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InaktivitätsforschungWer länger sitzt, ist früher tot! Raus aus der Sitzfalle

14. Januar 2022, 14:16 Uhr

Wir alle tun es: morgens am Frühstückstisch, auf dem Weg zur Arbeit im Bus oder im Auto, am Schreibtisch, im Büro und abends vor dem Fernseher auf der Couch. Wir sitzen. Und zwar viel zu viel, sagen Forschende. Denn unser Körper leidet unter der immer gleichen Haltung und der fehlenden Bewegung. Aber warum genau macht Dauer-Sitzen uns krank, verkürzt sogar unsere Lebenserwartung – und wie kommen wir aus der "Sitzfalle" am besten wieder raus?

von Daniela Schmidt und Thomas Jähn

Achteinhalb Stunden sitzt ein erwachsener Mensch in Deutschland im Durchschnitt – jeden Tag. Das ist das Ergebnis des DKV-Reports 2021. Damit sitzen wir heute eine Stunde länger als noch 2018. Das mag auch der Corona-Pandemie geschuldet sein: Maßnahmen wie Homeoffice oder die Beschränkung von Kontakt- und Freizeitmöglichkeiten führen tendenziell zu eher weniger als mehr Bewegung. Doch auch schon vor der Pandemie war unser Sitz-Pensum viel zu hoch, bestätigt Ingo Froböse. Er beschäftigt sich an der Deutschen Sporthochschule Köln mit bewegungsorientierter Prävention und Rehabilitation, kurz: Gesundheit durch Bewegung, und hat an dem DKV-Report mitgearbeitet.

Wir wissen, dass der Bewegungsmangel und die körperliche Inaktivität in Europa schon 1,5 Millionen Tote jedes Jahr nach sich ziehen. Weltweit sind es vier bis fünf Millionen, die jährlich an den Folgen der Inaktivität sterben.

Prof. Dr. Ingo Froböse, Sportmediziner an der Deutschen Sporthochschule Köln

Dauersitzen schadet Körper und Psyche

Die Liste, welche negativen Folgen zu viel Sitzen haben kann, ist lang: Der Bewegungsapparat leidet, die Haltung wird schlechter. Das Risiko für Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und sogar Krebs steigt. "Der Stoffwechsel verändert sich durch das Dauersitzen", erklärt Froböse. "Viele Menschen bekommen dadurch Diabetes oder eine Fettstoffwechselstörung, weil auch die Muskulatur schwindet." Und weil Muskeln so etwas wie die Stoffwechsel-Kraftwerke unseres Körpers seien, komme es in der Folge zur Minderversorgung an allen möglichen Fronten: Zellen, Gelenke und Organe.

"Für mich ist Sitzen das zweite Rauchen", sagt Sportmediziner Ingo Froböse. "Oder vielleicht sogar schlimmer." Bildrechte: MDR/Sebastian Bahr

Und nicht nur rein physiologisch komme es zu Schäden: "Letztendlich können auch psychische Probleme daraus resultieren, weil Körperlichkeit und geistige Beanspruchung nicht mehr zueinander passen. Wir sind kognitiv hoch beansprucht, aber der Körper kann hier keine Gegenfunktion mehr bieten. Deswegen resultiert daraus erhöhter Stress – und letztlich psychische Verstimmungen."

"Wir sind Gewohnheitstiere, die keine Sitzgelegenheit auslassen"

Ein Grund für diese negativen Auswirkungen des Vielsitzens ist vermutlich, dass unser Körper evolutionär für einen aktiveren Lebensstil gemacht ist. Während unsere Vorfahren früher auf die Jagd gingen, Nahrung sammelten oder die Felder bestellten und damit automatisch mehrere Stunden am Tag in Bewegung waren, ist der Alltag vieler Menschen heute von Bürostuhl, Autositz und Couch geprägt. Beim Dauersitzen und seinen Folgen haben wir es also gewissermaßen mit einem kulturellen Phänomen zu tun, sagt Carmen Jochem. Die Medizinerin beschäftigt sich an der Universität Regensburg mit Lebensstilfaktoren und Prävention im Hinblick auf chronische Erkrankungen – und hat ein ganzes Buch über das Sitzen und seine Auswirkungen mitverfasst. Sie sagt: Wir werden zum Sitzen erzogen.

Spätestens in der Schule lernt jedes Kind das Sitzen. Es ist nicht das Schulwesen, sondern ein Stuhlwesen, das uns zu sitzenden Wesen macht.

Dr. Carmen Jochem, Präventivmedizinerin an der Universität Regensburg

Diese Prägung lasse uns ein Leben lang nicht mehr los, so Jochem: "Und je länger wir über die Jahre in der Schule sitzen, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir danach in einem höher qualifizierten Job landen, der uns ebenfalls wieder viel sitzen lässt." Sitzen wird also erlernt und ist ein kultureller Standard, dem wir als Mensch auch entsprechen müssen.

Sitzzeiten unterscheiden sich von Land zu Land

Dass die Frage, wie viel wir sitzen, eine kulturelle ist, zeigt sich beim Blick auf andere Länder und Regionen. Schon innerhalb Europas gebe es Unterschiede, sagt Carmen Jochem: "In Nord- und Mitteleuropa sitzen die Menschen deutlich länger als zum Beispiel in südeuropäischen Ländern. Allerdings ist bis heute noch nicht ganz klar, woran das liegt: Ob das etwa auf klimatischen Einflüssen oder anderen Freizeitmöglichkeiten beruht oder auf ganz anderen Ursachen."

Aus dem einst quicklebendigen Homo sapiens ist längst ein träger Homo sedens geworden, stellt Präventivmedizinerin Carmen Jochem fest. Bildrechte: MDR/Carmen Jochem/Fotostudio Büttner

Jochem hat zudem eine weitere Beobachtung gemacht: Die Kultur des Dauersitzens breite sich um den Globus herum immer weiter aus. "In Kenia und Äthiopien haben Menschen, die besser situiert sind, ein Sofa als Prestige-Objekt. Und auf diesem Sofa zu sitzen und Gäste zum Platznehmen auf dem Sofa einzuladen, bedeutet dort ein ganz starkes soziales Prestige – und eben ein nicht unbedingt förderliches Gesundheitsverhalten."

Unsere Umgebung verführt uns zum Sitzen

Zugleich macht Carmen Jochem klar: "Es geht nicht darum, gar nicht mehr zu sitzen – sondern eben nur noch in einem gesunden Maße. Denn in kleinen Dosen kann Sitzen natürlich eine Erholung sein für Körper und Geist." Vielmehr gehe es darum, dass stundenlange Dauersitzen aufzubrechen. Dazu brauche es aber auch veränderte Strukturen in unserer Alltagswelt, beispielsweise höhenverstellbare Schreibtische, die ein Arbeiten im Stehen ermöglichen. "Außerdem könnten zum Beispiel vermehrt Meetings im Gehen oder Stehen stattfinden, statt der herkömmlichen Besprechungs-sitz-ungen, wie es ja auch so schön heißt."

Wir haben den Menschen die Bewegung weggenommen, indem wir alles automatisieren und möglichst angenehm einrichten. Da kommt die Bewegung gar nicht vor.

Prof. Dr. Ingo Froböse, Sportmediziner an der Deutschen Sporthochschule Köln

Auch der Sportmediziner Ingo Froböse plädiert für veränderte Umgebungen: "Der chromblitzende Fahrstuhl zum Beispiel ist immer wunderbar mitten im Haus, das Treppenhaus hingegen muffig, stinkig, vielleicht sogar verschlossen hinter einer Notfalltür." Das komme unserem inneren Energiesparmodus entgegen, den wir Menschen evolutionär bedingt in uns tragen: Wir seien von Natur aus nicht gewillt, uns mehr als nötig zu bewegen. "Deshalb muss es etwas anders stattfinden. Die Bewegung muss wieder zurück zu den Menschen. Dazu müssen wir aufgefordert werden, ohne dass wir viel darüber nachdenken müssen."

Stündlich drei bis fünf Minuten "Nicht-Sitz-Pause"

Doch heißt das nun, dass wir unserem Sitz-Schicksal einfach ausgeliefert sind, weil der Arbeitsplatz eben nur über den Bürostuhl funktioniert und wir uns beim Autofahren nun mal hinsetzen müssen?

Bei aller Dringlichkeit, unsere Umwelt mit mehr Bewegungsanreizen auszustatten – das heißt nicht, dass der Einzelne sich hier einfach aus der Verantwortung für die eigene Gesundheit stehlen kann, meint Ingo Froböse und bietet konkrete Tipps, wie wir unseren Dauersitz-Zustand aufbrechen können: "Idealerweise würde ich mir wünschen, dass wir stündliche Unterbrechungen der Inaktivitätszeit haben. Also jede Stunde eine kleine körperliche Aktivität, drei bis fünf Minuten. Zum Beispiel Aufstehen und Herumgehen beim Telefonieren. Mal im Treppenhaus drei oder vier Etagen hochgehen mit relativ hoher Intensität – das pusht den Stoffwechsel hoch, die Durchblutung, die Atem- und Herzfrequenz. Ein paar Kniebeugen oder den Rumpf nach rechts und links drehen, recken und strecken. Wenn man das regelmäßig macht, dann schafft man ganz, ganz viel nebenbei."

Sport nach Feierabend ist kein Ausgleich

Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt für erwachsene Menschen 150 bis 300 Minuten moderate Bewegung pro Woche oder wahlweise 75 bis 150 Minuten intensive Bewegung mit höherer Belastung, um chronischen Erkrankungen und Verschleiß vorzubeugen. Aber reicht es dann als Gegenmaßnahme nicht, die vielen Stunden des Sitzens durch ein paar Jogging-Runden nach Feierabend auszugleichen?

"Ja, das haben wir ja immer auch gedacht", gibt Sportwissenschaftler Ingo Froböse zu. "Das Problem ist: Wenn man acht bis zehn Stunden sitzt und dann am Abend mal eine Stunde joggt, dann sind viele Faktoren im Körper schon nachhaltig verändert." Deshalb sei es wirkungsvoller, die Sitzzeiten selbst regelmäßig zu unterbrechen.

20 Jahre ohne Stuhl: Der Augsburger Arzt Martin Oswald erzählt im Podcast "Meine Challenge" von seinen Erfahrungen. Bildrechte: MDR/Thomas Hillenbrand

Das belegt auch eine im "American Journal of Epidemiology" publizierte Studie, bei der die Forschenden 120.000 erwachsene US-Amerikaner über mehrere Jahre beobachtet hatten: Männer, die täglich sechs oder mehr Stunden sitzen, hatten demnach eine um 20 Prozent höhere Sterberate als jene, die maximal drei Stunden pro Tag sitzen; bei Frauen war die Sterblichkeitsrate sogar um 40 Prozent erhöht. Und: In beiden Geschlechtergruppen spielte es keine Rolle, ob die Dauersitzer nach Feierabend oder am Wochenende noch Sport trieben.

"Wir müssen unser Gehirn überlisten"

Als Ausweg aus der "Sitzfalle" bleibt also nur das Einstreuen regelmäßiger kleiner Bewegungseinheiten über den Tag hinweg. Um diese Pausen nachhaltig in den Alltag zu integrieren, brauche es aber auch ein wenig Geduld, sagt Ingo Froböse:

Wir müssen uns und unser Gehirn überlisten. Wir brauchen etwa 60 bis 70 Mal Konfrontation mit einer neuen Sache, bis wir sie überhaupt verinnerlicht und ritualisiert haben.

Prof. Dr. Ingo Froböse, Sportmediziner an der Deutschen Sporthochschule Köln

Die Belohnung dafür sei nicht nur ein gesünderes und längeres Leben, sondern erste positive Effekte ließen sich schon währenddessen feststellen: "Wenn wir nur eine kleine Bewegungseinheit machen, erhöht sich die Durchblutung im Gehirn um 20 bis 30 Prozent. Das führt wiederum zu mehr Sauerstoff und mehr Vitalstoffen im Gehirn. Und genau das macht Sie frischer, wacher und aufmerksamer."

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