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Das Altpapier am 25. November 2020Mehr Marginalisierte an die Spitze!

25. November 2020, 12:40 Uhr

Wenn Redaktionen diverser werden sollen, müssen auch Führungspositionen entsprechend besetzt werden. Sollte das ZDF ein "Europasender" werden? Und dann zum Beispiel über die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in anderen europäischen Ländern so berichten wie sonst über die Bürgerschaftswahl in Bremen? Ein Altpapier von René Martens.

Der Anschlag von Henstedt-Ulzburg

Die Mission Lifeline ist schon einiger Zeit ein zumindest im weiteren Sinne journalistischer Player. Diverse Journalisten und Politiker veröffentlichen Kolumnen auf der Website der Seenotrettungsorganisation. Nun hat sich die Mission Lifeline aber noch etwas weiter von ihrem Kernkompetenzbereich entfernt und bei YouTube ein Video veröffentlicht, das teilweise fast die Anmutung eines Privat-TV-Beitrags oder eines "37°"-Films hat, in dem vom Schicksal gebeutelte Menschen ihre Erfahrungen schildern. Aber dieser Eindruck könnte auch einer déformation professionnelle geschuldet sein.

Worum geht es inhaltlich? "Der Anschlag – Terror in Henstedt-Ulzburg" lautet der Titel. Moment mal, Anschlag? Henstedt-Ulzburg? Dass diese Schlagworte erst einmal Irritation auslösen, hat damit zu tun, dass die Polizei das mit einem Auto verübte Attentat eines zum Tatzeitpunkt 19-jähriger Rechtsextremisten auf mehrere linke Demonstranten, die sich in dem Ort zum Protest gegen eine AfD-Veranstaltung eingefunden hatten, den Medien in einer Pressemitteilung Mitte Oktober zunächst als "Unfall" verkauft hatte. Die taz Nord und die Jungle World hatten die Darstellungen der Polizei zumindest teilweise korrigiert.

Im Video äußern sich zwei Opfer zu den psychischen und den körperlichen Folgen des rechtsextremistischen Anschlags und auch zu den Auslassungen in den Medien. Am Ende sagt einer der Betroffenen, er wünsche sich "von der Presse", dass sie nicht nur bei der Polizei abschreibe, sondern, "so wie ihr, die richtigen Fragen den Menschen stellt, die involviert waren". Dass eine Seenotrettungsorganisation, die gewiss viele andere Dinge zu tun hat, sich gezwungen sieht, nun mit einem Video jenseits ihres Aufgabenfelds eine journalistische Lücke zu füllen, spricht nicht unbedingt für den Journalismus hierzulande.

"Es kann nicht sein, dass eine Polizei Redaktion spielt"

Das omnipräsente Thema Polizei und Medien poppt heute auch anderer Stelle auf, weil der Presserat der Innenministerkonferenz neue "Verhaltensgrundsätze für Medien und Polizei zur Vermeidung von Behinderungen bei der Durchführung polizeilicher Aufgaben und der freien Ausübung der Berichterstattung" vorgelegt hat. @mediares berichtet über diesen Entwurf.

Dass zu viele Polizisten die Rechte von Journalisten nicht kennen (vielleicht auch nur so tun, als ob) und nicht wissen, wie ein amtlicher Presseausweis aussieht - das sind alles gute Gründe, solche neuen Verfahrensregeln zu entwerfen. Die Autoren des Papiers weisen aber auch auf einen zuweilen unterrepräsentierten Aspekt hin. Unter Punkt drei heißt es:

"Zur Aufgabe der Polizei gehört es nicht, mit eigenen Fotos, Videos, vorproduzierten O-Tönen oder Texten eigenständig journalistisch tätig zu werden."

Oder, wie Sascha Borowski, der Sprecher des Presserats, es gegenüber dem DLF formuliert:

"Es kann nicht sein, dass eine Polizei Redaktion spielt."

Die Utopie eines Europasenders ZDF

Substanzielle Ideen zu inhaltlichen Reformen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens kursieren derzeit in nicht gerade überwältigendem Maße. Erfrischend sind daher einige Überlegungen, die Olaf Steenfadt in der Medienkorrespondenz anstellt. Der Autor, der der "High Level Expert Group on Fake News and Online Disinformation" der Europäischen Kommission angehört, skizziert dort die Utopie eines "Europasenders ZDF". Steenfadts Ausgangspunkt ist folgender:

"Die unbestreitbar vorhandene Doppelstruktur aus ARD und ZDF (erscheint) recht antiquiert, verstärkt sie doch einen publizistischen Ballungsraum. Entlang der vier subsidiären Schichten – Kommunen, Länder, Bund und Europa – ballt und überlappt sich die Investition der mehr als 8 Milliarden Euro an jährlichen Einnahmen aus dem Rundfunkbeitrag auf nur zwei dieser Ebenen, nämlich national und föderal."

Wie sich diese "Doppelstruktur" aufbrechen ließe - dafür nennt der Autor unter anderem dieses Beispiel:

"Welchen Mehrwert zum Beispiel bringt uns der Wettlauf beider Sender bei Landtagswahlen mit jeweils massivem Aufwand an Personal und Logistik – mal zwei? Würde hier nicht ein System völlig ausreichen, während künftig das Zweite seine Wahlstudios in Rom, Warschau, Paris und Budapest aufbauen würde? Heutzutage hat der Ausgang von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen dort doch mindestens genauso viel Einfluss auf die Geschicke in Deutschland, und damit auf jeden Einzelnen, wie zum Beispiel eine Bürgerschaftswahl in Bremen."

Steenfadt schwebt folgende Arbeitsteilung vor:

"Die ARD muss mit ihren Regionalstudios und Landesrundfunkanstalten auch weiterhin die föderale Struktur der Bundesrepublik abbilden, verstärkt um eine unterstützende Funktion für Lokaljournalismus. Rein strukturell und institutionell gedacht könnte das ZDF dann künftig für Deutschlands Platz in Europa stehen – mit einer Schnittmenge beider Systeme auf der nationalen Bühne."

Das Resultat könnte dann sein: ein "zweites Hauptstadtstudio" in Brüssel "und eine Parlamentsredaktion in Straßburg". Außerdem könnte "Frontal 21" "von Berlin nach Brüssel umziehen und hätte damit ein Alleinstellungsmerkmal".

Über die derzeitige Europa-Berichterstattung des ZDF habe ich vor einem Vierteljahr für die taz mit Anne Gellinek gesprochen, die für den Sender das Studio in Brüssel leitet

Die Inszenierung der Politik nach den Regeln des Marketings

Da wir nun schon mal internationales Terrain betreten haben, bleiben wir dort für eine Weile - und blicken zuerst nach Österreich:

Im September hat Benjamin Opratko in dem viermal pro Jahr erscheinenden Magazin Jacobin einen Text veröffentlicht, in dem er die dortige "Start-Upisierung des Regierens und die Inszenierung der Politik nach den Regeln des Marketings" beschreibt:

"In den Ministerien wurden die einstmals mächtigen Staatsbeamtinnen und Kabinettsmitarbeiter von aufgefetteten Pressestellen an die Wand gedrückt, kein Mucks dringt an die Öffentlichkeit, bevor er vom für die zentrale 'Message Control' zuständigen Zampano freigegeben wurde."

Die in Medientrainings "abgerichteten" Ministerinnen und Minister wirkten bei "Fernsehauftritten wie von sadistischen Trotteln programmierte Roboter", so Opratko. Um es in einem Tweet zu sagen:

"Die Kurz-ÖVP ist eine PR-Agentur mit angeschlossenen Staatsapparaten."

Der Eindruck, den Opratko formuliert hat, wird nun durch eine aktuelle Entwicklung untermauert: Der Standard berichtet von "einer Ausschreibung der Republik Österreich um satte 30 Millionen Euro für 'Kreativagenturleistungen' für einen Zeitraum von vier Jahren".

Worum geht es konkret?

"(…) um eine Rahmenvereinbarung, aus der alle Ministerien Leistungen abrufen können (…) Im Briefing (…) ist (…) von einem einheitlichen Kommunikationskonzept für die gesamte türkis-grüne Bundesregierung für die Dauer der Legislaturperiode die Rede: ‚Ziel ist eine stringente gemeinsame Kommunikation aller Ministerien, d. h. ein Kommunikationsrahmen von einem Anbieter (Leadfunktion), auf den alle Ministerien zugreifen können (.…)‘"

Hoffen wir mal, dass eine künftige schwarz-grüne Bundesregierung hierzulande uns wenigstens mit Spackenjargon à la "stringente gemeinsame Kommunikation" und "Leadfunktion" verschont.

Zur Diversität in US-amerikanischen Newsrooms

Als Ergänzung zur hiesigen Diskussion um Vielfalt in den Medienhäusern, zu der zuletzt unter anderem Alice Hasters mit einem Altpapier-Jubiläums-Gastbeitrag einen Impuls gegeben hat, lässt sich eine opulente, rund 31.000 Zeichen umfassende Analyse lesen, die Nicole Childers beim Nieman Lab veröffentlicht hat. "How did those oft-heralded diversity efforts in newsrooms fail so miserably?" lautet eine der Fragen, die sie stellt. Childers dazu:

"According to Dr. Laura Morgan Roberts, an organizational psychologist at the University of Virginia who has studied the experiences of people of color in journalism, one major problem is that there aren’t enough people of color in positions of power. 'When the editors are not diverse, it adversely affects the coverage,' Roberts told me. News stories 'can be incomplete or compromised by blind spots, or at worst, can perpetuate negative stereotypes about various communities, especially people of color.' This can lead to everything from selecting stories that only reflect narrow swaths of a community to having limited perspectives in reporting. The racial composition of newsroom management demonstrates the imbalance. According to the 2019 American Society of Newspaper Editors diversity survey, only 18.8% of all print and online newsroom managers were people of color. A RTDNA 2019 survey shows that only 17.2% of TV news directors and 8.2% of radio news directors were people of color."

Mit Bezug auf die Organisationspsychologin Robert schreibt Childers weiter:

"Journalists of color say they are often instructed to remove nuances that reflect their unique perspectives and experiences. Editors would 'question the journalists' 'objectivity' as if [their] cultural lens and perspective is something that only journalists of color have as an additional factor that shapes their journalism, she said, 'when in fact all humans have these lenses of cultural perspective.'”

Woraus laut Childers folgt:

"Not having senior members that represent marginalized communities can be one crucial hint to prospective applicants that a newsroom is less inclusive."

Frauenfilme avant la lettre

Dass Karl Dall fast auf den Tag genau 30 Jahre nach seiner Humor-TV-Weggefährtin Helga Feddersen verstorben ist, gehört zu den seltsamen Laune des Weltgeists. Dall starb an diesem Montag (siehe Altpapier von Dienstag), Helga Feddersen am 24. November 1990.

Aktuell kreuzen sich nun die Nachrufe auf Dall - "Naturgemäß wählte er das Fernsehen als sein Habitat, wo er am besten als penetrante Nebenfigur war", schreibt etwa Willi Winkler in der heutigen SZ - mit einer in der taz anlässlich von Feddersens Todestag erschienenen Würdigung. Der mit Helga nicht nicht verwandte Jan Feddersen erwähnt in diesem Zusammenhang wiederum den Dokumentarfilm "Helga - Die zwei Gesichter der Feddersen" (siehe Altpapier), den, jedenfalls aus deutschem Blickwinkel, medienhistorischen Film des Jahres 2020, der neben einem Helga-Feddersen-Porträt auch eine "Coming-of-Age-(Geschichte) des westdeutschen Fernsehens und Humors" (Christoph Becker) ist.

Jan Feddersen geht in seinem Text unter anderem auf Helga Feddersens Arbeit als Autorin ein. Zur Trilogie der Filme "Vier Stunden von Elbe 1’", "Gezeiten" und "Im Fahrwasser", für die sie das Drehbuch schrieb, zu dieser "verwickelten Geschichte um das Leben von Menschen rund um den Lotsenstützpunkt an der Elbe bei Brunsbüttel, besser: um Seefahrerfrauen, die auf ihre Männer warten", schreibt der taz-Redakteur:

"Diese drei Filme(…) sind im Grunde Frauenfilme, Stücke, in denen Frauen überhaupt ernstzunehmende, nicht nur männerwartende Rollen spielen, in denen sie eigene Handlungsmöglichkeiten haben und sie auch realisieren; es sind Filme, in denen Frauen überhaupt – und das war die Zeit, als das Wort ‚Feminismus' nicht einmal existierte – mehr als nur Nelkenbouquetempfängerinnen waren."

Man kann sich den Film über Helga Feddersen auch anschauen, weil der gerade verstorbene Karl Dall dort in Showausschnitten zu sehen ist - als Koch Karl Toffel in der von Feddersen moderierten "Plattenküche"). Als Zeitzeuge tritt Dall dort auch auf, unter anderem mit folgenden weisen Worten:

"Eine schlechte Fernsehshow wiederholt keiner, aber ein schlechter Film ist forever."


Altpapierkorb (Durchstechungsfreudige Ministerpräsidenten, rechtes "Anti-Twitter", Protest gegen einen Arte-Aufruf)

+++ Angesichts dessen, dass die Öffentlichkeit von geplanten neuen Anti-Pandemie-Maßnahmen in immer größeren Umfang bereits erfährt, bevor sie beschlossen sind, fragt Jürn Kruse für Übermedien den Spiegel-Hauptstadtjournalisten Florian Gathmann, ob "eigentlich gerade mehr Infos nach außen getragen werden" als sonst. "Das ist auf jeden Fall so", sagt der Spiegel-Mann. "Ich glaube, dass das mit dem Format zusammenhängt. Diese Runden laufen im Moment ja so ab, dass nur die Bundeskanzlerin und der Chef der Ministerpräsidentenkonferenz gemeinsam in einem Raum im Kanzleramt sitzen. Der Stellvertreter der MP-Konferenz ist nebenan in einem anderen Raum. Alle anderen sitzen in ihren Staatskanzleien über Deutschland verteilt. Und in solchen Runden ist es natürlich viel leichter, Dinge nach außen zu kommunizieren, als wenn alle um einen Tisch sitzen und jeder Griff zum Handy sichtbar ist."

+++ Der sehr nischige TV-Sender One America News und das von "Ultrakonservativen" bereits als "Anti-Twitter" gefeierte Parler - das seien die Desinformationskanäle, die Donald Trump und Konsorten schätzen, nachdem ihnen "Fox News plötzlich zu links" geworden sei. Das schreibt die FAZ (€) auf ihrer Medienseite. Siehe dazu auch: "Hype um Parler: So flüchten Trump-Fans in ihre eigene Realität" (BR vor wenigen Tagen)

+++ Aurelie von Blazekovic greift für die SZ einen Offenen Protestbrief gegen eine von ARTE kürzlich unter dem Titel "Regisseurin gesucht!" verschickten Aufruf für einen Kurzdokumentarfilm-Wettbewerb. Die 700 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner aus vor allem der Filmbranche seien unter anderem "empört" darüber, dass es sich um einen "Aufruf zur unentgeltlichen Herstellung" von Kurzdokumentarfilmen handle.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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