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Das Altpapier am 17. September 2021Wahlkampfnervosität in der Branche

22. September 2021, 08:00 Uhr

Ein Unternehmen fühlt sich von journalistischen Fragen arg angefasst und zieht Konsequenzen. Nehmen Social-Media-Plattformen ihre Verantwortung für politischen Content vor der Bundestagswahl vollends wahr? Die Diskussion um Nemi El-Hassan und den WDR wirft eine weitere Grundsatzfrage auf. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Spiel mit der heißen Kartoffel

Der Werbeflächenvermarkter Ströer stoppt politische Werbung. Das Altpapier ist zwar keine Marketingkolumne, aber die Umstände, die dazu geführt haben, sind einen zweiten Blick wert. Die Entwicklung steht allem Anschein nach in direkter Verbindung mit einer gemeinsamen Recherche von Correctiv, "ZDF Frontal" und dem Spiegel (€). Die Berichte der Recherchepartner bringen aber vor allem die AfD wegen des Verdachts illegaler Parteispenden in Bedrängnis. Denn die Partei habe

"in weit größerem Umfang Wahlkampfhilfe von anonymen Gönnern bekommen als bislang bekannt. Es geht um Plakate im Wert von mehr als drei Millionen Euro",

heißt es beim Spiegel. Es gehe um etwa 9.400 Plakate, die zwischen 2016 und 2018 bei Landtagswahlen und der Bundestagswahl als anonym finanzierte Wahlkampfhilfen für die Partei bei Ströer gebucht wurden, berichtet Correctiv. Die Redaktionen hatten Einblick in interne Buchungsdokumente von Ströer, in denen die AfD selbst bei den meisten dieser Aufträge als "Direktkunde" geführt worden sei. Die Partei selbst will nichts mit der Werbung zu tun haben.  Ein von der AfD beauftragter Anwalt bezeichnet die Recherche auf Nachfrage als "kreierte Story", die auf "gleich mehrfachen falschen tatsächlichen Annahmen" basiere.

Ströer sah sich aber offenbar auch in Bedrängnis, jedenfalls trat das Unternehmen kurz vor der Veröffentlichung der Recherche am Mittwoch die Flucht nach vorn an und erklärte, "bis zur Bundestagswahl und darüber hinaus" keine Aufträge für politische Werbung mehr annehmen zu wollen. Auch die FAZ berichtete gestern auf ihrer Medienseite. Als Grund für die Entscheidung nannte Ströer in seiner Pressemitteilung Anfeindungen, Drohungen, Boykottaufrufe und Sachbeschädigungen nach politischen Kampagnen wie "bundestag-nazifrei.de" und "#GrünerMist". 

Außerdem wirkt es so, als fühle man sich in dem Kölner Unternehmen durch die Anfrage des Rechercheverbunds auf den Schlips getreten, oder wisse das zur Schadensbegrenzung nach außen hin zumindest so zu vermarkten. Zu den Recherchen von Correctiv, "ZDF Frontal" und Spiegel heißt es in der Mitteilung:

"Derzeit liegt uns eine aktuelle Anfrage eines Rechercheverbunds mit 15 Fragen vor. Unter anderem wird nach üblichen Kundenterminen (in diesem Fall mit der AfD) oder Buchungsdetails gefragt. Aus den Fragen ergibt sich die eindeutige Zielrichtung, das Unternehmen Ströer und/oder einzelne Mitarbeiter willkürlich und unzutreffend politisch in die Nähe der AfD zu drängen. Damit ist aus Sicht des Unternehmens die Grenze des Hinnehmbaren endgültig überschritten. Aufgrund dieser gesammelten, negativen Erfahrungen aus dem Wahlkampf zur aktuellen Bundestagswahl hat der Ströer Vorstand beschlossen, keine Aufträge für parteipolitische Werbung mehr entgegenzunehmen."

Es ist nicht das erste Mal, dass ein Unternehmen oder andere Interviewpartner sich von journalistischen Fragen zu einem heiklen Thema so angefasst fühlen, dass ihnen der Kragen platzt. Das offenbart meiner Meinung nach aber vor allem eine problematisches Vorstellung von Journalismus, der nun mal nicht für wohlfeile Worte zuständig ist, sondern auch für investigative Recherchen. Spoiler: Dabei kann es zu für Unternehmen unangenehmem Nachbohren kommen. Mit der Erweiterung der PR-Arbeit und der Entwicklung eigener "Newsrooms" in Parteien und Unternehmen, scheint dafür vielerorts zunehmend die Akzeptanz zu schwinden.

Die genaue Formulierung der Fragen kenne ich selbst nicht. Marcus Bensmann von Correctiv wies die Vorwürfe Ströers gegen das Rechercheteam allerdings gestern bei Deutschlandfunk Nova zurück. Dass die Journalisten sie in die Nähe der AfD gerückt hätten, stimme nicht:

"Wir wollten ja nur fragen, wie das zustande kommt. Und sie sagen wir sind nicht verantwortlich dafür oder wir müssen uns darauf verlassen, dass unsere Kunden rechtmäßig handeln. Und die AfD sagt halt, das war doch Ströer, damit haben wir nichts zu tun. Die werfen sich jetzt die heiße Kartoffel sozusagen Gegenseitig zu. Aber das wird dann vielleicht die Staatsanwaltschaft oder die Bundestagsverwaltung herausfinden können."

Defizite beim Wahl-Hustle auf Social-Media-Plattformen

Es liegt wohl auch am Zeitpunkt, der Endphase des aktuellen Bundestagswahlkampfs, dass die Nerven so angespannt sind und die Sache damit auch bei den Betroffenen noch heikler wahrgenommen wird, als es ohnehin der Fall wäre.

Aber auch das Handeln von Intermediären steht damit aktuell unter besonderer Beobachtung. Dazu sind grade zwei interessante Untersuchungen erschienen. Die Mozilla Foundation hat zum Beispiel grade die Umsetzung der Ankündigung von TikTok geprüft, mit Blick auf die Wahl gegen Desinformation vorzugehen. Den Ergebnissen zufolge sind allerdings weiter gefälschte politische Accounts aktiv, die automatisierte Kennzeichnung von Inhalten zur Bundestagswahl sei fehlerhaft, und die angekündigten Faktenchecks in Kooperation mit der dpa hätten verspätet begonnen.

Laut dem ARD-Magazin "Kontraste" hat die dpa selbst keine Auskunft darüber gegeben, wie viele TikTok-Videos sie tatsächlich überprüft hat oder wie viele Journalistinnen und Journalisten das tun. (Anm. d. Red.: In einer früheren Version des Textes wurde das Magazin "Kontraste" versehentlich dem ZDF zugeordnet. Wir haben das korrigiert.) Bei Netzpolitik.org zitiert Tomas Rudl Marcus Bösch aus dem Autorenteam, der abschließend urteilt:

"TikTok prägt den politischen Diskurs mit, zumal immer mehr politische Gruppen die Plattform nutzen. (…) Doch in dieser für Deutschland so kritischen Wahlperiode wird TikTok der Verantwortung, die mit diesem Einfluss einhergeht, nicht gerecht."

Seine Kollegin Becca Ricks erklärte, die Maßnahmen, die TikTok zur Wahl angekündigt hatte, "mögen zwar auf dem Papier gut klingen". Die tatsächliche Durchsetzung sei aber "fragwürdig und teilweise nicht einmal sinnvoll."

Die Süddeutsche hat sich außerdem Instagram vorgeknöpft. Gemeinsam mit der Organisation Algorithmwatch haben die Journalistinnen und Journalisten bei dem Datenspendeprojekt #Wahlfilter untersucht, wie der Algorithmus der zu Facebook gehörenden Plattform sich auf politische Inhalte in der Timeline auswirkt. Denn die Timeline wird ja schon längst nicht mehr rein chronologisch sortiert, sondern nach verschiedensten Kriterien, die nicht vollends transparent gemacht werden. Eines der Ergebnisse wird in dem Projekt detailliert visualisiert:

"Die Recherchen von SZ und Algorithmwatch belegen, dass die AfD auf Instagram prominenter präsentiert wird als SPD, Linke, Grüne, FDP und schließlich die Union. Das, was die in Teilen rechtsradikale Partei postet, landet in den Feeds tendenziell weiter oben als die Inhalte anderer Parteien",

heißt es dazu im Text. Das bedeute im Umkehrschluss aber nicht, dass der Insta-Algorithmus die AfD-Posts gezielt bevorzugt:

"Welche Faktoren genau dazu führen, dass Posts in einer bestimmten Reihenfolge sortiert werden, ist nicht klar – nur, dass das Ergebnis in den Timelines günstig für die AfD ausfällt. Der Facebook-Konzern, zu dem auch Instagram gehört, lässt nur wenig über das innere Gefüge seiner Plattformen verlauten."

Der Analyse von 6.000 Beiträgen zufolge greifen dabei verschiedenste Faktoren ineinander. Ähnliche Vermutungen schwirrten bereits vor dem Projekt durch‘s Netz. Dennoch ist es interessant, sich die konkreten Beispiele vor der Wahl in gut einer Woche nochmal nachvollziehen zu können.

Gewissensprüfung beim WDR?

Zum Schluss noch ein Einwurf zur Diskussion um Nemi El-Hassan, die gestern und am Mittwoch umfangreich im Altpapier thematisiert wurde. Der WDR hatte ja entschieden, dass die Journalistin und Ärztin die Wissenschaftssendung "Quarks" erst einmal nicht moderieren wird, nachdem die Bild zutage gefördert hatte, dass sie 2014 an einem israelfeindlichen Al-Quds-Marsch teilgenommen hatte .

El-Hassan hat sich mittlerweile mehrfach distanziert und sich öffentlich erklärt. Nun läuft eine Diskussion um die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen. Grundsätzlich ist eine gründliche und sachliche Prüfung richtig und wichtig. Dafür sollte der WDR sich Zeit und Ruhe abseits der teils sehr polemisierten öffentlichen Diskussion nehmen. Joachim Huber spricht im Tagesspiegel dazu eine wichtige Grundsatzfrage an. Im Zusammenhang mit diesem Fall werde der WDR

"festlegen müssen, ob zu jeder Personalie Vergangenheitsbewältigung und Gesinnungsprüfung gehören. Das kann schnell auf Schnüffelei und den Eindruck hinauslaufen, dass Kandidatinnen und Kandidaten (mit Migrationsgeschichte) unter den Generalverdacht geraten, sie würden freiheitlichen, demokratischen Zielsetzungen zuwiderhandeln. Der Westdeutsche Rundfunk wird um eine grundsätzliche Positionierung nicht herumkommen."


Altpapierkorb (Publikum in Wahlendungen, Arbeit von Bild TV, Journalismus in und für Afghanistan, Deutscher Fernsehpreis)

+++ Nach den Bild-Pöbeleien, die ARD habe linke Aktivistinnen in der "Wahlarena" auf den Unionskandidat Laschet geschickt, beleuchtet Markus Ehrenberg beim Tagesspiegel, wie die Redaktionen ihr Publikum auswählen.

+++ Michael Hanfeld lässt neben der "Wahlarena" auch nochmal das Kinderinterview mit Laschet bei "Late Night Berlin" Revue passieren (FAZ, €), während Thomas Balbierer und Cornelius Pollmer ebenfalls mit Blick auf diese Ereignisse in der Süddeutschen (€) die Wahlkampf-PR von Laschets Team analysieren. 

+++ Bei "@mediasres" erklärt Friedbert Meurer, Moderator und Leiter der Abteilung Aktuelles, wie die Sender des Deutschlandradios im Vorfeld über die Bundestagswahl berichten.

+++ Die Reporter ohne Grenzen haben die im Bundestag vertretenen Parteien vor der Bundestagswahl zu verschiedenen Punkten der Pressefreiheit im In- und Ausland befragt. In acht "Wahlprüfsteinen" sind die Antworten zu Themen wie Schutz von Medienschaffenden, Verschlüsselung, Whistleblowing und Auskunftsrecht zusammengestellt (von der AfD kam laut RSF allerdings nichts). 

+++ Was die Wahlprogramme der einzelnen Parteien im Bereich Digitalpolitik vorsehen, hat Jakob von Lindern für die Zeit analysiert.

+++ Wer beim Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde, steht etwa bei der FAZ.

Neues Altpapier gibt‘s wieder am Montag.

(Anm. d. Red.: Am Montag ist in Erfurt, wo das Altpapier technisch produziert wird, anlässlich des Weltkindertages Feiertag! Das nächste Altpapier wird am Dienstag, 21. September 2021 erscheinen.)

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