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Wer Bürgergeld bezieht, hat am Monatsende mehr in der Tasche? So lautet der Tenor in den sozialen Medien. Aber die Fakten sehen anders aus. Bildrechte: imago/Jochen Tack

FaktencheckBürgergeld: Lohnt sich das Arbeiten noch?

10. November 2022, 11:53 Uhr

Wer Bürgergeld bezieht, hat am Monatsende mehr Geld auf dem Konto als Arbeitnehmer? Mit Einführung des Bürgergeldes lohne es sich doch gar nicht mehr, arbeiten zu gehen. Diese Behauptungen verbreiten sich gerade in den sozialen Netzwerken. Doch stimmt das? Ein Faktencheck.

Im Januar soll das neue Bürgergeld kommen. Die Grundsicherung für Arbeitslose soll dann etwa 50 Euro höher sein als die bisherigen Hartz-IV-Leistungen – und mit weniger Druck vom Jobcenter verbunden. Vor den Entscheidungen in Bundestag und Bundesrat wird in den sozialen Medien heiß diskutiert. Die Behauptung: Das Bürgergeld stelle Arbeitslose finanziell besser als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Vollzeit. Wer Bürgergeld beziehe, habe am Monatsende mehr Geld auf dem Konto als geringverdienende Erwerbstätige. Und solche Behauptungen kommen nicht von namenlosen "Trollen" im Netz, sondern von namhaften Politikern, beispielsweise aus der Union.

Friedrich Merz (CDU) bemängelte etwa, dass Arbeitssuchenden mit der Einführung des Bürgergelds der Anreiz zum Arbeiten genommen werde. CSU-Chef Markus Söder sagte im ZDF, bestimmte Menschen in den unteren Einkommensgruppen würden "am Ende, wenn sie arbeiten, weniger haben, als wenn sie nicht arbeiten". Auf Twitter schrieb Söder, das Bürgergeld benachteilige hart arbeitende Menschen.

In der CSU-Parteikampagne "Leistung muss sich lohnen!" wird vorgerechnet: Ein Alleinstehender, der ab 2023 Bürgergeld empfange, habe am Ende vermeintlich genauso viel Geld zum Leben übrig wie ein vergleichbarer Arbeitnehmer mit einem Bruttolohn von etwa 2.500 Euro. Die Behauptung: Anders als Arbeitslose bekommen Arbeitnehmer weder Wohnung noch Heizkosten vom Staat finanziert.

Stimmt das? Nein. Einem Faktencheck der Nachrichtenagentur dpa zufolge übernimmt die CSU für ihr Beispiel dieselben Daten, die schon Wochen zuvor etwa die rechtskonservative Wochenzeitung "Junge Freiheit" und mehrere AfD-Kreisverbände verbreitet hatten.

Rechenbeispiele sind unvollständig

Es werden bei diesen Beispielen staatliche Leistungen vernachlässigt, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Niedriglohnsektor zustehen: etwa Wohngeld, Kinderzuschläge, Unterhaltsleistungen oder Freibeträge. All das ist zusätzliches Geld, das nur Erwerbstätige beantragen können, um ihr Einkommen aufzustocken. Werden diese Zuschüsse nicht eingerechnet, fallen die Ergebnisse solcher Beispielrechnungen für Erwerbstätige im Niedriglohnsektor teils um mehrere Hundert Euro zu niedrig aus. Zu diesem Ergebnis kommt auch die dpa.

Die Differenz zwischen Bürgergeld und Gehalt zu berechnen, ist hochkomplex und vor allem individuell unterschiedlich. Das sagt auch der Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln dem MDR. "Das System ist so ausgelegt, dass jeder, der arbeitet, mehr verfügbares Einkommen hat als der, der nicht arbeitet. Die gegenteilige Situation kann nur dann entstehen, wenn vom Anspruch auf Transferleistungen kein Gebrauch gemacht wird", sagt Schäfer.

Berufstätige haben mehr Geld zur Verfügung

Ob staatliche Leistungen gezahlt werden, hängt von diversen Faktoren ab: Größe und Kosten der Wohnung etwa, aber auch der Wohnort oder die Anzahl der Familienmitglieder spielen eine Rolle. Grundsätzlich haben in Deutschland Berufstätige mehr Geld zur Verfügung als heutige Hartz-IV- und künftige Bürgergeld-Empfänger – wenn sie die Leistungen, die ihnen zustehen, auch in Anspruch nehmen.

Hinzu kommt: Wer lange Bürgergeld oder Hartz IV bezieht, wird auch im Alter die Folgen spüren: Beim Bürgergeld werden keine Beiträge an die Rentenversicherung abgeführt. Das schmälert künftige Rentenzahlungen.

Sozialtransfers für Erwerbstätige

Dass Arbeitnehmer finanziell immer besser dastehen, unterstreicht auch Johannes Steffen im Gespräch mit dem MDR. Er hat lange Jahre in der Arbeitnehmerkammer Bremen gearbeitet, bezeichnet sich selbst als "gewerkschaftsnah" und betreibt das Portal Sozialpolitik.

"Der Sozialstaat ist so konstruiert, dass er dem SGB II vorgelagerte Sozialtransfers kennt. Das Kindergeld etwa. Das wird in den Berechnungen oft noch berücksichtigt. Aber zum Beispiel nicht der Unterhaltsvorschuss bei Alleinerziehenden oder der Kinderzuschlag. Die werden oft außen vorgelassen. Und vor allem wird in den Beispielrechnungen oft außen vorgelassen, dass ein Wohngeld-Plus-Gesetz in der Pipeline ist, das enorme Verbesserungen für Erwerbstätige bringt, für Rentner, für alle, die nicht gleich Hartz IV bekommen oder das kommende Bürgergeld", sagt der Experte. Berücksichtige man die Beträge aus dem SGB II, sehe das Ergebnis anders aus.

Weitere Hilfen durch Aufstockung und Erwerbsfreibetrag

Und selbst wenn diese sogenannten Sozialtransfers nicht ausreichen, können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weitere Hilfen beziehen. "Dann haben Erwerbstätige Anspruch auf aufstockende Leistungen wie ALG II oder künftig das Bürgergeld", sagt Steffen.

Dazu komme noch der Erwerbsfreibetrag, so Steffen. "Der ist anrechnungsfrei und sorgt dafür, dass Erwerbstätige immer mehr Geld haben als nicht Arbeitende. Bei Haushalten ohne Kind und einem Brutto-Mindesteinkommen von 1.200 Euro beträgt die Differenz zum Bürgergeld dann 348 Euro. Bei einem Haushalt mit Kind sind es 378 Euro."

Genaue Beispielrechnungen mit verschiedenen Szenarien hat Steffen auf dem Portal Sozialpolitik zusammengestellt.

Strom müssen auch Bürgergeld-Empfänger selbst zahlen

Die CSU schreibt, ein Bürgergeld-Empfänger habe null Euro Energiekosten. Das ist falsch. Strom muss aus dem zur Verfügung gestellten Regelsatz selbst finanziert werden.

Richtig ist dagegen: Die Kosten für Wohnen und angemessenen Verbrauch bei der Heizung werden vom Amt übernommen. Gerade das sorgt angesichts steigender Mieten sowie Gas- und Ölpreise für viel Unmut seitens der Arbeitnehmer.

Fazit: Der alleinige Vergleich von Bürgergeld mit dem Nettolohn einzelner Geringverdiener führt ins Leere. Finanzielle Ansprüche und Zusatzleistungen für Niedriglohnbezieher werden dabei nicht berücksichtigt. Nehmen geringverdienende Erwerbstätige alle Leistungen, die ihnen zustehen, in Anspruch, stehen sie am Monatsende besser da als Arbeitslose in der Grundsicherung.

Zuschüsse für untere LohngruppenSingle-Haushalten und Familien mit geringen Einkommen können verschiedene Zuwendungen erhalten. Zum Beispiel:

Wohngeld: Dessen Höhe hängt vom Netto-Einkommen des Haushalts, der Zahl der Haushaltsangehörigen und den Mietkosten ab. Der Betrag kann bei geringen Gehältern in einem Drei-Personen-Haushalt einer Alleinerziehenden durchaus mehrere Hundert Euro ausmachen. Ab Januar 2023 soll das Wohngeld nach Plänen der Ampel-Koalition erhöht und die Empfängergruppe um 1,4 Millionen Bürgerinnen und Bürger erweitert werden.

Kinderzuschlag: Über die Höhe dieser Zuwendung wird individuell entschieden je nach Einkommen, Wohnkosten, Größe der Familie und dem Alter der Kinder. Voraussetzung ist, dass eine Alleinerziehende oder ein Alleinerziehender ein Bruttoeinkommen von mindestens 600 Euro und Paare von mindestens 900 Euro haben. Beispiel: Eine Mutter mit zwei Kindern bekommt bei einem Bruttogehalt von bis zu 2100 Euro und einer Warmmiete von etwa 790 Euro bis zu 229 Euro monatlich pro Kind.

Unterhaltsvorschuss: Diese staatliche Leistung für Kinder von erwerbstätigen Alleinerziehenden wird gezahlt, wenn das andere Elternteil nicht regelmäßig oder in voller Höhe Unterhalt für seine Kinder beisteuert. Der Vorschuss beträgt (Stand: 1. Januar 2022) für Kinder zwischen 6 und 11 Jahren monatlich bis zu 236 Euro, bei älteren sogar bis zu 314 Euro.

Quelle: dpa

MDR, mit Material von dpa

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL RADIO | 05. November 2022 | 19:30 Uhr