PaulusviertelWie Nachbarn der Synagoge in Halle den Prozess zum Anschlag verfolgen
Am Dienstag hat der Prozess nach dem Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 begonnen. Fast 40 Nebenkläger sind zum Verfahren zugelassen. Doch das ist nur ein Bruchteil der Betroffenen. MDR SACHSEN-ANHALT hat mit Anwohnern der Synagoge über den Tag des Anschlags und den Prozessauftakt gesprochen.
Die Synagoge von Halle steht am Rand des Paulusviertel, einem der schönsten Teile der Stadt, beliebt bei jungen Familien. Gründerzeithäuser reihen sich hier aneinander. Es ist unbegreiflich, dass in dieser Umgebung am 9. Oktober 2019 um etwa diese Tageszeit zwei Menschen, Jana L. und Kevin S., erschossen wurden und noch viele mehr in Lebensgefahr waren. Dass hier ein antisemitisches, rassistisches Attentat verübt wurde. Dass ein schwer bewaffneter Mann die zum Feiertag Jom Kippur zusammen gekommenen Juden in der Synagoge angegriffen hat. Dass er zum größten Glück durch eine Tür aufgehalten wurde. Das alles im Paulusviertel.
Am Dienstag hat der Prozess zum Anschlag begonnen. Mitte Oktober, also ziemlich genau ein Jahr nach der Tat, soll das Urteil gesprochen werden. Was bedeutet der Prozessbeginn für die Nachbarschaft? Wie verfolgen sie die Verhandlung?
Die Tür zum Grundstück der Synagoge ist noch nicht ausgetauscht worden, die Einschusslöcher am Schloss sind deutlich zu erkennen. An der Tür lehnt ein schlichter Blumenstrauß, ein Schild daneben erklärt die verschärften Regeln für Synagogenbesuche. Ein Polizeiauto und ein weißer Wohncontainer mit der Aufschrift "Polizei" stehen zu beiden Seiten des Grundstücks.
Eine Nachbarin verloren
Nur wenige Häuser neben der Synagoge ist die Bäckerei Kolb. Sie ist gut besucht an diesem Donnerstagmittag. Am Tag des Anschlags sei die Bäckerei geschlossen gewesen, sagt Inhaber Holger Kolb. Er habe durch SMS von Bekannten vom Attentat erfahren. Holger Kolb hat Jana L. gekannt. Die Frau, die von hinten vor der Synagoge erschossen wurde. "Sie wohnte bei uns in der Nachbarschaft", sagt er. Vor der Tat habe er sie fast jeden Tag mehr als einmal vorbeigehen sehen.
Den Prozess verfolgt Holger Kolb eher nebenbei. "Wir hören eigentlich den ganzen Tag über Radio, sodass man doch ein bisschen was mitkriegt." Er hofft, dass beim Urteil die geltenden Gesetze voll angewandt werden – und der Richterspruch am Ende nicht durch mildernde Umstände abgeschwächt wird.
Besser gegen rechte Gewalt vorgehen
Schräg gegenüber der Bäckerei und auch in unmittelbarer Nähe zur Synagoge befindet sich das Café Polenka. An den gemütlichen Tischen im kleinen Vorgarten sitzen mehrere Menschen, die meisten kommen nicht aus der direkten Nachbarschaft. Bis auf die Studentin Antonia Fischer. Am 9. Oktober 2019 sei sie nur fünf Minuten vor dem Anschlag an der Synagoge mit dem Hund spazieren gewesen, erzählt sie. "Ich stand gerade in der Küche, als ich die Schüsse gehört habe." Sie spricht mit ruhiger, überlegter Stimme.
Den Prozess verfolge sie nicht im Detail, aber sie kenne grob die Schlagzeilen. "Ich vertraue auf unser Rechtssystem, dass ein gerechtes Urteil gesprochen wird", sagt Fischer. "Ich hoffe aber vor allem auf ein gewisses Umdenken. Dass man schon vorher besser gegen rechte Gewalt vorgeht." Man solle die Augen offenhalten.
Wo immer einem Diskriminierung oder Rassismus begegnet, sollte man Zivilcourage beweisen, um vorher einzuschreiten.
Antonia Fischer
Antonia Fischer ist zum Gedenkkonzert für die Betroffenen gegangen und hat auch bei der Lichterkette mitgemacht. "Es war schön zu sehen, dass es so einen Zusammenhalt und so eine Solidarität gab", sagt sie. Dass man nicht allein dastehe. "Ich glaube, vor allem für die jüdischen Mitmenschen war das auch nochmal gut zu sehen, dass wir alle hinter ihnen stehen."
Fischer schildert, dass sich die Stimmung in der Nachbarschaft nach dem Anschlag verändert hatte. "Es war anders, sich zu begegnen", sagt sie. Man kenne die Gesichter der Nachbarn. "Aber es waren dann viele fremde Leute hier – Reporter, Schaulustige, und so weiter. Da ist man sich schon mit einem Misstrauen begegnet. Zumindest für mich dachte ich dann: 'Wer ist eigentlich hinter dieser äußerlichen Fassade?'"
Als Kerzen und Blumen von Trauernden an der Synagoge niedergelegt wurden, sei sie jedes Mal mit einem schweren Kloß im Hals daran vorbeigelaufen, sagt Fischer. Direkt an der Synagoge vorbeizugehen, sei auch jetzt noch sehr schwer. "Aber sonst verdrängt man das glaube ich ein bisschen, um sich selbst zu schützen."
Bewusste Meidung der Nachrichten zur Tat
Lena Zipp arbeitet im Café Polenka – auch am 9. Oktober im vergangenen Jahr war sie da. Sie berichtet, dass sie die Schüsse gehört hat. Ein lauter Knall, sie hatte zuerst gedacht, es seien Bauarbeiten, es sei etwas heruntergefallen. "Er ist dann im Auto am Café vorbeigefahren", sagt sie. Kurz darauf habe jemand "Alle rein, hier schießt jemand" gerufen. Die Umgebung der Synagoge, auch das Café, sei geräumt worden, sie habe bis zum Abend in der Metzgerei Dietzel zwei Straßen weiter gewartet. Um 18 Uhr konnte sie endlich nach Hause. "Dann habe ich erstmal 24 Stunden geschlafen." Das Café Polenka blieb am Tag nach dem Anschlag geschlossen.
Verfolgt sie den Prozess? "Nein", sagt Zipp sofort. Sie meidet konsequent jede Berichterstattung über den Fall. "Ich werde wohl vom Urteil erfahren, weil mich jemand darauf ansprechen wird. Aber ich werde nicht selbst darüber lesen." Sie ist auch nicht zu Kundgebungen oder zum Gedenkkonzert gegangen. Der Tag selbst sei genug gewesen, erklärt sie. Zu viel.
In der Zeit nach dem 9. Oktober hätten fast alle Café-Besucher den Anschlag angesprochen. Mittlerweile habe das abgenommen, erzählt Lena Zipp. Wie oft denkt sie heute an die Tat zurück? Sie antwortet ohne ein Zögern. "Jeden Tag. Ich erinnere mich jeden Tag daran."
Nicht alle Anwohner möchten über den Tag oder den Prozess reden. Ein junger Vater sagt, das riesige, permanente Medienaufgebot nach dem Anschlag an der Synagoge habe ihn und seine Familie massiv beim Trauern gestört. Auch ein Kunde des Kiez-Döners sagt, er wolle lieber nicht darüber sprechen.
Hoffen auf ein Urteil, das andere abschreckt
Im Kiez-Döner sitzt Ismet Tekin vor der Gedenkwand für Kevin S. und Jana L., die der Imbiss bereits kurz nach dem 9. Oktober gestaltet hat. Tekin führt den Kiez-Döner seit dem Anschlag – der ehemalige Besitzer hat ihm den Laden geschenkt. "Wir machen jetzt weiter hier", sagt er. Und fügt hinzu: "Mal sehen, wie lange." Denn der Laden laufe nicht mehr so gut wie früher, vor dem Anschlag. Es kämen vor allem die Stammkunden.
Ismet Tekin tritt als Nebenkläger im Prozess auf. Wenn es nötig sei, wolle er auch aussagen, aber das habe er noch nicht endgültig entschieden. Er war bei den ersten beiden Verhandlungstagen dabei. Das seien zum Teil sehr schwere Momente gewesen. Tekin hofft, dass der Angeklagte hart bestraft wird. "Lebenslänglich", sagt er – damit das Urteil mögliche Nachahmungstäter abschreckt.
Über die AutorinMaria Hendrischke arbeitet seit Mai 2017 als Online-Redakteurin für MDR SACHSEN-ANHALT – in Halle und in Magdeburg. Ihre Schwerpunkte sind Nachrichten aus dem Süden Sachsen-Anhalts, Politik sowie Erklärstücke und Datenprojekte. Ihre erste Station in Sachsen-Anhalt war Magdeburg, wo sie ihren Journalistik-Bachelor machte. Darauf folgten Auslandssemester in Auckland und Lissabon sowie ein Masterstudium der Kommunikationsforschung mit Schwerpunkt Politik in Erfurt und Austin, Texas. Nach einem Volontariat in einer Online-Redaktion in Berlin ging es schließlich zurück nach Sachsen-Anhalt, dieses Mal aber in die Landeshauptstadt der Herzen – nach Halle. Ihr Lieblingsort in Sachsen-Anhalt sind die Klausberge an der Saale. Aber der Harz ist auch ein Traum, findet sie.
Quelle: MDR/mh
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