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Das Altpapier am 1. Dezember 2021Sylt ist überall

01. Dezember 2021, 13:10 Uhr

Zwei Medienbetriebsnudeln ziehen die Philosophie in den Dreck. Ein Team des New Yorker landet wegen Recherchen zur Umsetzung der EU-Migrationspolitik in Libyen im Knast. "Faking Hitler" lässt sich gut nebenbei wegsnacken. Ein Altpapier von René Martens.

Philosophie im Dreck

Die Meinung von Richard David Precht, der Germanist ist, aber als Philosoph gehandelt wird, und Svenja Flaßpöhler, die tatsächlich Philosophin ist, wäre "auf jeder 'Querdenker'-Demo mehrheitsfähig", nur würden die Straßenschwurbler diese Meinung "nicht so schön und schlau formulieren". Dies schrieb am Wochenende Julia Encke in der FAZ (€) anlässlich der ZDF-Sendung "Sensibilisieren wir uns zu Tode?", die die beiden am Sonntag bestritten. Mirko Schmid schrieb kurz darauf für die FR über ein "seltsames Stück Fernsehen", das "schwer zu ertragen" gewesen sei - wobei am schwersten erträglich vielleicht diese Passage war, die @wenigworte bei Twitter herausgreift.

Dass die Medienbetriebsnudeln Precht und Flaßpöhler dafür gesorgt haben, dass die Begriffe Philosoph und Philosophin mittlerweile als Schimpfworte taugen, kann ich gelassen hinnehmen. Ich habe aber auch bloß zwei Semester Philosophie studiert. Wenn man in Philosophie promoviert und gelehrt hat (wie Johanna Sprondel) oder dort seinen Bachelor und Master gemacht hat (wie die Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski), kann man das natürlich auch anders sehen.

Sprondel hat mit Verweis auf Precht und Flaßpöhler gerade ihren Lektor anlässlich einer bevorstehenden Buchveröffentlichung darum gebeten, die Bezeichnung "Philosophin" aus ihrer Kurzbiografie zu streichen, und Stokowski, die diese traurige Anekdote aufgreift, nimmt den ZDF-Talk in ihrer aktuellen Kolumne zum Anlass, Precht und Flaßpöhler ausführlich dafür zu kritisieren, dass sie die Philosophie "in den Dreck ziehen":

"Precht und Flaßpöhler gleichen sich darin, dass sie gern populistische Meinungen vertreten, ohne sich groß um Belege zu scheren, und beide kommen bei ihren Überlegungen mit absolut präziser Treffsicherheit am rechten Rand bürgerlichen, antiempanzipatorischen Denkens raus, egal ob es um die Pandemie geht oder um Geschlechterrollen (…) Sicher gibt es nicht die eine wahre Art, Philosophie zu betreiben, aber das Mindeste wäre, intellektuell redlich zu bleiben, präzise zu argumentieren und Belege für angebliche gesellschaftliche Tendenzen zu liefern, statt einfach Meinungen zu präsentieren, die zufällig genau die reaktionären, unsolidarischen und empathielosen Positionen sind, von denen wir eh zu viel haben."

US-Journalisten im libyschen Knast

Über den Krieg, den die EU in Libyen gegen Migranten führt bzw. führen lässt, wird gewiss nicht genug berichtet - auch wenn es in diesem Jahr verdienstvolle Beiträge gab. Im April berichtete eine Recherchekooperation von unter anderem Spiegel (€) und "Monitor", im August zog "Monitor" noch einmal nach, und eine französische Arte-Dokumentation aus dem Oktober, die leider nicht mehr in der Mediathek steht ("Lager der Schande – Europas Libyen-Deal"), wäre in dem Zusammenhang auch noch zu nennen.

Einen Blick von außen, was in diesem Fall heißt: aus außereuropäischer Perspektive, liefert nun eine auf Monate langer Arbeit basierende Reportage, die Ian Urbina für den New Yorker unter dem Titel "The Invisible Wall: Inside The Secretive Libyan Prisons That Keep Migrants Out Of Europe" geschrieben hat (Danke für den Hinweis an Lorenz Matzat). Vielleicht braucht es diesen Blick von außen, um folgenden Satz zu sagen: "The Air Force in this war against migration is run by Frontex." In dieser Klarheit ("Luftwaffe") haben hiesige Journalistinnen und Journalisten die Rolle von Frontex meiner Wahrnehmung nach bisher nicht beschrieben. Die Äußerung stammt aus einem Interview, das das National Public Radio mit Urbina anlässlich des New-Yorker-Artikels geführt hat.

Im Mittelpunkt der Geschichte, die auch die erwähnten Beiträge von Spiegel, "Monitor" und Co. aufgreift, stehen die Geschehnisse in Al Mabani, dem größten der laut Urbina rund 15 Migranten-Gefängnisse in Libyen. Diese Recherchen führten schließlich dazu, dass Urbina sechs Tage in Haft landete. Es beginnt für ihn damit, dass ein Dutzend bewaffnete Männer sein Hotelzimmer stürmen:

"One held a gun to my forehead and yelled, "Get on the floor!” They placed a hood over my head, kicked and punched me, and stepped on my face, leaving me with two broken ribs, blood in my urine, and damage to my kidneys. Then they dragged me from the room."

Auch sein Rechercheteam wurde überfallen und verhaftet:

"(It) was on their way to dinner near the hotel; their driver spotted cars following them and turned back. Several cars blocked the road, and armed men in masks leaped out. They took my team’s driver from the van and pistol-whipped him, then blindfolded my colleagues and drove them away. We were all taken to an interrogation room at a black site, where I was punched again in the head and ribs. Still hooded, I could hear the men menacing the others. "You are a dog!” one yelled at our photographer, Pierre Kattar, striking him across the face. They whispered sexual threats to the female member of our team, Mea Dols de Jong, a Dutch filmmaker, saying, "Do you want a Libyan boyfriend?”

Doch wer waren die Gangster?

"Our captors told us that they were part of the Libyan Intelligence Service, nominally an agency of the National Unity government, which also oversees Al Mabani (…) The fact that I was a journalist was less a defense than a secondary crime. My captors told me that it was illegal to interview migrants about abuses at Al Mabani."

Nach sechs Tagen kommen die Journalistinnen und Journalisten frei. Die Freiheit hat aber einen beträchtlichen Preis, wie Urbina schreibt:

"They kept our computers, phones, and cash, plus thirty thousand dollars’ worth of filming equipment and my wedding ring."

Wie die Arbeit an der Geschichte, die ihn bei den EU-Buddies ins Gefängnis brachte, überhaupt begann, hat Urbina in diesem Twitter-Thread ausgeführt.

Oldie-Radio im Fernsehen

Am Dienstag startete auf RTL+ (vormals TV Now) die sechsteilige Serie "Faking Hitler", die die Geschichte der "Hitler-Tagebücher" neu erzählt - beziehungsweise die des größten Reinfalls in der Geschichte des Magazins Stern. Wolfgang Höbel schreibt für den Spiegel dazu:

"'Faking Hitler' ist keine durchgeknallte Groteske wie 'Schtonk!'. Helmut Dietls Film ist, wie man beim Wiederansehen feststellen kann, gerade wegen seines Haudrauf-Humors nicht besonders gut gealtert. (Serienmacher Tommy) Wosch erzählt nun einen fast konventionellen Krimi mit viel Achtzigerjahre-Zeitkolorit."

Wobei ich diesen Zeitkolorit ziemlich dick aufgetragen finde. Bleiben wir aber beim Stichwort "Schtonk!": Während Höbel also meint, dass der Film nicht mehr das ist, was er (vielleicht) mal war, stellen Carolin Ströbele bei Zeit Online und Hanns-Georg Rodek (Die Welt) in ihren "Faking Hitler"-Rezensionen noch einmal heraus, was ihnen an "Schtonk!" gefällt. Und dann ist da noch Thomas Lückerath, der bei dwdl.de. einwendet: "Banale 'Schtonk!'-Vergleich greifen zu kurz."

Ströbele kritisiert die "übergestülpte Parallelgeschichte" aus dem Drehbuch-Baukasten, der uns eine fiktive jungen Stern-Journalistin zwischen zwei Männern beschert - eine Geschichte, die unter anderem dadurch zu erklären ist, dass "eine Serie ohne weibliche Hauptfigur nicht mehr durchsetzbar ist" (Rodek) und die zudem als "Scharnier zu zwei weiteren fiktiven Strängen" (ders.) fungiert. Lückerath hingegen lobt die fiktionalen Elemente bzw. "die breitere Erzählung mit zusätzlichen Charakteren"

Ströbeles Fazit:

"Ja, man kann 'Faking Hitler' ganz lässig nebenbei wegsnacken. Die Handlung spult schnurgerade vor sich hin und der Soundtrack klingt wie das 'Beste aus den Achtzigern' einer öffentlich-rechtlichen Radiostation."

Mit der Musik in "Faking Hitler" habe ich mehrere Probleme. Sie wird halt auf ähnlich billige Art eingesetzt wie im Oldie-Radio: Man versucht Zuschauende auf einer privaten Nostalgie-Ebene, äh, abzuholen (das gilt aber auch für manche internationale Serienproduktion). Dass Songs wie "Don’t you want me" und "Tainted Love" überhaupt nicht zum Stern-Milieu der Hitler-Tagebücher-Zeit passen, kommt hinzu. Aber vielleicht haben die Autoren sich ja auch deshalb die gern in Kiezclubs tanzende Journalistin ausgedacht.

"Im Grunde genommen ist Faking Hitler ein Paradebeispiel für das Schwächeln fiktionaler Formate in Deutschland", schreibt Ströbele auch noch - und ein anderes Beispiel dafür scheint "Ein Hauch von Amerika" zu sein, ein neuer ARD-Serienschinken, der den SZ-Autor Willi Winkler zu einer Satire übers deutsche Drehbuchgewerbe inspiriert hat, die man komplett lesen sollte. Ihre Qualität erschließt sich jedenfalls nicht, wenn ich daraus Teile zitiere (also lass ich’s).

Deutsche Journalisten im Paradies

Mediengeschichtlich wertvoller als das snackable Dingens von RTL ist ein Essay, den John Reiter (vermutlich ein Pseudonym) für 54books geschrieben hat. Er weist uns auf die milieu-kritische Inside-Sylt-Dokumentation "Die Schönen und die Reichen" hin, die der NDR 1972 produzierte und in der viele damals prominente und teilweise auch heute noch namhafte Journalisten auftauchen. Dank ARD Alpha (wo der Film 2018 und 2019 mehrmals lief) und YouTube ist der Film wieder zugänglich.

Wertvoll ist Reiters Hinweis deshalb, weil das beschriebene Journalisten-Milieu auch ein halbes Jahrhundert später noch existiert (zumindest im Springer-Reich), man aus dem alten Film in gewisser Hinsicht also auch ein bisschen was über die Medien von heute erfährt. Reiter schreibt über diesen Film im Zusammenhang mit einem hochgradig bizarren Springer-Werbeclip mit Sylt-Flair, den der Konzern kürzlich bei YouTube platzierte.

Doch genug der Vorrede. Was passiert in "Die Schönen und die Reichen"?

"G+J-Mitgründer Richard Gruner quetscht sich in ein etwas zu enges Westernhemd und dann samt mehreren Begleiterinnen nacheinander in ein Coupé und ein Privatflugzeug. Zu jeder Tageszeit fließt Alkohol (…) Bild-Chefredakteur Peter Boenisch lässt im Film sein Haus neben einem der Anwesen Springers errichten. Er schwebt mit dem Hubschrauber ein – angesichts des betont autoaffinen Kurses der Zeitung wahrscheinlich die höchste Stufe der Individualmobilität."

Der Film, so Reiter weiter, sei

"nicht nur ein Sittengemälde, sondern auch eine soziologische Laboranordnung. Wirtschaftskapitäne treffen auf Prominente, Politiker, "Mädchen" und – Journalisten. Die Männlichkeitsformen sind hier tatsächlich generisch. Letztgenannte Gruppe hat dabei eine besondere Stellung, die sie bis heute gehalten hat."

Ihr Verhalten erinnert den Autor "an den Habitus des 'falschen Mittelstands', den Ralf Dahrendorf einst am Dienstleistungspersonal der Oberschicht beobachtete":

"Auf Sylt sitzt (dieses Personal) mit am Tisch des Privatbankiers Enno von Marcard, in Gestalt von WamS-Chefredakteur Claus Jacobi und Boenisch' Vorvorgänger im Amt des Regierungssprechers Conrad Ahlers (zuvor Spiegel). Marcard macht sich champagneröffnenderweise schon damals Sorgen um die Meinungsfreiheit – indes, auf der Insel bestand "wirklich eine außerordentliche Möglichkeit, sich zu unterhalten und Meinungen auszutauschen, was nicht immer und überall möglich ist".

Unter Bezug auf einen Artikel der Zeit-Redakteurin Iris Radisch, die 2017 die MeToo-Debatte zum Anlass nahm, darauf hinzuweisen, dass, so fasst es der 54books-Autor zusammen, bis in die 1980er Jahre hinein "die Sphäre der großen Medienhäuser in Hamburg" ein "'weitverzweigtes und historisch gewachsenes, männliches Gesamtsystem' sexueller Übergriffigkeit und Machtmissbrauchs" gewesen sei - unter Bezug also auf diesen vier Jahre alten Text schreibt Reiter jetzt:

"Das Paradies dieses Gesamtsystems liegt der Legende nach auf einer Nordseeinsel. Ein freizügiges, spezifisch deutsches Reservat mit Park- und Flugplatz, klaren Geschlechterrollen und sozialen Hierarchien, geschützt vor gesellschaftspolitischen Debatten. Der männliche Top-Journalist erörtert hier vor dem Hintergrund von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung mit den Reichen und Mächtigen ungestört die politische Lage, das Inventar der Schönen sorgt für Kontemplation (…) Eine Fernsehdokumentation hat dieses Paradies 1972 verewigt, ein Springer-Imagefilm übernimmt knapp 50 Jahre später blindlings die Symbolik." 


Altpapierkorb (Reklame im RBB, antisemitische Social-Media-Posts von DW-Mitarbeitern, mehr zum neuen Lehrenkrauss-Film, Ortstermin im Fretterode-Prozess)

+++ Weniger Werbung im RBB - dies haben SPD, Grüne und Linke in Berlin im Sinn, jedenfalls lässt der Koalitionsvertrag, über den die beteiligten Landesverbände in den kommenden Tagen auf Parteitagen bzw. per Mitgliederentscheid abstimmen, diese Deutung zu (dpa/Tagesspiegel).

+++ Die SZ-Medienseite berichtet über antisemitische Social-Media-Posts von Mitarbeitenden der Deutschen Welle - und den Umgang des Senders damit.

+++ Ebenfalls in der SZ: Susan Vahabzadeh schreibt über "Freiheit und Irritation", den neuen Dokumentarfilm von Elke Lehrenkrauss, die durch den Vorgängerfilm "Lovemobil" in Misskredit geraten war (Altpapier von Montag): "Lehrenkrauss weiß ganz genau, wie sie das Faszinierende - nicht unbedingt Schöne, aber Fesselnde - an Menschen in Bilder übersetzt." Ich habe "Freiheit und Irritation" - ein Porträt zweier Brüder, die Kunst studieren - ebenfalls rezensiert, und zwar für Zeit Online.

+++ Am 14. Tag des Prozesses zu den Neonazi-Angriffen auf zwei Journalisten im thüringischen Fretterode stand am Dienstag ein Ortstermin an. Michael Brakemeier im Göttinger Tageblatt (€) und @nsuwatch berichten.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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