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Das Altpapier am 21. Oktober 2019Schneller als die Polizei

21. Oktober 2019, 13:37 Uhr

Die deutschen Innenminister reagieren mit zehn Forderungen auf den Terroranschlag von Halle. Beim konkreten Ermitteln war das ZDF schneller als deutsche Sicherheitsdienste. Die Journalismus-Lichtgestalt Juan Moreno bleibt auch beim Rückvermündlichen seines Bestseller-Buchs ein Vorbild. Außerdem: höchste Zeit, sogenannte Smart Speaker anders zu nennen. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Horst Seehofer geht immer, als Reizfigur in sämtliche Richtungen, als Aufmacher und Hingucker (vielleicht auch, schon weil er zu den sehr wenigen Politikern zählt, die auf jegliche juvenile Attitüde verzichten). Das zeigte sich vorige Woche nicht nur einmal in dieser Kolumne. Nach dem rechtsextremistischen Terror-Anschlag in Halle und den sehr zahlreichen Politiker-Wortmeldungen (den vielleicht allergrößten Überblick gab netzpolitik.org unter einem Seehofer-Foto ...) trafen sich der Bundes- und die Länder-Innenminister am Freitag in Berlin und verabschiedeten eine sage und schreibe sechsseitige PDF-Erklärung mit zehn jeweils durch ein Ausrufezeichen verstärkten Forderungen zwischen "1. Netzwerke und potentielle Täter erkennen!" und "10. Kein Extremismus im öffentlichen Dienst!". Eine Zusammenfassung der tatsächlich neuen Punkte (die sich vor allem unter "6. Zügige Rechtsänderungen!" finden) gibt heise.de. Hilft das?

Der AutorChristian Bartels

Nein, meint netzpolitik.orgs Markus Beckedahl: "Bei keiner Erklärungen in der deutschen Sicherheitspolitik darf offenkundig fehlen, dass man noch mehr Daten austauschen möchte". Zwischen Forderungen nach Staatstrojanern und nach der "Identifikationspflicht für Nutzende von Plattformen" gäbe es eine Menge déjà-vu-s mit älteren Innenpolitiker-Ideen. Wie das "Gesetz zur Harmonisierung des Verfassungsschutzrechtes", dessen erster Entwurf im März (wiederum netzpolitik.org) vorlag, dann in den Groko-Wahlkampf zwischen Seehofer und der damaligen Bundesjustizministerin Barley von der SPD geriet, beschreibt auch die FAS unter der Überschrift "Kampf gegen digitale Rechtsextremisten" (55 Cent bei Blendle). Nun sei der Text auf SPD-Initiative um Attribute wie "maßvoll" und "sachgerecht" ergänzt worden und hat gute Chancen, durch den Bundestag zu kommen. Natürlich enthält der Entwurf auch gut klingende Ideen. Beckedahl nochmals:

"Interessant ist die Forderung, dass der Serverstandort von Internetplattformen wie Facebook in der EU zu erfolgen habe: Es sei 'erforderlich, dass Internetplattformen zur Rechenschaft gezogen werden, wenn dort ohne weiteres Hass verbreitet wird oder  Attentate wie in Halle gar live übertragen werden.' […] 'Damit unsere Sicherheitsbehörden diesen Zugriff haben, ist es notwendig, dass die Server der Internetplattformen auch in der Europäischen Union stehen. Um das umzusetzen, müssen entsprechende gesetzliche Regelungen geprüft werden.'"

"Journalisten waren schneller als die Polizei"

Interesse verdient aber auch etwas, das vorige Woche etwas unterging im großen Forderungen-Hallo und das die taz unter der Zeile "Journalisten waren schneller als die Polizei, und dafür mussten sie sich noch nicht mal besonders beeilen" zusammenfasste: Das ZDF-Politikmagazin "Frontal 21" hat eines jener Imageboards bzw. Bilderforen, von denen aktuell oft die Rede ist und auf dem der Hallenser Amok-Terrorist seine Tat tatsächlich live angekündigt hatte, entdeckt und dessen lettischen Betreiber in Riga getroffen. Was dann geschah, beschreibt "Frontal 21" so:

"Wussten deutsche Sicherheitsbehörden von dem Forum? Eine Anfrage von Frontal21 ließ das Bundeskriminalamt unbeantwortet. Das Bundesamt für Verfassungsschutz verwies auf die für den Fall zuständige Bundesanwaltschaft. Auf eine Anfrage am Dienstag reagierte die oberste Ermittlungsbehörde nicht. Während der Eigentümer von 'Meguca' in der lettischen Hauptstadt Riga lebt, steht der Server der Website nach Frontal21-Recherchen in einem Datenzentrum bei Paris, mitten in der EU. Dort lagen sämtliche Daten von 'Meguca' und damit die Ankündigung des Terroranschlags in Halle – wohl bis zum Wochenende. Weder der französische Inlandsgeheimdienst noch der deutsche Bundesnachrichtendienst haben sich hierzu geäußert."

Was also heißt, dass deutsche Sicherheitsbehörden zurzeit auch mit Internetplattformen-Servern mitten in der EU wenig Sinnvolles anzufangen wissen. Und dass ihr interner Harmonisierungs-Bedarf echt groß ist. Da bricht taz-Inland-Ressortleiter Tobias Schulze, auch wenn es weh tut, beinahe eine Lanze für Seehofer (im eben verlinkten Text):

"Meint man es sehr gut mit Innenminister Seehofer, dann kann man ihm unterstellen, dass er mit seiner pauschalen Schelte gegen Gamer eigentlich das Richtige meinte – dass nämlich seine Leute diese rechtsextremen Plattformen, Boards und Unterforen genauer anschauen müssen."

Was fast schon mit einer der wenigen Pro-Seehofer-Äußerungen ("Seine Kritiker wollen ihn bewusst falsch verstehen") zusammenkommt, die Susanne Gaschke in Springers Welt am Sonntag, natürlich nicht ohne eigenes Provokations-Interesse ("Wie wäre es also statt der gewohnten Abwehrreflexe mal mit einer klaren Distanzierung aus den Reihen der friedliebenden und gesetzestreuen Computerspieler?"), formulierte.

Einstweilen sind weiterhin auf allen Seiten die seit Jahren vertrauten Abwehr- und Angriffsreflexe zu beobachten, vor denen netzpolitik.org auch nicht gefeit ist. Im ganz oben verlinkten, Seehofer-Foto-verzierten Überblick "Die Forderungen nach dem Anschlag in Halle" werden anfangs auch "einige mögliche Alternativen" versprochen – die sich dann aber auf die wohlfeilen älteren Forderungen nach "Aufdecken von Strukturen der rechten Szene" und "Online-Interventionsprogrammen ... zur Deradikalisierung von Anhängern" beschränken. Ob das alleine gegen dezentralen Terror hilft? Eine wirklich große Koalition, die nach dem Anschlag von Halle auf der Höhe der pausenlosen rasanten Entwicklungen sinnvolle Grenzen zwischen individueller und gesellschaftlicher Freiheit sowie öffentlicher Sicherheit auslotet, scheint nicht in Sicht.

Wie fühlt sich das an, Juan Moreno?

Damit in eine völlig andere Ecke der Medien-Welt. Ein zentraler aktueller Fachbegriff lautet "Rückvermündlichung". Geschöpft von Wolfgang Ullrich (ideenfreiheit.wordpress.com) kam er in diesem Altpapier zu Ehren. Vereinfacht bezeichnet den Megatrend, dass Autoren langer schriftlicher Texte, ganz besonders von kostenpflichtigen Büchern, dann auch möglichst oft öffentlich und mündlich zusammenfassen müssen, was sie denn geschrieben haben.

Wie das geht, zeigte nun vorbildlich geduldig Juan Moreno, der zu seinem im September erschienenen Buch "Tausend Zeilen Lüge" auf der Frankfurter Buchmesse eine Interview-Tournee absolvierte. Schön zu hören bei sueddeutsche.de ist das Interview, das Detlef Esslinger mit ihm führte. Längst nicht nur, aber auch das, was die beiden (bei Min. 15:09) über die derzeit wirksamste (Rück-)Vermündlichungs-Instanz sagen: "Markus Lanz lädt mich ein und so ...", sagt Moreno – "Gratuliere auch dazu", sagt Esslinger, sicher teils ironisch. "Vielen Dank", entgegnet Moreno und fügt noch etwas akustisch nicht ganz Verständliches über die Wirkung seines Lanz-Auftritts auf seine Mutter hinzu. "Deswegen lieben wir diesen Beruf: um irgendwann auch mal bei Markus Lanz sitzen zu dürfen", fasst Esslinger, sicher noch einen Tick ironischer, zusammen.

Noch interessanter als für sich genommen ist das Süddeutsche-Interview im Vergleich mit demjenigen, das Moreno dann zwei Stunden später auf dem Stand des Spiegels selbst gab, wie Anna Vollmer bei faz.net (nicht zu hören, nur zu lesen) schreibt. Zur Erinnerung: Die folgenschwere Fälschungs-Affäre, die der vielfach preisgekrönte Starautor Claas Relotius dem Magazin einbrockte, aufgedeckt zu haben, ist, was Moreno zu einer der wenigen unangefochtenen deutschen Journalismus-Lichtgestalten machte.

Für den Spiegel befragte ihn mit Clemens Höges ein Vertreter der derzeit dreiköpfigen Chefredaktion persönlich. Höges geizte nicht mit Lob ("Ein 'spannendes Buch' sei es geworden, sagt ... Höges ... eine 'großartige Erzählung, denn Juan ist ein großartiger Erzähler'"), das gewiss Buchkäufer anspricht und bloß vorm Relotius-Hintergrund seltsam vorkommen könnte. Und dann ist es laut faz.net auch um die relativen personellen Konsequenzen der Affäre beim Spiegel gegangen. Da bewies Höges geradezu Markus-Lanz-artige Qualitäten des emotional zupackenden Fragestellens:

"Inzwischen haben dort ein paar Leute ihren Job verloren oder sind doch nicht so hoch hinausgekommen, wie sie eigentlich wollten, also kein Chefredakteur geworden. Und deshalb fragt Höges Moreno dann tatsächlich: 'Das warst alles Du. Wie fühlt sich das an?' In diesem Augenblick ist dann auch Moreno, der die ganze Zeit kein wirklich böses Wort über den 'Spiegel' verliert, und das auch zwei Stunden zuvor, am Stand der 'Süddeutschen' nicht getan hat, ein wenig überrascht. Denn wie Höges da sitzt und Moreno die Schuld an der Krise seines Hauses gibt, dabei aber gleichzeitig zu versuchen scheint, diese irre Geschichte dann doch noch irgendwie als Aufdeckung des 'Spiegels' zu verkaufen, denn dort ist sie ja schließlich erschienen, ist einigermaßen erstaunlich."

Wobei es natürlich zu den Kernkompentenzen großartiger Erzähler gehört, an denen es beim Spiegel noch immer nicht mangelt, ihr Publikum erstaunen zu können ... Das auch nicht völlig unerstaunliche Detail, dass der Spiegel seinem verdienten freien Mitarbeiter Moreno keine Festanstellung angeboten hatte, die dieser eigentlich gerne angenommen hätte, referiert faz.net dann wiederum aus dem SZ-Interview auch noch.

Falls Sie jetzt Lust auf ein schriftliches Interview (also ein mutmaßlich schriftlich geführtes, dann aber in schriftlichen, auch online lesbaren Text zurückgeführtes) bekommen haben: Der österreichische Standard hat auch ein frisches. Moreno antwortet da schon wieder enorm freundlich-geduldig auf Fragen à la "Sie kämpften eigentlich als David gegen Goliath", obwohl solche Fragen inzwischen ja schon allen halbwegs interessierten Moreno-Interview-Leser/-Hörer mindestens oft genug begegnet sind und das für Moreno selbst erst recht gelten müsste.

Ganz am Ende beantwortet Moreno auch noch die ihm von Esslinger ebenfalls gestellte Frage nach Relotius' rätselhaften Verbleib. Claas Relotius, der ja auch als großartiger Erzähler ausgezeichnet wurde, wäre mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn er nicht zur nächsten Buchmesse auch sein Buch am Start hätte und auf Interview-Tournee geht.


Altpapierkorb (smarte "Wanzen", Heufer-Umlauf, Dieter Nuhr, tschechischer Privatsender-Aktionär, RTL-Sender-Chefs, "Schlagabtausch" im Bundestag)

 +++ Nicht nur die Konzerne Alphabet/Google und Amazon sowie deren freie Mitarbeiter, wo immer sie gerade unterwegs sind, können mithören bzw. später abhören, was Nutzer von sogenannten Smart Speakern wie Amazons "Echo" oder Googles "Home" so sagen (oder sonst für Geräusche von sich geben). Auch Anbieter von Apps für diese Geräte, die im extrem-euphemistischen Werbe-Englisch "Skills" genannt werden sollen, können sie als "Wanzen" für eigene Zwecke nutzen. Patrick Beuth fasst für SPON Forschungen der Berliner Security Research Labs zusammen.

+++ Was immer man von Klaas Heufer-Umlauf und seinen multiplen Aktivitäten hält: von beiden Seiten, als Fragesteller von Markus Ehrenberg, enorm flott geführtes Interview. Nur zu lesen, nicht zu hören beim Tagesspiegel. Es geht um die heute früh frisch auf joyn.de freigeschaltete Serie "Check-Check", aber auch vieles anderes ("Wenn Dieter Nuhr was Blödes über Greta sagt, dann kann man ein Riesending draus machen. Damit schwächt  man aber auch die Kritik an den wirklich Rechten. Ich fand diese Gags etwas bemüht, altväterlich, und der Grundton nervt natürlich tierisch, aber den Shitstorm ist es nicht wert").

+++ Die Sendergruppe ProSiebenSat.1 hat einen neuen kleinen Großaktionär. Die tschechische oder genauer: tschechisch-slowakische Medien-Holding Czech Media Invest hält nur etwas mehr als vier Prozent am Konzern und damit nicht halb so viel wie Silvio Berlusconis Holding. Andererseits, "mehr als 120 Mio. Euro" sind die Anteile doch wert, meldet der Standard.

+++ Ebd.: "In Pakistan ist erstmals ein Mann auf Basis des Gesetzes gegen Cyberkriminalität wegen Blasphemie schuldig gesprochen worden", und zwar wegen Postings auf Facebook.

+++ "Wenn man morgens aufsteht und hat die Nation bewegt, mit dem, was man da gemacht hat, das ist echt ein tolles Gefühl." – "Klingt gut, aber trotz Ihrer ganzen Power, trotz Ihrer 700 Journalisten rennen die Leute alle zu Netflix und Amazon." – "Wirklich? Es ist ein Fakt, dass wir unsere Quoten jeden Tag veröffentlichen und die Streamingdienste nicht ...": Da unterhalten sich zwei noch neue Senderchefs von RTL-Gruppen-Sendern, Sascha Schwingel (Vox, einst Teamworx und dann ARD-Degeto) und Jörg Graf (RTL) sowie Interviewer Hans Hoff enorm launig für die Süddeutsche.

+++ "Eine Weitergabe von persönlichen Daten von Journalisten an gewaltbereite Neonazis findet nicht statt. Ich mache da keinen Hehl draus: Ich bekämpfe die Feinde der Demokratie mit allem, was in meiner Macht steht. Und da sehe ich Journalistinnen und Journalisten an meiner Seite", sagt Thüringens Innenminister Georg Maier im großen taz-Wochenende-Interview vor allem zu Ereignissen im thüringischen Fretterode (siehe u.a. dieses Altpapier).

Neues Altpapier gibt’s wieder am Dienstag.

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