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Die Leipzigerin Katja Wende fand erste Hilfe durch das Projekt "Innovatives Netzwerk Wohnen mit Behinderung". Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Barrierefreie Wohnung gesucht97 Stufen ein Kraftakt: Wie Katja Wende mit MS lebt

11. November 2022, 04:00 Uhr

Arbeit ist wichtig für ein selbstständiges Leben genauso wie eine Wohnung. Wenn die barrierefrei sein muss, dann wird es schwierig. Denn es gibt zu wenige: In Deutschland erfüllen nur zwei Prozent des Angebots dieses Kriterium. Doch was heißt überhaupt barrierefrei? Welche Weichen stellt beispielsweise die sächsische Bauordnung? Und wo bekommen Menschen mit Behinderung Hilfe? Der Fall der Leipzigerin Katja Wende zeigt, dass Inklusion auch in diesem Bereich mühsam zu erreichen ist. Doch im "Innovativen Netzwerk Wohnen mit Behinderung" hat sie eine erste Hilfe gefunden.

von Ulrike Reiß, MDR Selbstbestimmt

Katja Wende wohnt im fünften Stock eines Mietshauses in Leipzig. Jeder Gang nach draußen ist ein Kraftakt. 97 Stufen muss sie runter und wieder hoch, einen Fahrstuhl gibt es nicht. Die 42jährige lebt mit Multipler Sklerose. Aufgrund der Erkankung spielt ihr linkes Bein nicht mehr mit, besonders beim Treppensteigen: "Das linke Bein verdrehe ich, weil das für mich einfacher ist. Und ich brauche das Geländer, um die Treppen hoch und runter zu kommen. Durch das Verdrehen bekomme ich Probleme im Knie, auf Dauer wirkt sich das aus auf mein ganzes Knochengerüst."

Mit MS in den fünften Stock

97 Stufen sind es für Katja Wende bis in den fünften Stock. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

In diesem Jahr erkrankte Katja Wende zusätzlich an Brustkrebs. Die Multiple Sklerose schreitet voran. Noch kann sie sich mit Hilfe einer Orthese selbstständig bewegen. Aber sie weiß, irgendwann wird sie im Rollstuhl sitzen. Schon jetzt sind die Schwellen in ihrer Wohnung für sie eine Gefahr: "Das kann man sich als jemand, der instinktiv läuft, gar nicht vorstellen: Ich muss teilweise über jeden Schritt nachdenken. 'Mit welchem Bein beginne ich jetzt?' Das ist ganz eigenartig. Ich gucke dann, ob ich irgendwo Halt finde. Den einen Tag geht's, am nächsten Tag kann es wieder anders sein. Mein Körper macht nicht so mit, wie ich das gerne hätte."

Enormer Bedarf an barrierefreien Wohnungen für behinderte und alte Menschen

Auch mit Orthese fällt Katja Wende das Treppensteigen aufgrund ihrer MS-Erkrankung schwer. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Die Bürokauffrau braucht in absehbarer Zeit eine barrierefreie, rollstuhlgerechte Wohnung. Die Suche ist frustrierend. Wenn sie bei ihrer Internet-Recherche ihre Wünsche und Preis-Grenzen eingibt, gibt es zwar einige Treffer. Sobald sie aber die Option barrierefrei anklickt, bleibt keine einzige Wohnung mehr übrig. Und für eine Sozialwohnung verdient die Berufstätige zu viel. Zugleich ist ungewiss, wie lange sie noch so arbeiten kann. Die Situation belastet sie sehr: "Und dann wird es einem noch schwerer gemacht, obwohl es so nicht sein sollte. Ich finde, dass zu wenig gemacht wird für Menschen wie mich. Wir reden von Gleichstellung, von Gleichberechtigung. Die kann ich aber nur haben, wenn ich ein Leben führen kann, wie alle anderen auch. Und das kann ich nicht."

Der Bedarf an barrierefreiem Wohnraum ist groß – nicht nur in Leipzig. Und er steigt stetig: Denn auch ältere Menschen suchen behindertengerechte Wohnungen.

Mobiler Behindertendienst Leipzig kritisiert sächsische Bauordnung

Deshalb hat der Gesetzgeber für alle Neubauten Vorgaben gemacht. Laut sächsischer Bauordnung müssen in Häusern mit mehr als zwei Wohnungen die Wohnungen eines Geschosses barrierefrei sein. Das allein aber reicht bei weitem nicht, wie Janek Lassau vom Mobilen Behindertendienst Leipzig betont. Denn diese Vorgabe sei "nicht daran gekoppelt, dass der geschaffene, barrierefreie Wohnraum auch kostengünstig sein muss und bezahlbar. An die sächsische Bauordnung müsse man sich bei Neubauten halten: "Allerdings ist es so, dass die Umsetzung nicht standardmäßig kontrolliert wird. Der Architekt, der unterschreibt dann und versichert: 'Ja, ich hab' mich an alles gehalten.' Ja und wenn nicht? Was ist die Folge? Da nicht standardmäßig kontrolliert wird, haben wir da immer wieder schwarze Schafe."

"Innovatives Netzwerk Wohnen mit Behinderung" als Vermittler: Was heißt barrierefrei?

Die Wohnberatung der Stadt Leipzig in der Prager Straße ist Netzwerkpartner und zentrale Anlaufstelle für Menschen mit Behinderung. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Janek Lassau hat das Projekt "Innovatives Netzwerk Wohnen mit Behinderung" ins Leben gerufen. Dort holen er und sein Team alle Akteure an einen Tisch; die Wohnungsbauer, soziale Träger, die Stadt und natürlich die Betroffenen. Das Ziel: Es muss mehr passender Wohnraum entstehen und barrierefreie Wohnungen müssen an die vermittelt werden, die sie dringend brauchen. Was barrierefrei bedeutet, ist allerdings von Fall zu Fall verschieden, wie Janek Lassau so deutlich macht: "Ein Rollstuhlfahrer, der braucht eine Wohnung mit breiteren Türen, eine ebenerdige Dusche, insgesamt mehr Platz, weil er rangieren muss. Ein Autist hat ganz andere Bedarfe. Der braucht eher eine Wohnung in einer ruhigen Lage mit wenigen Reizen von außen, eine gute Dämmung beispielsweise, eine Möglichkeit, die Räumlichkeiten auch zu verdunkeln." Um die passgenaue Suche zu erleichtern, ist laut Janek Lassau ein Portal geplant, um eine barrierefreie Wohnung für die eigenen Bedürfnisse zu finden.

Barrierefrei ist eben nicht gleich barrierefrei und dafür müssen wir sensibilisieren.

Janek Lassau | Innovatives Netzwerk Wohnen mit Behinderung

Von der Ausnahme zum Standard?

Null Angebot für bezahlbaren barrierefreien Wohnraum, ein Suchergebnis, das Katja Wende meist bekommt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Katja Wende sucht weiter eine Lösung, nun mit Unterstützung der Wohnberatung der Stadt Leipzig, einem der Netzwerkpartner des Projekts "Innovatives Netzwerk Wohnen mit Behinderung". In der zentralen Anlaufstelle in der Prager Straße erfährt sie ganz konkret, welche Möglichkeiten es gibt, den Wohnraum für die eigenen Bedürfnisse umzubauen. Die Beraterinnen und Berater vor Ort helfen bei den Formalitäten, dafür finanzielle Förderung zu beantragen.

Katja Wende sieht mit dieser Unterstützung mehr Chancen, eine Lösung für ihr Wohnungsproblem zu finden und auch mitzuentscheiden, wo sie wohnen möchte: "Ich möchte die Wahl haben auch als behinderter Mensch." Wohnen gilt als ein Menschenrecht. Katja Wende kann nicht verstehen, dass Barrierefreiheit beim Wohnungsbau noch immer die Ausnahme ist und nicht längst der Standard.

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt | 13. November 2022 | 08:00 Uhr

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