Ukraine und die EUKiewer Politologe: "Die Ukraine hat den EU-Kandidatenstatus verdient"
Beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag wird die Ukraine vermutlich den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhalten. Die Ukrainer betrachten die EU heute viel realistischer als während der Maidan-Revolution 2014. Dennoch macht nicht zuletzt der russische Angriffskrieg klar, dass die EU der einzig mögliche Entwicklungsweg für das Land ist.
Es war ein historischer Moment, als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 28. Februar den Antrag seines Landes auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union unterzeichnete. Zwar war noch nicht abzusehen, wie sich die militärische Lage bei der russischen Großinvasion entwickeln würde, klar war aber bereits, dass der Blitzkrieg Wladimir Putins grundlegend gescheitert ist. Obwohl 87 Prozent der Ukrainer laut der neuesten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Rating Group eine EU-Mitgliedschaft unterstützt, dürfte es für die allermeisten Menschen kein Geheimnis sein, dass der Weg der Ukraine in die EU vergleichsweise lang sein wird. Dennoch wird die Ukraine wohl schon beim EU-Gipfel am 23. und 24. Juni den ersten Meilenstein erreichen und zusammen mit Moldau den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten erhalten.
Kiewer Politologe: "Die Ukraine hat den EU-Kandidatenstatus verdient"
"In Bezug auf die EU-Mitgliedschaft liegt ein langer Weg vor uns. Es gibt noch viele Fragen, etwa in den Bereichen Justiz und Korruptionsbekämpfung", sagt der Politologe Oleksij Haran, Professor an der Kiew-Mohyla-Akademie, dem MDR. "Seit der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens 2014 haben wir jedoch einen Riesenschritt nach vorn gemacht, es liegen Universen zwischen damals und heute. Die Entscheidung für den Kandidatenstatus wäre kein Vorschuss für Kiew, sondern absolut verdient. Sie bedeutet aber noch lange nicht den Beitritt an sich." Durch das Assoziierungsabkommen und die damit verbundene Visafreiheit und die Freihandelszone erhielt die Ukraine vor acht Jahren zunächst die Perspektive der wirtschaftlichen und politischen Integration. Der Kandidatenstatus würde das Land aber nicht nur die Perspektive eines Beitritts in der Zukunft erhalten, sondern die Ukraine auch durch die Option weiterer finanzieller Hilfen beim Wiederaufbau nach dem Krieg massiv unterstützen.
"Der Kandidatenstatus hätte aber selbstverständlich auch symbolischen Charakter", betont Haran weiter. "Zum einen ist das ein deutliches Zeichen an Putin mitten in seinem Angriffskrieg, dass die Ukraine alles andere als alleine dasteht. Zum anderen sind in keinem anderen Land Menschen mit der EU-Fahne in der Hand gestorben, wie es während der Maidan-Revolution 2014 der Fall war. Die Bedeutung der EU für die Ukraine ist also kaum zu überschätzen." Laut dem Politologen würden die Ukrainer die EU zwar viel realistischer als vor neun Jahren einschätzen – nicht zuletzt, weil sie die 2014 infolge der Krim-Annexion und im Zuge des Krieges im Donbass gegen Russland verhängten Sanktionen bei weitem nicht ausreichend fanden. "Es ist aber nun klar, dass eine Annäherung an die EU und gute Beziehungen mit Russland nicht gleichzeitig existieren können. Die Ukrainer haben ihre Wahl getroffen."
"Die Ukrainer haben sich schon 2013 entschieden"
Tatsächlich spiegelt diese Einstellung die Grundstimmung in der ukrainischen Gesellschaft gut wieder. "Der Kandidatenstatus ist sehr wichtig", meint etwa der Kiewer Maksym Krawez. Er ist Mitte 30 und arbeitet in einer Agentur für Sportwetten. "Eigentlich hat das ukrainische Volk seine Entscheidung schon Ende 2013 getroffen, und auf eine gewisse Art muss diese Entscheidung nun gegen die russischen Besatzer verteidigt werden. Den eigenen Weg alleine zu gehen ist keine Option mehr, die Annäherung an die EU ist alternativlos." Die Soziologin Hanna Hryzenko sieht den Kandidatenstatus für die Ukraine wie Haran nicht als Vorschuss, sondern sogar als eine Art Wiedergutmachung historischer Schuld, die einige EU-Staaten belastet: "Die europäische Zivilisation hat auch selbst eine koloniale Vergangenheit und eigene Geschichte des Völkermords. Daher ist unser Kandidatenstatus eben das Minimum, denn weniger als das dürfen sie uns nicht geben, wenn sie sich auf ihre eigenen Werte beziehen."
Der junge Kellner Kirill Bykow, der aus dem besetzten Donezk stammt, hält die Waffenlieferungen an die Ukraine aktuell für wichtiger als einen Kandidatenstatus für einen EU-Beitritt. "Für uns geht es vor allem darum, an der Front zu überleben", meint er. "Ich begrüße aber, wenn dieser Entschluss gefasst wird. Denn dann wissen wir endlich, was wir tun müssen, um in der Zukunft zur EU zu gehören." Dass es selbst nach Kriegsende lange Jahre dauern könnte, bis der EU-Beitritt Wirklichkeit wird, ist den Ukrainern bewusst. "Wir sehen aber jetzt, wie schnell die ukrainischen Streitkräfte bei den Waffen NATO-Standards adaptieren. Der Krieg hat diesen Prozess natürlich stark beschleunigt", sagt der Programmierer Dmytro Mostowljuk. "Ich würde davon ausgehen, dass auch der Beitritt viel schneller kommen könnte, falls der klare Wille bei der EU da ist."
Was nach dem Kandidatenstatus kommt
Vorerst hängt der ukrainische EU-Beitritt vom Ende des russischen Angriffskrieges ab. Es ist kaum vorstellbar, dass die EU die Ukraine aufnimmt, während aktive Kampfhandlungen gegen die russischen Besatzer andauern. Außerdem existieren laut ukrainischen Medien seitens der EU klare Bedingungen, die Kiew erfüllen muss, bevor es zu Beitrittsverhandlungen kommt. Denn die Verleihung des Kandidatenstatus bedeutet nicht automatisch, dass Beitrittsverhandlungen auch sofort beginnen. Vor allem warten weitere Aufgaben auf die Ukraine. Etwa die Schaffung einer klaren Prozedur für die Wahl der Richter des Verfassungsgerichts, die Verschärfung der Korruptionsbekämpfung oder ein Abschluss der Gesetzesreform zum Schutz der nationalen Minderheiten. "Das sind alles komplizierte Fragen. Und vieles hängt sicher vom Kriegsende ab", sagt der Politologe Oleksij Haran dazu. "Aber ich glaube nicht, dass der EU-Beitritt der Ukraine Jahrzehnte dauern wird. Wir sind in der Lage, dieses Ziel früher zu erreichen."
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | 23. Juni 2022 | 19:30 Uhr