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Das Altpapier am 19. Oktober 2021Jetzt hat's gereichelt

19. Oktober 2021, 10:47 Uhr

Der große Bild-Medien-Chefredaktionsvorsitzende ist doch noch gestürzt. Kommt es nun zum Springer-Beben? Die deutsche Presseverlags-Landschaft, die um ein Haar ein gutes, äh: Bild abgegeben hätte, macht international schlechten Eindruck. Und die New York Times hat elegant einem Wettbewerber einen Stoß gegeben. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Wie die Ereignisse um Springer sich überschlugen

Wow, na endlich, yeah! So einhellig ist die Stimmung selbst auf Twitter selten. (Unsere Überschrift ist übrigens von diesem Tweet inspiriert.)

Gestern am späten Nachmittag oder frühen Abend, gegen 18.04 Uhr, kam die zum schnellen Teilen in sog. soz. Medien gestaltete und unten drunter ungewöhnlicherweise mit allerhand "ergänzenden Informationen zum Hintergrund der heutigen Entscheidung" angereichel-, pardon: angereicherte Springer-Pressemitteilung, derzufolge der Vorsitzende der Bild-Chefreaktionen, Julian Reichelt, "mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entbunden" wurde. "Sexualisierter Führungsstil", lautet die knappste Zusammenfassung (netzpolitik.org) der Vorwürfe gegen Reichelt.

Als "Folge von Presserecherchen" sei der Beschluss gefallen, teilt Springer ausdrücklich mit.

Diese Presserecherchen sind die, deren Nichterscheinen in Deutschland (bei der Ippen-Verlagsgruppe) in Verbindung mit der Veröffentlichung dieses Nichterscheinens (bei uebermedien.de) und vor allem mit einem einem großen, erschienenen New York Times-Bericht zum selben Thema für eskalierendes Aufsehen sorgte (Altpapier gestern). Im bei Drucklegung längsten und vollständigsten Text zum Thema, in der FAZ, schreiben Axel Weidemann und Michael Hanfeld von einer hierzulande herrschenden "generellen Angst, sich mit dem Berliner Medienhaus", also Springer, "anzulegen".

Seitdem die überwunden ist, gibt's immer mehr, auch kommentierende Zusammenfassungen der Gemengelage, die am späteren Montagabend dann noch die Veröffentlichung der ursprünglichen Ippen-Redaktions-Recherchen im Gewand einer insgesamt achtautorigen spiegel.de-Story ("Warum Julian Reichelt gehen musste") ergänzten. Und diese Spiegel-Veröffentlichtung erwähnte wiederum gerne die NYT beim Weiterdrehen ihrer "developing story" ...

Erwähnung verdient, dass zur selben Zeit bild.de mit dem Artikel "Uli Hoeneß geht auf Veganer los" ganz oben aufmachte, bei dem sich auch das breiteste Boulevardpublikum gefragt haben düfte, ob denn gerade gar nichts Wichtiges passiert. Erst um 21.11 Uhr wurde der "Wechsel in der BILD-Chefredaktion" vermeldet. Wohingen welt.de die Pressemitteilung im Gewand einer Meldung früher weiter oben platzierte, schon weil Reichelts Nachfolge mit Johannes Boie ein Mitglied des Chefredakteurs-Gremiums der seriöseren Springer-Zeitung antritt.

Hätte Ippen mal ...

Bereits früh am Montag beklagten die Journalistengewerkschaften im gewohnten Duktus (dju: "unerhört", DJV: "Gutsherrenart"), jedoch mit Recht die in der Ippen-Verlagsgruppe offenkundig bedrohte Pressefreiheit. Nicht ungern wurde die dpa-Meldung mit einem Foto, das den Verleger in Partylaune zeigt, illustriert (horizont.net). Dass Ippen "in einer seiner Druckereien auch eine Teilauflage der Bild" druckt, merkt die taz an.

Und im am Dienstagmorgen aktuellen NYT-Artikel steht auch:

"Germany’s publishing world is dominated by large companies, largely run by men, where reluctance to be seen as criticizing one another runs deep. Ippen cited such a motivation behind its last-minute decision to withhold the report."

Verleger Dirk Ippen, dessen Namen außer seiner im Regionalzeitungs-Geschäft starken Verlagsgruppe auch die vormalige deutsche Buzzfeed-Redaktion trägt, die diese voriges Jahr (nachdem Buzzfeed deren Schließung beschlossen hatte) als "Ippen investigativ" übernahm, erntet also außer in der deutschen Medien-Echtzeitdebatte auch international viele Zitationen, auf die er vermutlich gern verzichtet hätte. Im ebenfalls schon erwähnten FAZ-Artikel lauten die abschließenden Sätze:

"Bei Ippen will man auf die 'großartige Arbeit' des Investigativteams indes nicht verzichten. Hätte man nur mal deren große Geschichte gebracht."

Das Zitat "großartige Arbeit" entstammt der via dpa zitierten Selbst-Pressemitteilung "Ippen äußert sich nicht zu veröffentlichten Recherchen zu Springer", pardon, kleiner Wortstellungsfehler: "Ippen äußert sich zu nicht veröffentlichten Recherchen zu Springer", die etwa der Münchener Merkur veröffentlichte oder: veröffentlichten musste. Wohingegen die dank ihrer tieferen Vergangenheit überregional relativ strahlkräftigsten Ippen-Zeitung, die Frankfurter Rundschau, eine kühne "Stellungnahme in eigener Sache" veröffentlichen konnte ("Wir fordern unseren Verleger auf, die redaktionelle Unabhängigkeit nicht anzutasten"), die mit Recht ebenfalls viel Lob erhielt, vom BJV, also der bayerischen DJV-Sektion ("aufrichtige und mutige Reaktion"), bis wiederum zur NYT.

Was die NYT auch bewog

Zurück zur ausführlichen Springer-Pressemitteilung. Manches darin liest sich, als sei es weniger von deutschsprachigen Kommunikations-Experten als von Juristen vor allem für die englische Fassung der PM formuliert worden. Z.B. die "ergänzende Information" Nr. 2:

"Fast alle damaligen Hinweisgeber bestanden auf Anonymität. Deshalb konnten die konkreten Vorwürfe und Protokolle der durch die Kanzlei Freshfields durchgeführten Befragungen dem Beschuldigten gegenüber nicht offengelegt werden. Julian Reichelt hat sich deshalb kaum gegen konkrete, sondern lediglich gegen abstrahierte Vorwürfe verteidigen können. Auch Axel Springer kannte maßgebliche Befragungsprotokolle auf Bitten von Zeugen nicht. Und diese liegen dem Unternehmen bis zum heutigen Tage nicht vor. Medien wurden diese Dokumente jedoch in Teilen oder vollständig von dritter Seite rechtswidrig zugespielt"

Tatsächlich zeichnet der erste NYT-Bericht zum Thema ein ziemlich anderes Bild des Springer-Chef Mathias Döpfners als die nicht selten erscheinenden deutschen Porträts des Mannes, der ja auch dem Zeitungsverleger-Bundesverband vorsteht, es zu tun pflegen. Etwa als  "Besitzer einer der führenden Sammlungen weiblicher Aktbilder", wie der Tagesspiegel in einer frühen Ereignisse-Zusammenfassung übersetzt. Mehr Aufregungs-Potenzial bietet ein Döpfner zugeschriebenes, angeblich einer Nachricht an den Autor Benjamin von Stuckrad-Barre entstammendes Zitat, demzufolge Reichelt "really the last and only journalist in Germany who is still courageously rebelling against the new GDR authoritarian state" sei. Vor allem daran zog die SZ-Medienseite (€) ihre große, ebenfalls bereits vor der Nachricht von Reichelts Rauswurf fertiggestellte Zusammenfassung auf.

"Halt wirklich der letzte und einzige Journalist in Deutschland, der noch mutig gegen den neuen DDR Obrigkeits-Staat aufbegehrt", zitierte spiegel.de am Abend und schrieb von "einer privaten Nachricht, die Döpfner laut Dritten" verschickt habe. Ob der Spiegel diese Nachricht, wie auch immer versandt, selbst kennt, bleibt also offen. Springer findet das Veröffentlichen solcher privater Nachrichten, offenkundig "rechtswidrig", wofür es gute Gründe gibt. Jedenfalls geht es der NYT, worauf schon die Überschrift ihres ersten Artikels, "At Axel Springer, Politico’s New Owner, Allegations of Sex, Lies and a Secret Payment", deutet, nicht allein oder gar nicht um die deutsche Medienlandschaft. Vielmehr ist der Springer-Konzern spätestens seit seinem Kauf der US-amerikanischen Webseite Politico ein Wettbewerber der NYT, die überdies noch von schließlich gescheiterten Springer-Plänen, mit axios.com überdies  ein weiteres US-amerikanisches Portal zu kaufen, berichtet. Der vom Tagesspiegel (ebenfalls noch vor der Reichelt-Rauswurf-News) interviewte Medienwissenschaftler Stephan Weichert geht am deutlichsten darauf ein:

"dass solche Beteiligungen, Aufkäufe und Pläne für die Zusammenlegung von Politico und Axios eine direkte Konkurrenz zur 'New York Times' sind. In den letzten Jahren ist mit Springer ein sehr mächtiger digitaler Player mit einer gewaltigen Marktmacht auch in den USA entstanden. Der Beitrag der 'Times' macht nicht wirklich transparent, inwieweit sich diesbezüglich auch Interessen vermischen."

Trotz allen Renommees kann die New York Times ja auch als ein Medium gelten, das bei der globalen Durchsetzung der "Cancel Culture" vorn dabei ist (also falls man davon ausgeht, dass es dieses Phänomen gibt ...).

Jedenfalls dürfte Reichelts Rauswurf wenig bis nichts mit deutschen Einschätzungen zu tun haben, sondern viel bis alles mit Chancen und nun vor allem Risiken, die sich der knapp zur Hälfte vom New Yorker Finanzinvestor KKR besessene Springer-Konzern in den USA berechnet. "Der relevante Artikel der 'New York Times' hat so unaufdringlich wie deutlich gezeigt, welche Gegenwinde auf Springer zukämen, wenn die Causa Reichelt nicht ausgeräumt worden wäre", heißt's in einem am späten Abend erschienen Tagesspiegel-Kommentar bereits in der Form abgeschlossener Vergangen. Das muss nicht unbedingt zutreffen. "Döpfner scheint 'too big to fail', zumindest bei Axel Springer", hieß es im (wiederum früher erschienenen, schon erwähnten netzpolitik.org-Kommentar). Aber Schein kann ja trügen, und die "generelle Angst", sich mit Springer anzulegen, könnte nun überwunden sein. Ein kleineres oder weniger kleines Springer-Beben könnte durchaus noch folgen.


Altpapierkorb (irisch-österreichischer Facebook-Streit, 10.000 Arbeitsplätze, "möglicher Aufbruch", ZDF-Krimi-Innovation)

+++ Facebook besitzt kaum größere Sympathiewerte als Springer, bloß viel mehr Einfluss. Kaum war der zwar deutschsprachige, aber in deutschen Diskursen selten eine größere Rolle spielende Facebook-Kritiker Max Schrems mal in Deutschlandfunks "@mediasres" zu hören (wo er die irische Datenschutzbehörde DPC kritisierte: "Auf etwa 10.000 Beschwerden im Jahr kämen nur sechs bis sieben Entscheidungen"), erhielt seine Initiative noyb.eu ein aufschlussreiches "außerordentliches Schreiben" dieser Data Protection Commission, das die Löschung von Dokumenten auf der Webseite verlangte. "noyb wies den Vorschlag sich selbst zu zensieren umgehend zurück ... Stattdessen schlägt noyb der DPC vor, bei dem zuständigen Gericht in Österreich Klage zu erheben, anstatt Briefe zu verschicken, die darauf abzielen, Beschwerdeführende einzuschüchtern": Wie dysfunktional die EU-europäische Medienpolitik arbeitet, zeigt dieser irisch-österreichische Rechtsstreit um ein kalifornisches Unternehmen perfekt.

+++ Was in ungefähr allen deutschen Nachrichtenkanälen im schönsten PR-Sound herumging: die Meldung, dass Facebook 10.000 Arbeitsplätze in Europa schaffen wolle. Was es damit und mit dem vom Cheflobbyisten (sowie ehemaligen stellvertretenden Premierminister Großbritanniens) Nick Clegg verkündeten Plan, "die Computing-Plattform der Zukunft zu bauen", auf sich hat, untersucht Simon Hurtz u.a. für den schweizerischen Tagesanzeiger.

+++ "Alleine dadurch, dass endlich mal keine neuen Überwachungsgesetze versprochen werden, liest es sich wie ein möglicher Aufbruch. Das deuten auch viele andere Ziele wie ein Wahlalter ab 16 Jahren an. Ich bin gespannt, wie aus diesen Eckpunkten ein detaillierterer Koalitionsvertrag verhandelt wird und was am Ende dabei heraus kommt. Die Latte liegt ja nach 16 Jahren unionsgeführter Bundesregierung recht tief", schreibt für netzpolitik.org Markus Beckedahl zu den netzpolitischen Plänen der mutmaßlichen nächsten Bundesregierung.

+++ "Polizei geht gegen unerwünschte Telegram-Kanäle vor". Na endlich! Bzw.: doch nicht lobenswert, da es sich um die Polizei von Belarus handelt (ebenfalls netzpolitik.org).

+++ Noch was Ausführliches von Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite (€): eine  breite Initiative, die Nemi El-Hassan doch noch als Moderatorin der WDR-Sendung "Quarks" durchsetzen will.

+++ Und schon wieder eine Innovation beim ZDF! "Was einer der mächtigsten Männer im fiktionalen deutschen Fernsehen unter 'Neues entwickeln' versteht, wurde vergangener Woche publik: Aus der ZDF-Krimireihe 'Der Kommissar und das Meer' mit Walter Sittler als Robert Anders wird die ZDF-Krimireihe 'Der Kommissar und der See' mit … genau … als … Sie ahnen es. Neu ist lediglich, dass Anders, also Walter Sittler, inzwischen im Ruhestand, aus Gotland an den heimischen Bodensee zurückgekehrt ist und fortan dort ermittelt" (David Denk in der SZ).

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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