Das Altpapier am 15. September 2021Späte Distanzierung
Was die Moderatorin Nemi El-Hassan, die 2014 an einer israelfeindlichen Demo teilgenommen hat, zu den Vorwürfen gegen sie sagt, ist teilweise plausibel, lässt teilweise aber auch zu wünschen übrig. Spiegel TV fliegt bei einer Wahlkampfveranstaltung von Hans-Georg Maaßen raus. Ein Altpapier von René Martens.
Inhalt des Artikels:
Julian, Anni und Martin
"Wir unterstützen das jüdische Volk und das Existenzrecht des Staates Israel" - so heißt es in den Grundsätzen des Hauses Springer. Am Dienstag ist bei bild.de in einem Text zu einem "BILD-Stammtisch" in Ahrweiler ein Foto erschienen, das sitzend links vor dem stehenden Chefredakteur Julian Reichelt einen Mann zeigt, der mit diesen Grundsätzen nichts am Hut hat: Martin Lejeune. 2016 hat ihn bild.de noch "Israel-Hasser" genannt (Belltower News 2017 und die taz 2018 übrigens auch). In der aktuellen Bildunterschrift "BILD-Chefredakteur Julian Reichelt im Gespräch mit den Menschen in Ahrweiler" wird Lejeune implizit zu einem Bewohner des von der Hochwasserkatastrophe betroffenen Ortes, was aber nur insofern stimmt, als er sich laut dem Recherchenetzwerk Antischwurbler dort "seit Wochen" in verschwörungsideologischer Mission aufhält bzw. - der zitierte Tweet ist eine Woche alt - aufhielt.
Nun könnten Reicheltianer hier natürlich entgegen: Shit happens, man kann dem Mann doch nicht vorwerfen, dass sich bei einem öffentlichen Auftritt von ihm eine dubiose Person in seine Nähe begeben hat. Gegen diese Argumentation ließe sich indes vorbringen, dass Reichelt sich neulich von Lejeune bzw. von den von diesem mitbetriebenen YouTube-Kanal "Anni und Martin" hat interviewen lassen. Der Volksverpetzer hat vor einigen Tagen über dieses Interview berichtet, und die Antischwurbler haben es in ihrem YouTube-Kanal aufgegriffen.
Seinen Israel-Hass hat Lejeune unter anderem auf den al-Quds-Märschen zum Ausdruck gebracht, auch als Abschlusskundgebungs-Redner. Siehe dazu "Exkurs: Martin Lejeune auf dem Qudstag-Marsch 2016" in einem Bericht des Berliner Registers der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), die wiederum im Auftrag des Senats in Berlin betrieben wird. Und am Rande des al-Quds-Marsches von 2018 sagte er gegenüber Vice : "Ich werfe der PLO-Führung vor, viel zu weich gegen Israel vorzugehen. Sie sollte zu den Waffen greifen und Palästina befreien."
Forderungen nach einer Art Berufsverbot
Nun ist von den israelfeindlichen al-Quds-Märschen gerade in einem ganz anderen Zusammenhang viel die Rede, es geht dabei um die Demonstration von 2014. Bei der war nämlich die öffentlich-rechtliche Moderatorin Nemi El-Hassan anwesend. Das hat nun dazu geführt, dass der WDR sie "vorerst" nicht als Moderatorin der Sendung "Quarks" einsetzen will. Das war eigentlich für den November geplant gewesen.
Die Bild-Zeitung hat (siehe Altpapier von Dienstag) an dieser Entwicklung keinen geringen Anteil, und da kann man natürlich eine kleine Frage stellen: Besteht nicht ein gewisser Widerspruch darin, dass eine Zeitung, deren Obermufti einen Abschlusskundgebungs-Redner einer al-Quds-Demonstration dadurch aufwertet, dass er ihm ein Interview gibt, eine Frau angreift, die bei einer al-Quds-Demonstration mitmarschiert ist?
Thomas Balbierer zitiert in der SZ die Argumente, die El-Hassan gegen die Vorwürfe vorbringt:
"Die Journalistin (nennt) die Demo einen 'Fehler'. Sie sei zu dem Zeitpunkt 19 Jahre alt gewesen und habe sich erst später mit den Hintergründen befasst - und dann nicht mehr teilgenommen. 'Der Mensch, der ich heute bin, hat nichts mehr mit dem Menschen von damals zu tun', teilt sie mit. Sie habe nie absichtlich Antisemitismus verbreitet. In ihrer Arbeit als Journalistin setze sie sich für eine Gesellschaft ein, 'die wehrhaft gegen Rassismus, Antisemitismus und andere Formen der Menschenfeindlichkeit ist'. Sie betont, dass sie für eine Recherche über die rhetorischen Muster von Neonazis 2018 mit dem Civis-Online-Medienpreis ausgezeichnet wurde. 'Es ist daher sehr schwierig dabei zuzusehen, wenn man mich bewertet, ohne meine Arbeit der letzten Jahre zu berücksichtigen.'"
Bekommen hat sie diesen Preis für eine durchaus semilegendär zu nennende Reportage für das nicht mehr existierende Format "Jäger & Sammler" (ZDF/funk) über ein Rechtsrock-Festival in Themar, in der sie 2017 mit Hidschab (den sie inzwischen nicht mehr trägt, wie die taz betont) Bilderbuch-Nazis interviewt.
Zu den interessanten Fragen, die der Fall El-Hassan aufwirft, gehört folgende: Wie ist die politische Entwicklung einer Person verlaufen, die 2014 noch auf einer Demo mitmarschiert, auf der rechtsextremistische Inhalte verbreitet werden, 2017 dann aber als Macherin eines aufklärerischen Films über Rechtsextremisten in Erscheinung tritt?
Bei Übermedien schreibt Andrej Reisin:
"Nemi El-Hassan (hat) einen sehr wichtigen Punkt: Ihre Teilnahme ist sieben Jahre her. Sie hat seitdem kein einziges journalistisches Produkt abgeliefert, das den Vorwurf untermauern wurde. Sicher, ihre wohlwollende Interpretation von ‚Dschihad‘ als inneren Kampf um eine gottgefällige Lebensführung mag man problematisch finden, wenn dabei ausgeblendet wird, dass es durchaus andere Interpretationen gibt. Aber darüber kann man doch genauso offen und ehrlich diskutieren wie über einseitige Perspektiven auf den Nahost-Konflikt. Doch am Anfang der Debatte stehen stattdessen Forderungen nach einer Art Berufsverbot und ein Social-Media-Shitstorm."
Reisin sagt aber auch:
"El-Hassans bisherige Statements und ihr Verhalten (lassen) durchaus zu wünschen übrig. Es fällt zum Beispiel schwer zu glauben, angesichts der Heftigkeit der Aggressionen und der damaligen Debatte als Teilnehmerin dieser Demo als Teilnehmerin nichts davon mitbekommen zu haben. Auch fragt man sich natürlich, warum El-Hassan sieben Jahre brauchte, um sich von ihren damaligen Ansichten zu distanzieren – und warum sie dem WDR erst davon berichtet, als sie im Kreuzfeuer öffentlicher Kritik steht. Hätte sie nicht gerade jugendliche Radikalisierung auch im Rahmen ihrer bisherigen journalistischen Arbeit thematisieren können?"
Pressefreiheit in den Grenzen von 1937
In der vier Jahre alten Reportage aus Themar interviewt El-Hassan übrigens den nationalsozialistischen Geschäftsmann Tommy Frenck - was aktuell deshalb bemerkenswert ist, weil dieser in den vergangenen Tagen auf sich aufmerksam machte. Der Neonazi gab sich als Hans-Georg-Maaßen-Supporter zu erkennen und warb dafür, in Maaßens Wahlkreis schwarz-braunes Stimmensplitting zu betreiben, also die Erststimme dem CDU-Kandidaten Maaßen zu geben und die Zweitstimme der AfD (siehe u.a. t-online).
Frenck spielt in diesem Kontext auch eine kleine Rolle in einem Spiegel-TV-Beitrag. Am Tag vor der Wahlempfehlung reiste der Neonazi nämlich zu einer Veranstaltung Maaßens in einem Wirtshaus in dem Örtchen Crock an, bei der das Filmteam nicht anwesend sein durfte. In diesem Ausschnitt ist zu sehen, wie der zackige Chef de maison auf sein Hausrecht pocht und die Fernsehleute vor die Tür schickt (hier der komplette Beitrag). Während Spiegel TV berichtet, Frenck habe "die Veranstaltung etwas früher durch einen Nebenausgang verlassen", schreiben Springers Welt und Martin Debes in einer Zeit-Online-Reportage, dass der Nazi bei der Veranstaltung gar nicht dabei gewesen sei, er habe ebenso Hausverbot erhalten wie Spiegel TV.
"Pressefreiheit in den Grenzen von 1937", lautet der von Maria Gresz gesprochene Off-Text-Kommentar zum Drehverbot in der Gaststätte, und das zeigt, dass der Spiegel-TV-Sarkasmus der ganz alten Schule zumindest noch manchmal funktioniert.
Pressefreiheit in Bayern, Polen und Afghanistan
Der BR und @mediasres gehen auf die Behinderungen ein, mit der sich Journalisten konfrontiert sahen, die im München über eine Kraftfahrzeug-Ausstellung (und die Proteste dagegen) berichteten (siehe auch Altpapier von Montag). @mediasres hat unter anderem mit dem Fotograf Iván Furlan gesprochen, einem der vier Journalisten, die eine Stunde lang von der Polizei in einer Gefangenensammelstelle festgehalten wurden und die nun gegen diese Behandlung klagen. Dass Furlan in einer anderen Situation von Polizisten mit Pfefferspray traktiert und als "Fotowichser" tituliert, kommt in dem Radiobeitrag nicht vor, ist aber u.a. hier dokumentiert.
Der Spiegel greift derweil den Protest "30 polnischer Medien" auf. Sie wehren sich dagegen, dass sie nicht über die Geflüchteten im polnisch-belarussischen Grezgebiet berichten dürfen. Hintergrund:
"Wochenlang saßen dort Migranten unter menschenunwürdigen Bedingungen fest. Sie waren umringt von polnischen und belarussischen Grenzschützern (…) Gemäß dem Dekret des Präsidenten ist der Zugang für Journalisten zu einem etwa drei Kilometer breiten und 418 Kilometer langen Grenzstreifen formell untersagt."
Reporter ohne Grenzen (ROG) wiederum richtet den Blick erneut auf die Lage in Afghanistan. Die FAZ greift eine aktuelle Mitteilung der Organisation auf:
"Laut ROG werden auch vermehrt ausländische Journalisten in ihrer Arbeit beeinträchtigt, die die Taliban anfangs noch toleriert hatte. Ein Fotograf der Los Angeles Times sei daran gehindert worden, über den Frauenprotest in Kabul zu berichten. Mehrere internationale Reporterinnen berichteten ROG von Übergriffen und Schlägen."
Hildmann weg vom Fenster?
Dass der Neonazi Attila Hildmann aus der digitalen Sphäre nun weitgehend verschwunden ist, und zwar dank Anonymus und eines abtrünnig gewordenen Vertrauten Hildmanns namens Kai E. - darauf gehen mit unterschiedlichen Schwerpunkten @mediasres und der Volksverpetzer ein (siehe dazu auch Altpapier von Dienstag). "Etwa 20 Webseiten und 30 Telegram-Gruppen des Rechtsextremen hat Anonymous gestern übernommen, Inhalte gelöscht und Kanäle geschlossen", fasst der DLF zusammen. Hildmann habe "jetzt alles verloren", meint der Volksverpetzer.
Im Radiobeitrag kommt u.a. der Politikwissenschaftler und Rechtsextremismusforscher Josef Holnburger zu Wort, der sich über den Whistleblower Kai E. äußert:
"Laut Anonymous hat Kai E. sich zur Weitergabe der Daten entschieden, weil er realisiert habe, dass Hildmann ein 'gefährlicher Typ' und 'Nazi' sei (…) Holnburger sieht darin (…) Schutzbehauptungen: 'Ich glaube auch nicht, dass er, wie er es selbst dargestellt hat, sich vom Antisemitismus distanziert oder in dem Falle 'angeekelt' – sagt er ja selbst – hatte und deswegen jetzt den Schlusstrich gezogen hatte, weil er hatte einfach sehr lange Zeit bei Attila Hildmann mitgewirkt. Auch zu einem Zeitpunkt, wo es schon offensichtlich war, wie sich der Antisemitismus von Attila Hildmann äußert.'"
In beiden Beiträgen geht es auch um die im Zusammenhang mit den Enthüllungen stehende und natürlich zahlreichen Protest hervorrufende Maßnahme Twitters, den dortigen Account von Anonymous zu löschen (siehe beispielsweise auch t-online).
Das Fazit der Beiträge wiederum ist unterschiedlich: "Das letzte Kapitel von Attila Hildmann hat ja gerade erst begonnen", heißt es beim Volksverpetzer. Mit Bezug darauf, dass die Reichweite Hildmanns zuletzt ohnehin gesunken sei, sagt Holnburger im DLF dagegen: "Das Kapitel Attila Hildmann ist eigentlich schon länger geschlossen."
Altpapierkorb (barrierefreie Berichterstattung, "Zervakis & Opdenhövel", MDR-Zielgruppe Familie)
+++ Andrea Schöne führt für Übermedien aus, "wie barrierefreie Berichterstattung gelingen kann". Einen Sender mit Vorbildcharakter nennt Schöne auch: den Bayerischen Rundfunk. Der Grund: "Seit 2019 lernen (dort) alle Volontär*innen die Deutsche Gebärdensprache."
+++ Der Tagesspiegel ist mit der Premiere von "Zervakis & Opdenhövel. Live" unzufrieden: "Ein bisschen ‚stern TV‘, ein bisschen ARD-‚Mittagsmagazin‘. Nichts Halbes und nicht Ganzes." Der Spiegel ist etwas positiver gestimmt ("Auch wenn sich das neue Moderationsduo an seinem ersten Abend lässig bis nachlässig präsentiert, kriegt es meist die Kurve zum jeweils richtigen Tonfall") und sieht ein gewisses Potenzial: "Ohne (…) Ausflüge in die ‚stern-TV‘-Schmierigkeit könnte ‚Zervakis und Opdenhövel. Live’ noch richtig gut werden." Noch etwas mehr Potenzial sieht Marlene Knobloch in der SZ: "Schaut man (…) auf die Experiment-Bilanz der Öffentlich-Rechtlichen, kann man (Anfängerbonus eingerechnet) der Show nur zum Mut gratulieren. Man kann sich auf die Luft von oben freuen, die in leichten Brisen bereits um die Nase wehte. Und man kann angesichts der enorm unterhaltungstalentierten Linda Zervakis leise Richtung ARD nuscheln: Die habt ihr gehen lassen?"
+++ "Jünger" und "digitaler" wollen ja alle Medienhäuser werden, natürlich auch unser MDR. Über ein vom Sender veranstaltetes Pressegespräch zu diesem Thema berichtet dwdl.de. Ein Ziel sei es, "mehr Bevölkerungsschichten in der Mitte der Gesellschaft (zu) erreichen - allen voran Familien, die der Sender zuletzt vernachlässigt und dadurch verloren hatte". Außerdem wolle der MDR "perspektivisch mehr in Doku-Serien investieren".
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.
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