Das Altpapier am 10. August 2021Entertainment und Entinhaltisierung
Wie findet man fernsehtaugliche Worte für die Klimakatastrophe, also ein politisches Versagen in historischem Ausmaß? Dürfen wir noch darauf hoffen, dass der Politikjournalismus von seiner Obsession kuriert wird, Wahlumfragewerte zu bequatschen? Dürfen wir darauf hoffen, dass die ARD ihre Selbstzerfleischung beendet? Ein Altpapier von René Martens.
Inhalt des Artikels:
Die Berichterstattung zum Weltklimaratsbericht
Manchen Themen und Ereignissen lässt sich selbst mit der größten Berichterstattungsintensität und -qualität kaum gerecht werden, und der "wahrscheinlich letzte große IPCC-Sachstandsbericht, der in die Zeit fällt, in der noch rechtzeitig die Weichen zur Abfederung des Klimawandels gestellt werden können" (FAZ-Wissenschaftsredakteur Joachim Müller-Jung, Blendle-Link), gehört wohl in diese Kategorie.
Welche Formen haben die Medien gewählt, um dem bereits wikipediasierten sechsten Sachstandsbericht bzw. dem aktuellen Bericht des Weltklimarats gerecht zu werden? Einige Herangehensweisen seien hier vorgestellt. Dass alle größeren Medien mehrere Beiträge zum Thema veröffentlicht haben, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Für Analysen von Fachleuten des eigenen Hauses haben sich zum Beispiel entschieden: Zeit Online, tagesschau.de und Spektrum. In letzterem Beitrag schreibt Lars Fischer, der IPCC-Bericht dokumentiere
"auch erstmals das Scheitern der internationalen Klimapolitik an der physikalischen Wirklichkeit. Große Versprechen und Rechentricks haben nicht verhindern können, dass die globalen Kohlendioxidemissionen seit dem ersten IPCC-Bericht von 1990 um mehr als die Hälfte gestiegen sind".
Einen impliziten Ratschlag an die Journalistenkolleginnen und -kollegen, was den Umgang mit dem Thema angeht, enthält der Text in diesem Zusammenhang auch:
"Das große Problem sind eben nicht jene, die offen den Klimawandel leugnen, sondern jene, die vorgeben, den Klimawandel zu bekämpfen – und sich dann auf im Wesentlichen symbolische Maßnahmen beschränken."
Eine andere Variante: Interviews mit Mitverfasserinnen und Mitverfassern des Klimaberichts. Zwei Interviews dieser Art habe ich gelesen, in der FAZ (Link siehe ersten Absatz der Kolumne) und beim ND (ebenfalls veröffentlicht bei den Klimareportern)
Der Spiegel und das Time Magazine haben sich entschieden, Gastbeiträge von Wissenschaftlern schreiben zu lassen, die in ihren jeweiligen Standortländern recht bekannt sind (und die an früheren Berichten des Weltklimarats mitgewirkt haben). Es handelt sich um Stefan Rahmstorf und Michael E. Mann. Letzterer schreibt:
"The fossil fuel industry knew a half century ago that their products—coal, oil, gas—would lead to the climate change future that we’re living in today (…) They spent millions of dollars on a massive disinformation campaign to convince the public and policymakers that climate change either wasn’t real, wasn’t a threat, or would be too expensive to do anything about (when in fact the opposite is very clearly true)."
Die Bedeutung dieser Desinformationskampagne hatte neulich auch der ZDF-Meteorologe Özden Terli angerissen (siehe Altpapier).
Die taz hat einen Gastkommentar von bekannten Aktivistinnen - Luisa Neubauer und Carla Reemtsma - schreiben lassen. Wobei es dann auch um die Frage geht, wie man selbst als Akteur in den Medien damit umgehen soll:
"Im Kern (…) ist der neue Klimabericht keine Zusammenfassung wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern ein Report über politisches Versagen in historischem Ausmaß (…) Für uns, Aktivistinnen einer Generation, die aller Voraussicht nach noch das Jahr 2080 erleben wird, ist das eine skurrile Situation. Man fragt uns freundlich, wie wir den neuen Bericht finden, und wir antworten fernsehtauglich und ruhig. Aber innerlich beben und wüten wir."
Eine formal auffällige Idee hatten die "Tagesthemen". Für die Rubrik "Meinung" holte man sich mit Eckhart von Hirschhausen einen ARD-Promi, der Teile des Publikums möglicherweise besser, äh, abholen kann als einer der üblichen Kommentierenden. Und die Bildsprache ist hier völlig anders: Sonst hört das Bild in der Regel unter dem Brustbein des Kommentierenden auf, und die Hände sind entweder gar nicht im Bild oder der oder die Sprechende holt sie mal kurz etwas verschämt vom unteren Bildrand hervor. Bei von Hirschhausen ist dagegen der gesamte Oberkörper zu sehen, er arbeitet sehr viel mit den Händen, agiert überhaupt sehr gesten- und generell bewegungsreich.
Inhaltlich wird das Ganze natürlich runtergebrochen aufs Hirschhauseneske, vielleicht sogar KiKA-hafte ("Gesunde Menschen und Tiere gibt es nur auf einer gesunden Erde"). Ich würde trotzdem sagen: Kann man so machen.
Was liegt bereits an Kritik an der Berichterstattung über den Klimabericht vor? Dass zwar vielerorts die Qualität sehr gut war, aber die Gewichtung nicht stimmte, konstatiert die Klimajournalistin Sara Schurmann:
"Aus der Arbeit im Newsroom weiß ich: Klima ist oft nicht der Klick-Bringer (…) Und Homepage-Manager:innen sind unter Rechtfertigungsdruck, wenn sie Stücke oben halten, die nicht performen. Deswegen liegt es an den Chefredaktionen, die Bedeutung der Berichterstattung zu erkennen - und auch mal etwas länger durchzuhalten, wenn ein Beitrag nicht ‚performt’."
Und Stefan Niggemeier weist auf eine rätselhafte Visualisierung des Themas ausgerechnet auf der Titelseite der SZ hin.
Die Brücke von der Klimaberichts-Aktualität ins medienjournalistische Tagesgeschäft schlägt Joachim Huber mit einem Kommentar für den Tagesspiegel: Die ARD müsse vor der Hauptausgabe der "Tagesschau" anstelle von "Börse vor acht" nun endlich das Format "Klima vor acht" platzieren (siehe unter anderem dieses Altpapier)
"'Klima vor acht', das könnte aufklären, Zusammenhänge aufdröseln, Wissen und Bewusstsein verstärken",
meint Huber. Eine Landesrundfunkandstalt, die die Sendung produzieren könnte, hat Huber auch schon im Auge. Unser MDR ist’s. Schließlich habe "Intendantin Karola Wille den Ausbau des 'Klimajournalismus' in Sender und Sendungen angekündigt". Zu Letzterem hatten wir auch mal eine kurze Passage im Altpapier.
Sportjournalistisches Sommerinterview
Um die Klimakatastrophe hätte es auch gehen können im Sommerinterview des ZDF mit Robert Habeck. Immer wieder wollte der Gast das Thema aufbringen, mit Schlagworten wie "der Golfstrom kollabiert" oder "Südeuropa brennt". Und etwas ausführlicher auf diese Weise:
"Wir müssen jetzt sehen, dass wir deutlich machen - und das scheint, wenn ich an Interviews denke, die ich diese Woche gegeben habe, noch nicht einmal beim informierten Journalismus angekommen zu sein -, was die Dringlichkeit ist: Wie sich das Wetter immer extremer gebiert, wie Leben und Freiheit von Menschen in Gefahr sind und dass wir jetzt handeln müssen."
Allein, die Devise der Moderatorin Shakuntala Banerjee lautete offenbar: Entertainment und Entinhaltisierung. Friedemann Karig hat dem "Interview-GAU" einen Thread gewidmet, den er am Sonntag begonnen und am Montag noch einmal ausgebaut hat: "Bei Min 9 von 20 (dreht sich das Interview) immer noch rein um die Grünen, ihre Interna und Umfragewerte (…) Er versucht inhaltlich zu antworten. Klappt nicht", protokolliert er. An anderer Stelle des Threads spürt man ein Aufstöhnen: "Immer wieder: Umfragewerte", heißt es da. "Politik als Wettkampf, Journalismus als Sportberichterstattung" - so lautet sein Fazit.
Zur unsäglichen Umfragewertebequatschungs-Obsession schreibt Karig:
"Man muss in diesem konkreten Zusammenhang, aber auch generell immer wieder bedenken, dass Umfragewerte keine Dinge sind, keine Fakten, keine Ereignisse. Sie sind volatil, variieren zwischen Instituten und taugen zu kaum etwas."
Um diese Obsession im Speziellen und um Horse-Race-Journalismus i.a. ging es unter anderem vor rund einem Monat schon mal im Altpapier, konkret um die Verantwortung entsprechend konditionierter Politikjournalistinnen und -journalisten für die Verarmung des politischen Diskurses:
"Diese tun (so), als wären Umfragewerte für den Politik- und Nachrichtenjournalismus so relevant wie Wettkampfergebnisse für den Sportjournalismus."
Um beim Schlagwort Sportjournalismus zu bleiben: Banerjee lieferte in ihrem Interview ja dann auch noch die im Zusammenhang mit den Grünen schon unzählige Male performte Variante des "Wenn das Saisonziel noch erreicht werden soll, muss dann nicht der Trainer gehen?"-Motivs: Wäre nicht "jedes Mittel recht, um ins Kanzleramt zu kommen, auch der Austausch der Kanzlerkandidatin Baerbock gegen einen Kanzlerkandidaten Habeck?"
Eigentlich ums öffentlichkeitswirksame Posieren mit Pferden am Beispiel von Greta Thunberg und Robert Habeck geht es in einem SZ-Medienseitenbeitrag Cornelius Pollmers, zum Thema "horse race journalism" gelangt der Autor, den Pferden sei Dank, dann aber auch noch. Für Pollmer steht dieser Begriff
"für eine Art Scheuklappen-Journalismus, der vor allem jenen täglichen Egomanen- und Hahnenkampf betrachtet, den vorwiegend Männer in der Politik aufführen. Er meint einen Journalismus, der sich von wirklich wichtigen Dingen also ablenken lässt und sich vor allem für Haltungsnoten, Parteiinterna und Zänkisches interessiert, für die Frage also, wer wen warum doof findet und deshalb ärgern will."
Das Sommerinterview mit Habeck sei nun ein Beispiel dafür, "wie solcher Journalismus zu niemandes Vorteil schiefgehen kann".
Shakuntala Banerjee reagiert in einem recht langen Thread auf verschiedene Argumente der Kritikerinnen und Kritiker. Unter anderem schreibt sie:
"Einem kritischen Interview liegt eine unausgesprochene Vereinbarung zugrunde: Eine/r fragt, der/die Andere antwortet. Das Ziel: konzentriert auch unangenehme Fragen zu bearbeiten, die der Gast gerne umgehen würde. Weicht der Gast Fragen aus, muss ich ihn freundlich, aber bestimmt zum Kern zurückholen."
Das ist theoretisch gewiss richtig. Oft haben wir es in solchen Fällen mit einem oder einer Interviewenden zu tun, die oder der hartnäckig inhaltliche Fragen stellt, während der Politiker oder die Politikerin immer wieder floskelreich ausweicht. Das, wenn man denn so will, Faszinierende an diesem Sommerinterview mit Habeck ist nun aber, dass hier ein Rollentausch stattfindet: Der Politiker übernimmt eher eine journalistische Funktion, er versucht Substanz reinzubringen - natürlich nicht aus altruistischen, sondern eigennützigen Motiven -, während die Interviewerin sich von ihrem eher people-journalistischen Kurs nicht abbringen lassen will.
Karig fordert zum (bisherigen) Abschluss seines Threads:
"Diese Interviews müssen sich zu ihrem Gegenteil ändern."
"Eine sehr spezielle Form der Selbstzerfleischung"
Da wir schon bei den Appellen an die Öffentlich-Rechtlichen sind: In einem Beitrag für die Meinungsseite der SZ (€) macht Claudia Tieschky deutlich, was die Öffentlich-Rechtlichen mit der Summe von 1,5 Milliarden Euro anstellen sollten, die sie für die Zeit zwischen 2021 und 2024 nun zusätzlich zur Verfügung haben (bzw. die sie lange eingeplant haben, von der sie aber erst seit dem Karlsruher Rundfunkbeitragsurteil am Donnerstag wissen, dass sie sie ausgeben können). Sie sollten sie zum Beispiel stecken
"in Information, hochwertige Fiktion und Dokus, die sonst keiner macht, in echte Kultur und in Orchester, die musikalische Bildung vermitteln, wo diese sonst eher nicht hinkommt".
Womit wir natürlich zu der Frage kommen, ob so ein Appell realistisch ist. Denn, so Tieschky:
"Leider gibt es ein großes öffentlich-rechtliches Missverständnis. Es ist der Glaube, die Hirne und Herzen seien hauptsächlich durch Programme zu erreichen, die sich auf Social Media gut verbreiten, in Mediatheken geklickt werden und so unter die jüngeren Zuschauer kommen (…) Vor allem die ARD treibt gerade unter dem Druck der Publikumsüberalterung eine sehr spezielle Form der Selbstzerfleischung. Sie traut ihren eigenen Stärken nicht mehr und verscherbelt Schätze (…) Kultur wird abgebaut oder der Verflachung preisgegeben. Klicks sind die neue Quote. Darüber müsste auch in den Aufsichtsgremien heftiger und hörbarer gestritten, gerungen, gekämpft werden."
Zu den von Tieschky erwähnten "Schätzen" gehört der "Weltspiegel", der "auf den späten Montagabend weichen soll". Man könnte in diesem Zusammenhang das eher in eine Nischenkolumne wie diese als in einen SZ-Meinungsbeitrag passende Detail anfügen, dass es auch "Weltspiegel"-Spinoffs gibt, die nicht nur verschoben, sondern vielleicht sogar abgeschafft werden sollen. Das 15-minütige Format "Weltspiegel extra" zum Beispiel, das immer dann zum Einsatz kommt, wenn es angezeigt ist, in der Auslandsberichterstattung kurzfristig mit einem hintergründigen Stück zu reagieren, das länger ist, als ein Nachrichtensendungs- oder ein Magazinbeitrag, aber kürzer als eine Doku. Am Sonntagabend nun hat die "Weltspiegel extra"-Sendung "Feuerdrama am Mittelmeer" gezeigt, wie absurd es wäre, sich von diesem Format zu verabschieden.
Altpapierkorb (zu wenig Bilder über die Lage in US-Krankenhäusern, verzerrende Radfahrunfall-Pressemeldungen, Serien-Revivals)
+++ Anstatt überdramatisierend über nicht schwer verlaufende "Covid-Durchbruchsfälle" bei vollständig Geimpften zu berichten (siehe Altpapier), sollten US-amerikanische Medien lieber verstärkt in den Blick nehmen, was den gar nicht Geimpften droht bzw. ihnen derzeit widerfährt - so lässt sich eine medienkritische Debatte zusammenfassen, die derzeit in den USA geführt wird. Siehe dazu einen CNN-Clip und einen ergänzenden Textbeitrag. Letzterer greift Kritik von Medizinerinnen und Medizinern auf. Die Radiologin Nisha Mehta sagt: "People are more likely to change their behavior when they hear stories they can relate to (…) She added that Americans need to see more coverage of hospitals running out of beds and struggling with staffing. 'Those are the stories I think that people need to really be seeing,' she said."
+++ Kritik des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) an autofahrerfreundlichen Polizeipressemeldungen zu Radfahr-Unfällen greift Martin Gropp für die FAZ auf (für 75 Cent bei Blendle): "Laut ADFC schildern Unfallberichterstatter Kollisionen bisher häufig so, 'als ob die Person auf dem Rad einen Fehler gemacht habe'. Zudem bleibe der Mensch im Auto oder Lastwagen oft unsichtbar. 'Dieser Blickwinkel verzerrt fast immer die Unfallrealität und vergiftet die öffentliche Wahrnehmung des Radverkehrs', argumentiert der Fahrrad-Club." Zu diesem Thema siehe auch "Wie Sprache in Unfallberichten das Denken formt", erschienen vor wenigen Tagen bei Message Online.
+++ Isabella Caldart schreibt für 54books unter dem Titel "Revivals, Reboots, Reunions – Wie aus Nostalgie Geld gemacht wird" über die unterschiedlichsten Formen von Fernsehserien-Neuauflagen: "Revivals, Reboots und Reunions sind (…) keine ganz neuen Phänomene. Die Häufung in den vergangenen Jahren ist aber auffällig (…) Nahezu alle beliebten Serien, die zwischen Ende der achtziger und Mitte der nuller Jahre liefen, haben kürzlich auf irgendeine Art und Weise eine Wiederbelebung erfahren, oder sie stehen kurz davor". Zum einen läge das daran, dass Nostalgiebedürfnisse bedient werden wollen. "Zum anderen wäre da natürlich die schier endlose Zahl von immer neuen Streaminganbietern, die in Konkurrenz treten und irgendwie versuchen müssen, altes Publikum zu binden und neues anzulocken (…) Revivals (…) haben auch den Vorteil, dass das Marketing quasi automatisch läuft (…) da die Serien schon bekannt und als Marke etabliert sind, die Presse also automatisch darüber berichtet, im besten Fall sogar bei jeder neuen Information über den Cast."
Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.
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