Das Altpapier am 16. Juli 2021Behäbigkeit und Breaking-Muskeln
Der WDR hätte in der Unwetternacht zum Donnerstag umfangreicher informieren müssen – vor allem auf den linearen Kanälen. Bei all den schrecklichen Bildern und Nachrichten sollte die Komplexität in der Berichterstattung über den Klimawandel nicht vergessen werden. Der niederländische Peter de Vries ist nach dem Angriff in Amsterdam gestorben. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.
Inhalt des Artikels:
Viel Trivialcontent in der Katastrophe
Die Kritik changiert zwischen "Totalausfall" und "Lücken in der Berichterstattung". Beim Informieren über die Entwicklung der aktuellen Starkregen- und Hochwasserkatastrophe hätte der WDR in der Nacht auf den Donnerstag seine Stärke in der Regionalberichterstattung zeigen können. Während die Situation sich in Städten wie Wuppertal und Solingen stark zuspitzte, lief im Radio und TV aber größtenteils weiter das geplante Programm, u.a. mit Trivialcontent wie der ARD Popnacht bei WDR2 und Infos zu "Sommer-Highlights" im Münsterland im TV. Thomas Lückerath kritisierte in der Nacht auf den Donnerstag bei dwdl.de:
"Der WDR war beinahe ein Totalausfall. Beinahe, weil man auf der Website einen einsamen Text-Ticker aktualisiert. Und Twitter wurde irgendwann aktualisiert. Im laufenden Programm, egal ob Fernsehen oder Radio, gab es aber Dienst nach Vorschrift."
Bei der FAZ heißt es am Donnerstagnachmittag etwas nachrichtlich-distanzierter (via dpa):
"Der Westdeutsche Rundfunk hat Lücken in der Berichterstattung über die Starkregen-Katastrophe in Nordrhein-Westfalen eingeräumt. Zugleich wies der Sender aber darauf hin, dass er selbst von dem Unwetter betroffen gewesen sei. Der WDR reagierte damit auf Vorwürfe in sozialen Netzwerken und Kritik aus der Medienbranche. ‚Wir teilen die Einschätzung, dass der WDR noch umfangreicher aus Wuppertal hätte berichten müssen, allerdings war das dortige WDR-Studio selbst so stark vom Unwetter betroffen, dass es ab 3 Uhr in der Nacht nicht mehr selber senden konnte‘, sagte eine WDR-Sprecherin in Köln."
Über die wichtigen Informationen zu Evakuierungen, Abriegelungen und Gefährdungslage hätte man aber auch aus anderen Regionen kommen und von dort aus das Programm unterbrechen können. Wie der WDR letztendlich berichtete, fasst Lückerath in seinem Artikel detaillierter zusammen. Die Kurzfassung: Neben den regulären Nachrichten und einem 15-minütigen "WDR extra" um 20.15 Uhr sei ab 22.30 Uhr am Mittwoch kaum mehr was passiert. Erst ab 1.20 Uhr am Donnerstag habe der WDR im TV ein Laufband aktiviert:
"Das verweist nach mehrfacher Aktualisierung auf die WDR-Website und die Nachrichten der WDR-Radiosender. Dort waren die Nachrichten um 1 Uhr tatsächlich ein monothematisches Update zum Unwetter."
Lena Reuters kritisiert auf der SZ-Medienseite ebenfalls die Schwerfälligkeit der größten ARD-Rundfunkanstalt (auch der MDR, bei dem diese Kolumne erscheint, gehört zu dem Senderverbund).
"Wer verlässliche, aktuelle Nachrichten suchte, schaute besser auf Kanäle der Städte und Einsatzkräfte in den sozialen Medien. Oder gleich bei Bild. Dort hatte man früh die Systeme hochgefahren und ließ Donnerstag früh die Breaking-Muskeln spielen. Wenn Bild nächsten Monat seinen TV-Sender eröffnet, um sich statt feuilletonistischen Fragen aller Art exakt diesen Katastrophen zu widmen, wird die systematische Behäbigkeit des WDR noch schreiender auffallen."
Auch an der Bild-Berichterstattung kann man natürlich einiges an Kritik anbringen: unter anderem am Umgang mit den Betroffenen (siehe Boris Rosenkranz), aber auch an der Art, wie über Gaffer-Tourismus berichtet und dies durch sensationslüsterne Berichterstattung gleichzeitig angefeuert wird (Bild-Livestream gestern, ab ca. 1:48:10), ohne dabei zu erwähnen, dass es die Rettungsarbeiten behindern und auch für die Menschen selbst gefährlich werden kann.
Der WDR räumte dann am Donnerstag in Person von Newsroom-Chef Stefan Brandenburg Fehler ein. Bei Deutschlandfunks "@mediasres" sagte er am Donnerstagnachmittag:
"Im Nachhinein kann ich mir manches vorstellen, was wir auch anders hätten machen können. Ich möchte trotzdem sagen, wer gestern und heute in den WDR-Programmen unterwegs war, der wird gesehen, gehört, gelesen haben, dass wir wirklich auf allen Kanälen über dieses dramatische Unwetter ausführlich berichtet haben: Im Fernsehen den ganzen Tag über in Nachrichtensendungen, in einer nahezu monothematischen aktuellen Stunde, in einer Sondersendung um 20.15 und dann nochmal bis 22.30 in der Nacht."
Die besonders kritischen Stunden in der Nacht zum Donnerstag, in denen die Bevertalsperre und die Wuppertalsperre überliefen und an verschiedenen Orten Evakuierungen anstanden, wurden allerdings linear nur in den Nachrichten abgedeckt. Erst gegen 0.15 Uhr habe sich gezeigt, wie gefährlich die Situation tatsächlich war, erklärt Brandenburg. Dann sei das "Breaking-News-Programm" ausgerufen worden, "also die Berichterstattung alle 30 Minuten mindestens mit Unterbrechung des laufenden Programms in allen Radiowellen."
Auch wenn viele Menschen sich natürlich über digitale Wege über solch akuten Gefahren informieren war es kein gutes Signal, dass die linearen Programme den Schwerpunkt plangemäß auf den oben schon erwähnten Trivialcontent legten. Vor allem auch, weil der WDR sich gerne selbst für seine regionalen Kompetenzen bejubelt.
Brandenburg räumt ein, im Nachhinein hätte er die Möglichkeit genutzt, aus dem laufenden ARD-Radioprogramm ganz auszusteigen und eine eigene Sondersendung aus Köln anzubieten. Auch im TV wäre das gegen Mitternacht angebracht gewesen, sagt er bei "@mediasres". Dort spricht er auch über die Gründe für die anders getroffenen Entscheidungen.
Lückerath sieht die Verantwortung für die Programmgestaltung der Nacht auch in der Chef:innen-Etage und kritisiert die Struktur:
"Und nein, natürlich ist das kein Vorwurf an die diensthabenden Journalistinnen und Journalisten in dieser Nacht. Der Fehler liegt beim WDR im System und fängt mit der absurden Aufgabenteilung im Haus an, mit denen Intendant Tom Buhrow sowohl Jörg Schönenborn als auch Valerie Weber zufriedenstellen wollte. Sie ist verantwortlich für NRW-Themen und die Regionalstudios, er für die Information."
Am Donnerstag dann berichteten der WDR dann aber (wie auch andere Sender) sehr umfangreich, inklusive Sondersendungen.
Komplexität wahren
Bei der Zeit widmet sich Wissens-Chefreporterin Dagny Lüdemann außerdem dem konkreten Zusammenhang zwischen der aktuellen Hochwasser-Katastrophe und dem Klimawandel. Eine seriöse Aussage, ob jetzt genau dieses konkrete Wetterereignis eine direkte Folge der Erderwärmung sei, sei nicht möglich, gibt sie zu bedenken:
"Wer es trotzdem tut, begibt sich auf dünnes Eis. Genauso wie jeder, der verkennt, dass der Klimawandel Extremwetter wie dieses tendenziell wahrscheinlicher macht. An Letzterem besteht in der Wissenschaft kein Zweifel mehr. Aber das bedeutet nicht, dass jede Wetterkatastrophe eine direkte Folge der globalen Erwärmung ist."
Es sei
"völlig klar, dass es auf einem wärmeren Planeten mehr und heftiger regnet. Gründe dafür finden sich direkt in der Physik. Da wäre zum einen die Banalität, dass mehr Wasser verdunstet, wo es wärmer ist. Zum anderen nimmt heißere Luft mehr Wasserdampf auf, der sich dann in Wolken verdichtet. Letztlich schätzen Forschende, dass Starkregenereignisse in den vergangenen 40 Jahren weltweit um zehn Prozent wahrscheinlicher geworden sind (Climatic Change: Lehmann et al., 2015). Auch scheint die Regenmenge bei den extremen Niederschlägen mit jedem Grad globaler Erwärmung um durchschnittlich sieben Prozent zuzunehmen (Nature Geoscience: Berg et al., 2013)."
Z.B. im "Heute-Journal" etwa ist außerdem mehrfach vom Jetstream die Rede. Auch beim Tagesspiegel erklärt Meteorologe Sven Plöger im Gespräch über Extremwetterereignisse und die Berichterstattung über den Klimawandel mit Sinan Reçber:
"Am Pol wird es rasant wärmer, deshalb nehmen die Temperaturunterschiede zwischen Äquator und Pol weiter ab. Dadurch werden die Starkwindbänder in der Höhe, auch Jetstream genannt, zunehmend schwächer. Die Folge: Hoch- und Tiefdruckgebiete verweilen länger an ein und demselben Ort."
Und was dann passieren kann, sieht man einerseits in der aktuellen Hochwasserkatastrophe, aber auch in Dürreperioden und vielem mehr. Zwar zeigt das Hochwasser im Westen Deutschlands, was uns in Zukunft an Auswirkungen des Klimawandels häufiger bevorsteht. Die Konzentration auf dieses eine aktuelle Ereignis ist aber unterkomplex. Ein umfassenderer Blick nimmt der Situation nicht seine Dringlichkeit, sondern betont sie sogar noch.
"Ob dieser Starkregen auch ohne globale Erwärmung passiert wäre oder nicht: Es muss dringend etwas getan werden",
schreibt Lüdemann.
Berufsrisiko vs. Polizeischutz
Der niederländische Journalist Peter R. de Vries ist am Donnerstag gestorben. Nach dem Mordanschlag (siehe Altpapier) vor zehn Tagen mitten in Amsterdam ist der 64-Jährige seinen Verletzungen erlegen, wie die Zeit auf Basis mehrerer Agenturen berichtet. Der Journalist recherchierte intensiv zu ungelösten Mordfällen und zum organisierten Verbrechen, betreute aber darüber hinaus auch Zeugen in Strafprozessen. Im Nachruf auf de Vries heißt es beim Spiegel:
"Zu den Angehörigen von Kriminalitätsopfern baut de Vries enge Beziehungen auf. Er begleitet sie über Jahre hinweg, beginnt irgendwann auch, sie zu unterstützen und zu beraten. Er ist nicht mehr nur der Journalist, der neutral berichtet. Er wird Teil der Geschichten, die er schreibt."
Wegen dieser Rolle wurde de Vries‘ Arbeit in der Branche auch kritisch diskutiert. Ob die Schüsse auf ihn vor einem RTL-Studio mit seiner Arbeit zusammenhängen, ist noch immer nicht endgültig bestätigt.
Mark Rutte, Ministerpräsident der Niederlande, schrieb zum Tod des Journalisten auf Twitter (Übersetzung "Tagesschau"):
"Wir sind es Peter R. de Vries schuldig, dafür zu sorgen, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt. Wir dürfen und werden dies in den Niederlanden niemals tolerieren. Wir werden alles tun, um die Kriminalität mit allen Mitteln zu bekämpfen. Diese feige Tat darf nicht ungestraft bleiben."
Strafen sind das eine. Aber was zur Hölle muss getan werden, dass Journalist:innen mitten in Europa sicher ihre Arbeit tun können?
Journalist:innen würden teilweise noch immer zu wenig geschützt, kritisiert Monique Hofmann, Geschäftsführerin der dju, im WDR-Medienmagazin "Texte, Töne, Bilder" (am 10.7.21, also vor de Vries‘ Tod). Das gelte nicht nur für Investigativ-Reporter:innen, sondern vor allem auch für Kolleg:innen, die zur rechten Szene recherchieren.
"Da kann man auf mehreren Ebenen Ansetzen. Eine unserer Forderungen sind zum Beispiel Schwerpunktstaatsanwaltschaften, die sich dann nur mit Bedrohungen von und Angriffen auf Journalist:innen befassen. In den Niederlanden (…) wird auch ein doppelt so hohes Strafmaß verhängt, wenn es sich bei den Angegriffenen um Medienschaffende handelt. Ganz, ganz wichtig ist auch finanzielle Unterstützung für diese Journalist:innen, zum Beispiel für die Installation von Überwachungskameras, für Umzüge und Wohnortwechsel, wenn die Privatadresse veröffentlicht wurde. Dann sollte es auch entsprechende Stellen bei der Polizei geben, die so eine Art Monitoring der Bedrohungslage machen und die gefährdete Journalist:innen dann umgehend informieren, um mit ihnen Sicherheitskonzepte zu erarbeiten."
Polizeischutz habe de Vries selbst abgelehnt, heißt es beim Spiegel. Und klar, mit Beamt:innen an den Hacken lässt es sich nicht gut recherchieren. Allein durch die Information, dass Journalist:innen von der Polizei begleitet werden, dürften viele Quellen sich abwenden oder gar nicht erst melden. Eine Krux, für die Europa angesichts der vermehrten Angriffe dringend eine Lösung finden muss.
Altpapierkorb (WDR-Rundfunkrat, ARD-Programmreform, Studie zu Medien & Migration)
+++ Nach der breiten Kritik an den Plänen der ARD, das lineare Programm und das Konzept für die Madiathek zu erneuern (Altpapier), hat Axel Weidemann für die FAZ (€, auch bei Blendle) mit der neuen Programmdirektorin Christine Strobl über Trivialisierung und die Bedeutung linearer Sendezeit gesprochen.
+++ Beim NDR-Medienmagazin "Zapp" kommentiert Daniel Bouhs die Programmreform ARD kritisch: "Erstaunlich ist allerdings, dass die bisher bekannten Reformpläne ausgerechnet bei den journalistischen Genres keine Gewinner erkennen lassen. Die Politikmagazine und damit Rechercheformate sollen bluten, damit auf ihren Sendeplätzen mehr Langformate laufen. Zurecht weisen Magazinmacher wie Georg Restle auf eine einfache Rechnung hin: Weniger klassische Magazine, das heißt ausgerechnet in der kritischen Berichterstattung über Regierende und Konzerne auch weniger Themen – bei einigen würde in Dokus zwar tiefer gebohrt, bei anderen aber gar nicht mehr und schon gar nicht aktuell."
+++ Der Verband Kinderreicher Familien kommt in den WDR-Rundfunkrat. "Im Verbandsumfeld tummelt sich auch einschlägig konservativ-rechtskatholisches Gedankengut", führt Steffen Grimberg (der auch für MEDIEN360G arbeitet) bei der taz aus.
+++ Medien berichten seltener und negativer über Geflüchtete, berichtet die SZ mit Blick auf eine Studie zu Medien und Migration aus Mainz.
Neues Altpapier gibt‘s wieder am Montag.
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