Das Altpapier am 18. Mai 2020Aber der Ball, der rollt
Das Medienerreignis der Bundesliga-Geisterspiele findet breite Beachtung. Von der großen Samstagabendshow bis zu wöchentlichen und täglichen Serien nimmt die Unterhaltungsindustrie auch sonst wieder Fahrt auf. Hotels dürfen zu früh wieder aufmachen, um sich vorübergehend vom Rundfunkbeitrag befreien zu können. In der ARD herrscht dennoch Streit... Ein Altpapier von Christian Bartels.
Inhalt des Artikels:
- Medienschau zum weltweit ersten Geisterspieltag
- Samstagabendshows und Fernseh-Romantik in Zeiten von Corona
- Streit um Öffentlich-Rechtlichen (und kein Streit da, wo er nötig wäre)
- Altpapierkorb (Kritik der Lisa-Eckhart-Kritik, Gert Scobel, neue Zeitungs-Geschäftsidee: Bier-Liefern, "Der ewige Thommy", verkauftes Giphy, Hannah Arendt und Deniz Yücel bei den Steingarts)
Medienschau zum weltweit ersten Geisterspieltag
Kaum zu überschätzen ist der Bedeutungsgehalt des rollenden Balls. Am Wochenende fanden die ersten "Geisterspiele" der Bundesliga statt, durch die Fußball nun ausschließlich zu dem wird, was er zuvor nur zu einem mehr oder minder großen Anteil war: Medienereignis oder zumindest Medieninhalt.
Weil es der erste Geisterspieltag der Welt war, gab es globale Beachtung, von
der das beliebte Sportressort-Genre der Internationalen Presseschau kündet. Und am medialen Spielfeldrand liefen sich Spitzenpolitiker als Kanzlerkandidaten warm. "In bester Schröderscher Bild-BamS-und-Glotze-Manier" etwa sah der Tagesspiegel Markus Söder, den Ministerpräsidenten aus dem Land des Deutschen Dauer-Meisters im "Doppelpass". Falls Sie in die Fußball-Talkshow des Privatsenders Sport 1 reinschauen wollen: hier. Der Tsp. schließt: "Wenn sich Armin Laschet nicht bald mindestens im ZDF-'sportstudio' platziert, ist kanzlermäßig schwarzzusehen für den Mann aus NRW."
Na ja, unsere Medienlandschaft ist sicher nicht immer reich an Höhepunkten und Leuchttürmen, aber doch breit und weit. Längst gibt es ja auch die konvergent-unmittelbare Bild-Zeitungs-Glotze. Wer am Samstag bei "Bild live Bundesliga" ("Drei Stunden Fußball satt mit Promigästen wie Lukas Podolski und Experte Marcel Reif") zugeschaltet gastierte, war – noch schröderscher sozusagen – der Ministerpräsident aus dem Land der Traditionsklubs von Rhein und Ruhr.
Was das Medienerreignis Geisterspiele selbst angeht, gab es bemerkenswerte Meinungsvielfalt. Ein bisschen in der Folge von Torsten Körners "Wer hat den Fußball umgebracht?" (der epd medien-Beitrag steht inzwischen online) hat Johannes Schneider bei zeit.de den wohl kulturpessimistischsten Kommentar gedrechselt: "Bundesliga-Geisterspiele rauben dem Sport seine Bedeutung als Kulturereignis", titelt er und argumentiert:
"Insofern ist die Wiederaufnahme des Spielbetriebs in den Fußball-Bundesligen der Herren ein pädagogischer Glücksfall, der ... gerade zur rechten Zeit kommt. Wenig könnte die fortdauernde Bedrohung besser vor Augen führen als die Abwesenheit von Hunderttausenden in den Stadien. Denn ohne sie zerfällt die mediale Inszenierung Fußball in bedeutungslose Einzelteile."
Zum Glück spielt Pädagogik im deutschen Journalismus der Gegenwart auch eine Hauptrolle, sonst wäre das ja die reine Apokalypse. Andererseits, hatten nicht Sepp Herberger oder Otto Rehagel einst die steile These aufgestellt, dass das Entscheidende auf dem Platz stattfinde? Jedenfalls sieht von der jeweiligen Gegengerade alles andersrum aus.
"Bei den Übertragungen rückte weit stärker in den Mittelpunkt, was ansonsten nur noch einen Teil des Produkts ausgemacht hat: das Spiel an sich. Die Kameras schwenkten nicht zwischen Spielfeld und Publikum und Promis auf den Tribünen hin und her. Der Bildausschnitt war meist so eng auf das Geschehen auf dem Rasen fokussiert, dass die Geisteratmosphäre nicht ganz so schlimm durchschlug, wie es zu befürchten war ... Ein Anfang ist gemacht – und auch Geisterspiele können ihren Schrecken verlieren. Zumindest für Fernsehzuschauer, und andere gibt es ja nicht mehr",
kommentierte Michael Horeni bei faz.net unter der Überschrift "Besser als befürchtet". Wer im Sport-Ressort arbeitet und allerwenigstens acht ähnliche Spieltage vor der Brust hat, kann natürlich nicht gleich alles schlechtschreiben. Und der Trick, dass mit tiefer gelegten Erwartungshaltungen vieles doch ganz okay ist, funktioniert.
Ja, es sah "das alles aber fast schon so normal aus, dass man sich vorstellen kann, dass viel schneller noch viel mehr gehen könnte als noch vor Wochen gedacht", meint taz.de. Sogar am Spielfeldrand, wo die nicht auf dem Platz tätigen Kräfte, "die Watzkes, Reuters und Labbadias", ihrer Aufgabe des Interviewtwerdens nachgingen, sah spiegel.de Sehenswertes: Da wurde "das Ambivalente der gesamten Vorsorgemaßnahmen visuell sehr hübsch deutlich. Eigentlich kann man die Liveübertragungen mit diesem Bild genauso beschreiben: mit Mundschutz, aber unterm Kinn", schreibt Peter Ahrens, der überdies die einblendbare Fan-Tonspur ausprobiert hat.
Womit sich auch die Frage klärt, aus welcher Medienform die Herren Kritiker denn ihre Eindrücke bezogen: aus der "Geisterspieltagsbundesligakonferenz" (taz.de) bei Sky, die auch unverschlüsselt, also frei empfangbar zu sehen war und so beim ermittelten Marktanteil einen "Fabel-Rekord" erzielte. Hat denn niemand die Radiokonferenz verfolgt, wo leere Ränge nicht ins Auge springen und sich den Reportern andere Herausforderungen stellen? Doch, ein Volontär bei der FAZ, der sich als Co-Kommentator Günther Koch, "Reporter-Legende des BR" dazu holte (der dann befand: "Die erste Geisterspiel-Konferenz vermittelte Ungewöhnliches überraschend gewöhnlich"). Die Breite des Medienechos jedenfalls ist imposant.
Ferner verdient die Leere auf den Sportreporter-Tribünen im Stadion Aufmerksamkeit:
"Bei einem Derby wie Borussia Dortmund gegen Schalke 04 sind es schon mal an die 150 Pressevertreter, die für ihre Zeitungen oder Online-Portale auf der Pressetribüne Stimmung einfangen. Nicht in Coronazeiten. Da sind zehn Journalisten zugelassen, plus drei Fotografen. Die Verantwortung dafür liegt, auch nach dem Hygiene-Konzept der Deutschen Fußball-Liga (DFL), bei den Heimatvereinen, in Abstimmung mit dem lokalen Verband deutscher Sportjournalisten (VDS). Das kann schon mal dazu führen, dass eine Hauptstadtzeitung bei einem Spiel in den Hauptstadt gegen einen renommierten Verein im ersten Anlauf außen vor bleibt und noch mal nachgehakt werden muss, um ins Stadion zu kommen",
schreibt wiederum Markus Ehrenberg in der Hauptstadtzeitung Tagesspiegel.
Samstagabendshows und Fernseh-Romantik in Zeiten von Corona
Die schöne Phrase "Bizarre Simulation von Unterhaltungsnormalität" stammt auch aus einer Fernsehkritik, allerdings einem anderem Zusammenhang. Jan Freitag schrieb sie für tagesspiegel.de. Da geht es um die beiden Ersatzshows für den aus gegebenem Anlass abgesagten Schlager-Grand Prix/ ESC, die am Samstagabend ProSieben und in ARD ausstrahlten. Beiden Sendungen gelten auch eine Menge Rezensionen, meist gemeinsame (z.B. sueddeutsche.de unter dem Aspekt, wo der Humor noch trauriger war, berliner-zeitung.de mit Screenshots schön gestaltet, Standard schön knapp). Der Spiegel leistete sich online gar zu beiden Sendungen eine einzelne Kritik.
Was zeigt, dass die mediale Unterhaltungsindustrie ihren Betrieb wieder aufnimmt. Wie genau fiktionales Fernsehen nun produziert werden muss, damit es zum Sendetermin nicht aus der Zeit gefallen wirkt, ist ja auch eine offene Frage (die meine aktuelle Medienkorrespondenz-Kolumne stellte). Inzwischen werden Fernsehserien wie "In aller Freundschaft" und "Sturm der Liebe" wieder gedreht. In ersterer Krankenhaus-Serie unseres MDR werde "die Corona-Situation nur am Rande des Klinik-Alltages erwähnt", sagte Schauspieler Thomas Rühmann der Berliner. Bei letzterer ARD-Daily tragen die Darsteller zwar beim Proben Mundschutz, beim Drehen dann aber nicht; da achten bloß "Medical Consultants" darauf, dass es sich selbst im Genre der Fernseh-Romantik "keine Küsse, Umarmungen, Gruppenszenen mehr" gibt, zeigte und berichtete die Süddeutsche.
Streit um Öffentlich-Rechtlichen (und kein Streit da, wo er nötig wäre)
Womit wir beim weiter heißer werdenden Thema Rundfunkbeitrag sind. "Wenn ein Unternehmen coronabedingt vorübergehend den Betrieb einstellen musste, kann es Anspruch darauf haben, vom Rundfunkbeitrag befreit zu werden. Das haben gestern die neun ARD-Landesrundfunkanstalten, das ZDF und das Deutschlandradio beschlossen", meldete Deutschlandfunks "@mediasres" am Freitag. Für die Details schalten wir zur Service-Seite rundfunkbeitrag.de:
"Unternehmen, Institutionen und Einrichtungen des Gemeinwohls, die aufgrund einer behördlichen Anordnung wegen der Corona-Pandemie eine Betriebsstätte schließen mussten, können beim Beitragsservice eine Freistellung von der Rundfunkbeitragspflicht beantragen, sofern die Betriebsstätte mindestens drei zusammenhängende volle Kalendermonate geschlossen war."
Das ist ja schön für die Anstalten, dass Läden und Hotels, die Mitte März schließen mussten, inzwischen wieder geöffnet haben oder kurz davor sind und die just beschlossene "volle" Dreimonatsfrist nahezu nirgendwo erreicht wird. Kein Wunder, dass sich auf der Gegenseite der Hotelverband Deutschland ärgert, wie sein Hauptgeschäftsführer im DLF-Beitrag bekundet. Der Streit geht also auf vielen Ebenen weiter.
Auch in der ARD selbst, wie zumindest der meist gut informierte Kai-Hinrich Renner in der Berliner Zeitung die noch unabhängig von künftigen Rundfunkbeitrags-Fragen beim NDR beschlossene Einspar-Runde (Altpapier) unter der Überschrift "Wie sich die neun ARD-Anstalten neuerdings gegenseitig selbst zerlegen" interpretierte:
"Der NDR habe 'sich in der Vergangenheit vor allem im Bereich der Unterhaltung zum Teil deutlich stärker im Ersten engagiert, als es die Vereinbarungen innerhalb der Landesrundfunkanstalten vorsehen', sagt die Sendersprecherin. Damit dürfte es nun erst einmal vorbei sein ..."
Wo immerhin nicht der geringste Streit herrscht: in den vielfältig mit Vertretern gesellschaftlich relevanter Gruppen besetzten Gremien, die nominell als einzige befugt sind, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten zu kontrollieren. Der Rundfunkrat des NDR findet
"entschlossene Kürzungen notwendig – auch wenn es ein harter Weg wird. Wie wichtig der öffentlich-rechtliche Rundfunk für die Gesellschaft ist, zeigt sich derzeit in der Corona-Krise. Das enorme Publikumsinteresse an den hervorragenden Berichten zum Thema Corona zeigt: Die Menschen vertrauen auf ihren NDR – besonders wenn‘s darauf ankommt."
Dass das Kontrollgremium des NDR selbst in Zeiten wie diesen, in denen gewiss der öffentlich-rechtliche Rundfunk wichtig ist, es aber außerdem (auch im Sinne der Öffentlich-Rechtlichen) wichtig wäre, wenigstens den Eindruck zu erzeugen, dass seine Kontrollgremien kritische Distanz wahren, Erklärungen raushaut, die vor nichtssagenden Lobhudel-Attributen nur so strotzen, zeigt gut, wo einer der Fehler des Systems liegt.
Altpapierkorb (Kritik der Lisa-Eckhart-Kritik, Gert Scobel, neue Zeitungs-Geschäftsidee: Bier-Liefern, "Der ewige Thommy", verkauftes Giphy, Hannah Arendt und Deniz Yücel bei den Steingarts)
+++ Huch, "sexistische Ausführungen" in der taz, die doch nach Kräften gendert? In der aktuellen epd medien-Ausgabe geht Elisa Makowski dem "Antisemitismus-Vorwurf gegen Lisa Eckhart" (vgl. Altpapier) nach und findet wenig Substanz: "So geht die Demontage einer in der Öffentlichkeit stehenden selbstbewussten Frau. Argumente? Inhaltliche Kritik? Fehlanzeige", schreibt sie mit Blick auf das, was außer der taz etwa auch FAZ, spiegel.de und Madsacks RND viele Medien schrieben. Frei online steht der Beitrag leider noch nicht. +++ Oft erscheinen epd medien-Artikel zeitversetzt im Netz. So ist dort aktuell das große Gert-Scobel-Interview ("Ich finde, dass das Konzept von Frank Plasberg derzeit relativ wenig funktioniert, aber jemand wie Markus Lanz, über den man sich in normalen Zeiten wirklich streiten kann, für mich in den letzten Wochen sehr gewonnen hat...") zu lesen.
+++ "... Die Auflage des Mindener Tageblatts ist in den vergangenen zehn Jahren um 25 Prozent gesunken. ... Allein 2019 verlor die Zeitung 1.000 Abonnenten. Nicht weil sich die Leser abmeldeten, nicht weil sie unzufrieden waren. Sie verstarben. Schon 2014 hatte die Zeitung auf ihrer Website eine Paywall, die aber kaum Abos generierte. Mittlerweile hat sie knapp 3000 digitale Abonnenten. Aber was können die schon ausgleichen? Die Zustellungskosten des Tageblatts sind in den vergangenen zehn Jahren um 50 Prozent gestiegen": Der Zeit-Artikel über die westfälische Tageszeitung ist wegen vieler sehr konkreter Details lesenswert sowie, weil er einen konstruktiven Spin enthält: Seit der Corona-Krise liefert das Tageblatt in seinem Einzugsgebiet auch Produkte wie Schuhe, Mineralwasser und Bier aus und scheint mit dieser Geschäftsmodell-Erweiterung erfolgreich zu sein. +++ Dass Zeitungs-Logistik ein schwieriges Geschäft ist, das ursprüngliche Kernkompetenzen in Zeiten wie diesen keinswegs vernachlässigen darf, schreibt Anne Fromm in der taz unter Berufung auf persönliche Erfahrungen mit einer "großen Wochenzeitung, die ich jeden Donnerstag bekomme, nennen wir sie Z".
+++ "Der ewige Thommy", dem Hans Hoff in der SZ hübsch giftig zum 70. Geburtstag gratuliert (€), ist nicht etwas der aktuelle ARD-Vorsitzende Tom Buhrow, der in seiner Jugendlichkeit vergleichbar (aber auch jünger!) ist, sondern Entertainer Thomas Gottschalk.
+++ Der beliebte GIF-Anbieter giphy.com wird künftig wohl dem Reich des Bösen angehören, nämlich für rund 400 Millionen US-Dollar von Facebook gekauft, meldet heise.de.
+++ Falls Sie sich auch immer fragten, wer genau eigentlich alles – vermutlich ungefragt – im schön schwarzweißen Pathos-Video von Steingart und Steingart (also: Timea und Gabor) mitwirkt: Dazu hat uebermedien.de im Rahmen einer detaillierten Analyse einen alphabetischen Überblick zwischen Hannah Arendt und Deniz Yücel angefertigt.
Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.
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