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Die evangelische Landeskirche Sachsen hat im Umgang mit sexuellem Missbrauch in den eigenen Reihen noch viel Arbeit vor sich - hat eine Aufarbeitungskommission festgestellt. (Symbolbild) Bildrechte: imago images/Christian Ohde

ExpertenberichtSachsens Landeskirche hat Defizite im Umgang mit sexualisierter Gewalt

28. Juni 2023, 13:57 Uhr

Nicht nur die katholische, sondern auch die evangelische Kirche ist mit Fällen sexualisierter Gewalt konfrontiert, die von Mitarbeitern verübt wurden. Im Auftrag der Landeskirche Sachsen hat eine Expertenkommission Vorfälle in Pobershau aufgearbeitet. Deren Abschlussbericht reicht über den Missbrauch mehrerer Mädchen in der Erzgebirgsgemeinde hinaus - er sieht Handlungsbedarf in der gesamten Landeskirche.

Die Strukturen in der Evangelischen Landeskirche Sachsens in den 1990-er Jahren haben sexualisierte Gewalttaten begünstigt. Das geht aus dem Abschlussbericht einer unabhängigen Expertenkommission hervor, die sexuelle Missbrauchsfälle in der Kirchgemeinde Pobershau im Erzgebirge aufgearbeitet hat. In dem 125-seitigen Bericht werden der Landeskirche auch starke Defizite beim Umgang mit den damaligen Fällen attestiert. Der Kommission gehören vier Mitglieder an: die Sozialpädagogin Christiane Hentschker-Bringt, die Traumatherapeutin Julia Schellong, der Psychotherapeut Gregor Mennicken und der Rechtsanwalt Jörn Zimmermann. Bei ihrer Berufung durch die Landeskirche hatten auch die Betroffenen ein Mitspracherecht.

Keine Prävention, keine Verantwortlichkeiten, kein Ohr für die Opfer

Psychotherapeut Gregor Mennicken sagte bei der öffentlichen Vorstellung des Berichts am Dienstagabend, zum Zeitpunkt der Taten 1997 bis 1999 hätten weder zum Schutz vor sexualisierter Gewalt noch zum Umgang mit solchen Taten irgendwelche Strukturen in der Landeskirche existiert. Auch 20 Jahre später, als die Missbrauchsfälle in Pobershau Ende 2018 öffentlich bekannt wurden, habe es sie noch nicht oder zumindest nur unzureichend gegeben. Der Kirchenvorstand in der Erzgebirgsgemeinde habe sich damals alleingelassen und mit der Situation überfordert gefühlt. Angehörige der Opfer berichteten, die Taten seien teilweise bagatellisiert oder als normal dargestellt worden.

Rund 100 Menschen waren zur öffentlichen Vorstellung des Abschlussberichtes in Pobershau gekommen und konnten im Anschluss Fragen an die Experten und Kirchenvertreter stellen. Bildrechte: picture alliance/dpa | Jan Woitas

In diesem Zuge bat der Pobershauer Kirchenvorstand bei der Vorstellung des Berichts die Betroffenen nochmals um Entschuldigung, auch für die fehlende Kommunikation mit ihnen selbst. Er sei sich seiner Verantwortung zur weiteren Aufarbeitung und zum künftigen Verhindern solcher Taten bewusst.

Wir verstehen den Abschlussbericht nicht als Endpunkt der Aufarbeitung. […] Dieses Thema wird Teil unserer Gemeinde, aber auch der ganzen Kirche bleiben.

Lutz Reichel | Mitglied des Kirchenvorstandes in Pobershau

Straftatbestand gilt für Kommission als erwiesen

Der Rechtsanwalt Jörn Zimmermann, ebenfalls Mitglied der vierköpfigen Aufarbeitungskommission erklärte, dass bei den untersuchten Fällen klar der Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern erfüllt sei. Gesichert ist demnach, dass mindestens drei Mädchen mehrfach den Übergriffen des beschuldigten Kirchenmusikers ausgesetzt waren. Zudem gebe es Hinweise auf ein oder zwei weitere direkt betroffene Mädchen zwischen 1997 und 1999. Alle seien damals zwischen zehn und 15 Jahren alt gewesen. Ein weiteres Mädchen habe etwa acht Jahre später einen Übergriff erlebt, eine andere Frau als junge Erwachsene.

Taten verjährt

Nach mehreren Anzeigen 2019 hatte die Staatsanwaltschaft zu den damals bekannten Fällen eingeleitet. Der mutmaßliche Täter hatte damals auch eine Selbstanzeige gestellt. Das Verfahren gegen den Mann wurde aber 2020 eingestellt. Die Aufarbeitungskommission betonte, dass dies nicht aus Mangel an Beweisen geschehen sei, sondern wegen der Verjährung seiner Taten. Kurz nach der Verfahrenseinstellung kündigte die Landeskirche die Einberufung der Kommission an, Anfang 2022 hatten die Mitglieder die Arbeit aufgenommen.

Der beschuldigte Mann war ehrenamtlicher Kirchenmusiker in der Gemeinde Pobershau. Bildrechte: picture alliance/dpa | Jan Woitas

Klare Handlungsempfehlungen an Kirchenspitze

Die Aufarbeitungskommission attestierte der sächsischen Landeskirche, dass seit der Aufdeckung der Vorfälle in Pobershau viel in Bewegung gekommen sei. Es gebe aber immer noch strukturelle Defizite. Das sei der Grund für mehrere klare Empfehlungen in dem Abschlussbericht.

Dazu gehöre, dass die Landeskirche selbst alle bekannten Fälle sexueller Gewalt erfasst und veröffentlicht sowie bei weiteren Fällen aktiv öffentlich informiert. Außerdem müsse das Thema Inhalt aller kirchlichen Ausbildungen sein und in den Kirchgemeinden besprochen werden. Für noch nicht bekannte und künftige Opfer fordert die Kommission unabhängige Ansprechpartner und schnelle Hilfe. Nicht zuletzt dürften bei Missbrauchsfällen die Personalverantwortung für die Beschuldigten und Verantwortung für Ermittlung und Aufarbeitung keinesfalls in derselben Hand liegen.

Landesbischof Tobias Bilz sicherte zu, dass die Kirche sich ihrer Verantwortung stellen werde.

Auch Landesbischof Tobias Bilz meldete sich bei der Vorstellung des Abschlussberichts einer Aufarbeitungskommission zu sexuellem Missbrauch in der Kirche zu Wort. Bildrechte: picture alliance/dpa | Jan Woitas

Ich setze mich persönlich dafür ein, dass die Landeskirche sich den drei Bereichen Prävention, Intervention und Aufarbeitung intensiv widmet und diese stärkt.

Tobias Bilz | Landesbischof Sachsen

MDR (stt)/dpa/epd/kna

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 28. Juni 2023 | 19:00 Uhr