor das 21. Jahrhundert begi… Oh, wait. Okay, noch großartiger wäre die Entscheidung unter Umständen gewesen, wenn man sie schon ein oder fünf Medienzeitalter früher getroffen hätte.

Aber es ist jetzt nicht der Moment für Stänkereien. Es ist der Tag, an dem "die Länder ihre Mottenkiste 'Medienrecht' für die Digitalisierung auf Vordermann bringen" (Tagesspiegel-Background). An dem sie ein Gesetzeswerk ersetzen, das "zu einer Zeit entstanden" war, "als das World Wide Web kaum mehr als eine Bastelarbeit von Tim Berners-Lee war" (spiegel.de). An dem sie Abschied nehmen von "unserer geliebten alten Tante Rundfunkstaatsvertrag", wie es die Bremer Landesmedienanstaltschefin Cornelia Holsten nennt, zitiert beim Deutschlandfunk. Und selbst die kritischsten unter den kritischen Betrachtern finden heute, der "von den Länderchefs abgenickte Medienstaatsvertrag" sei zwar "kaum mehr als ein Notbehelf – aber dringend nötig" (Thomas Klingenmaier von der Stuttgarter Zeitung, €). Weil der nächste Medienstaatsvertrag bestimmt kommt, ist doch demnach alles Konfetti.

Fassen wir es aber nun nochmal zusammen: Was ist das Wichtigste am Medienstaatsvertrag, der noch ein paar Schritte vor sich hat, bis er inkraft tritt? Das kommt darauf an, wen man fragt.

Der eine wichtigste Aspekt

Auf Platz 1 der als relevant erachteten Änderungen steht bei Christian Meier in der Welt, "dass geregelt werden soll, welche Formate im Internet als Rundfunk zu gelten haben und darum eine entsprechende Lizenz benötigen und welche nicht". Das ist ein Aspekt, der etwa auch Springers bild.de betrifft, und der auch Medien der Letsplayer besonders interessiert.

DWDL dazu: "Bislang gab es die Regelung, dass bereits Angebote, die von mehr als 500 Zuschauern gleichzeitig genutzt werden, eine Rundfunklizenz benötigten - was beispielsweise Anbietern wie 'bild.de' ebenso Ärger einbrachte wie manchem YouTuber. Künftig liegt die Grenze erheblich höher: Programme, die im Durchschnitt der letzten sechs Monate weniger als 20.000 gleichzeitige Nutzer erreichten, sind demnach dann zulassungsfrei."

Als "problematisch könnte sich erweisen", schreibt die Welt freilich, "dass Presseunternehmen wie etwa Zeitungsverlage dem Rundfunkrecht untergeordnet werden, obwohl für sie in erster Linie das Presserecht gilt." Das allerdings ist ja der Witz – dass man mit den alten Kategorien nicht mehr zurande kommt: bild.de bietet halt nun mal auch Bewegtbild an.

Der andere wichtigste Aspekt

Für andere ist der wichtigste Punkt des neuen Vertragswerks, "dass der Staatsvertrag in Zukunft auch für Facebook oder YouTube gelten soll. Die müssten in Zukunft transparent machen, nach welchen Kriterien sie Inhalte ausspielen – und warum sie bestimmte Audios, Videos oder Texte gegenüber anderen bevorzugen." So sieht es etwa Medienaufseherin Cornelia Holsten, wiederum zitiert im Deutschlandfunk.

Das ist auch der Aspekt, der die aktuelle Berichterstattung tendenziell dominiert – etwa bei Spiegel Online (das im Artikelfoto den New Yorker Sitz von Google zeigt), beim Tagesspiegel (der seinen Text mit dem Logo von Facebook bebildert) oder bei Zeit Online (wo der eigene Kolumnist Rezo abgebildet ist, weil er YouTube markiert).

Dieser Punkt betrifft also jene, die im Medienstaatsvertrag "Intermediäre" heißen: Sie dürfen "zur Sicherung der Meinungsvielfalt (...) journalistisch-redaktionell gestaltete Angebote, auf deren Wahrnehmbarkeit sie potenziell besonders hohen Einfluss haben, nicht diskriminieren", zitieren die Netzwelter von spiegel.de.

Der aktuell größte Streitpunkt – zumindest in der Medienöffentlichkeit – betrifft etwa Smart-TVs oder Sprachassistenten wie Amazons Alexa: Sie sollen gewährleisten, dass Medieninhalte mit einem gesellschaftlichen Mehrwert, die also einen besonderen "Beitrag zur Meinungs- und Angebotsvielfalt" bieten, leicht auffindbar sind.

"Klar, dass sich öffentlich-rechtliche Sender hier einen Vorteil versprechen", schreibt Christian Meier. Das tun sie in der Tat: Für die ARD begrüßt der Vorsitzende Ulrich Wilhelm "die privilegierte Auffindbarkeit vielfaltsrelevanter Inhalte". Private Sender erkennen allerdings auch viel Schönes:"Der Staatsvertrag berücksichtigt in zahlreichen Punkten die Anliegen des privaten Rundfunks", heißt es beim Privatsenderverband Vaunet. Nicht so begeistert ist der Digitalverband Bitkom, der eine "privilegierte" Auffindbarkeit ablehnt. "Sie führt dazu, dass einige wenige Anbieter bevorzugt werden, während die Inhalte vieler anderer Anbieter diskriminiert werden."

Die amüsanteste Passage aus dem SZ-Interview mit Carsten Brosda ist übrigens die, als er gefragt wird, wie er den Begriff "Intermediäre" seiner Oma erklären würde:

"Ich würde meiner Oma sagen, dass dies die Bereiche sind, in denen kein Anbieter aussucht, was wie präsentiert wird, sondern in denen Nutzer durch eigenes Handeln und eigenes Suchen prägen, wie die Informationsauswahl aussieht. Hinter dieser Auswahl sitzt aber ein Computer, der das ausrechnet."

Die Frage wäre dann halt nur, ob sie es versteht: Selbst in halbwegs einfacher Sprache ist Medienpolitik nicht unkompliziert.


Altpapierkorb (Steinmeier als Forist, Twitterverbot, "Zerstörung der CDU", Mediatheken-Vernetzung)

+++ Meinungsäußerung des Tages: Der Bundespräsident ist unter die Foristen gegangen. Unter der neuen Kolumne des Kollegen Rezo bei Zeit Online (Titel: "Was soll ich in einer Partei?") kommentiert Frank-Walter Steinmeier ausführlich, warum er anderer Meinung ist: "Hallo Rezo, wichtiges Thema, spannender Artikel", und krck – ist das Eis auch schon gebrochen.

+++ Meinungsäußerung des Tages, zweiter Platz: "Wenn ich König für einen Tag wäre, würde ich Journalisten verbieten, auf Twitter aktiv zu sein", sagt Jim VandeHei, der Mitgründer der jungen US-News-Site Axios im Handelsblatt-Interview, denn Twitter verführe Journalisten dazu, "ständig ihre Meinung zu sagen". Sie sollten sich stattdessen "wieder mehr auf Fakten und ihre Recherchen konzentrieren".

+++ Meinungsäußerung des Jahres: Rezos Video "Die Zerstörung der CDU" ist 2019 laut YouTube das meistgesehene Youtube-Video in Deutschland – siehe dazu etwa der Tagesspiegel. Blöd, dass 2019 noch nicht vorbei ist, aber irgendwas ist natürlich immer.

+++ Mitarbeiter des Monats: epd Medien hat Benjamin Fischer, Leiter von ARD Online, und Eckart Gaddum, Leiter der Hauptredaktion Neue Medien im ZDF, zum Doppelinterview getroffen. Es geht um die Vernetzung der Mediatheken-Suchfunktionen. Korrekt, aber gerade heute etwas lustig ist die Einstiegsfrage: "Der neue Rundfunkstaatsvertrag appelliert an die öffentlich-rechtlichen Sender, diejenigen Telemedien, die aus journalistisch-redaktionellen Gründen dafür geeignet sind, miteinander zu vernetzen" – denn mit dem "neuen Rundfunkstaatsvertrag" ist nicht der kommende Medienstaatsvertrag gemeint.

Das nächste Altpapier erscheint am Montag. Angenehmes Wochenende!

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