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Das Urteil im Prozess zum Anschlag von Halle wird für Mitte November erwartet. Bildrechte: MDR/ Max Schörm

Halle-Attentat: Reportage zum neunten ProzesstagAussagen von eindrucksvollen Frauen

26. August 2020, 20:30 Uhr

Es ist nicht das erste Mal in diesem Prozess, dass es zu einem skurrilen Moment kommt. Doch am neunten Verhandlungstag entwickelt sich um eine Skizze eine Diskussion, die für viel Kopfschütteln sorgt. Was im Gedächtnis bleibt, sind aber auch wieder die eindrucksvollen Aussagen starker Frauen.

von Marie Landes, MDR SACHSEN-ANHALT

Wie viel Glück und Zufall kamen für die rund 50 Menschen in der Synagoge an diesem 9. Oktober nur zusammen? Eine der Fragen, die mir schon mehrfach während des Prozesses durch den Kopf ging. Eine Frage, die irgendwie naheliegend ist. Gleichzeitig fühlt es sich aber auch vermessen an, sich diese Frage überhaupt zu stellen. Schließlich scheiterte zwar der Anschlag auf die Synagoge. Ihr Leben mussten trotzdem zwei Menschen verlieren. Zwei weitere Menschen wurden schwer verletzt, andere kamen vielleicht ohne sichtbaren Wunden davon, haben aber bis heute mit dem Erlebten zu kämpfen. Warum Glück und Zufall? Bei der Befragung des ersten Zeugen wurde das heute noch einmal deutlich.

Er ist der Sicherheitsmann der jüdischen Gemeinde Halle. Am 9. Oktober war es seine Aufgabe, alle Besuchenden hinein zu lassen und das Video der Überwachungskamera zu beobachten. Er erzählt, dass die Tür zur Straße – die Tür, die hielt – zwar abgeschlossen war. "Aber von Innen steckten noch die Schlüssel", erzählt er. Die zweite Tür, die in die Synagoge führt, stand sogar offen. Hätten die Waffen des Angeklagten an der vorderen Tür funktioniert, hätte er seinen Plan ohne große Hindernisse durchführen können. Zum Glück – oder anders gesagt – wenigstens in diesem Moment versagten sie.

Mauer oder Zaun? Eine skurrile Diskussion

Die Befragung des ersten Zeugen ist an diesem Tag, der ähnlich wie gestern noch sehr emotional wird, auch der skurrilste Moment. Nicht wegen ihm, sondern wegen des Angeklagten-Verteidigers Hans-Dieter Weber. Nachdem der Sicherheitsmann ausführlich beschrieben hat, wie er den 9. Oktober erlebte und wie er und seine 83-jährige Mutter diesen einschneidenden Tag verarbeitet haben, eröffnet Weber eine Fragerunde, die für viel Kopfschütteln sorgt.

Anlass ist eine Skizze, die bereits gestern während der letzten Aussage einer LKA-Mitarbeiterin präsentiert wurde. Eine Skizze, die Wege, Türen, Mauer, Zäune des Geländes um die Synagoge zeigt. Eingezeichnete Linien, die der Verteidiger als "streitbar" bezeichnet. Er will es deshalb ganz genau wissen. Wohin geht es durch welche Tür? Ist der eingezeichnete Zaun wirklich ein Zaun oder eine Mauer? Wir alle haben die Fotos, die parallel von der Richterin noch einmal zur Erklärung auf den Bildschirmen präsentiert werden, schon mehrfach gesehen. Wahrscheinlich haben sogar die ganz normalen Besuchenden längst ein Bild im Kopf, wie es hinter der Mauer zur Synagoge aussieht. Weber offenbar nicht. Beziehungsweise: Er will es nicht. Er fragt immer wieder nach. Will Linien der Skizze nicht verstehen – dabei hat der Zeuge absolut nichts mit der Skizze zu tun.

Der Zeuge wirkt zunehmend genervt, die Anwälte und Anwältinnen, die Zuschauenden und ja, auch wir Prozessbeobachtende sind es. Als Rechtsanwältin Dr. Kati Lang eine Frage des Verteidigers beanstandet, wird es zwischen ihnen etwas lauter. Die Richterin greift ein, wenn auch nicht gerade vehement. "Herr Kollege Weber, wenn Sie sich die Örtlichkeiten angesehen hätten...", kommentiert Rechtsanwältin Assia Levin, die den Zeugen vertritt. Der Verteidiger fällt ihr ins Wort. Gut 45 Minuten kreist die Diskussion um Zäune, Mauern und Türen.

Starke Frauen – die Antithese zum Angeklagten

Neben diesem Exkurs hinterlassen heute vor allem wieder die Zeuginnen einen starken Eindruck. Sie sind gewissermaßen die Antithese zum Angeklagten. An den vergangenen Verhandlungstagen hatte dieser nicht nur sein rechtsextremistisches, rassistisches, antisemitisches Weltbild wiederholt dargestellt, sondern auch, dass er offensichtlich, ein – salopp gesagt – Problem mit Frauen und Feminismus hat. Beide Zeuginnen, eine von ihnen ist Christina Feist, finden nach ihren Schilderungen zum 9. Oktober 2019 deutliche Worte – an den Angeklagten, an die Politik und die Polizei. Beide befanden sich am Tag des Attentats in der Synagoge und waren extra für Jom Kippur nach Halle gekommen.

"Hat meine Familie nicht genug gelitten während des Krieges? Muss ich hier tatsächlich hervorheben, dass ich am Leben bin Dank meiner Großelterngeneration, die durch verschiedene Lager gehen musste?" fragt die zweite Zeugin dieses Tages. Sie ist gebürtige Polin, kam aber für ihr Studium der jüdischen Theologie nach Deutschland. "Mein Herz läuft vor Trauer über wenn ich sehe, dass Antisemitismus immer noch nicht beendet ist. (...) Heute ist es notwendig zu sagen: Stopp, es reicht!"

Anders als sie will und kann Christina Feist nach diesem Attentat nicht in Deutschland bleiben. Sie wohnt und promoviert bereits in Paris. Sie erklärt zum Ende ihrer Zeugenaussage, dass sie sich eine Zukunft in Deutschland nicht vorstellen kann. "Das ist sicher zu einem großen Teil dem Anschlag geschuldet, aber ist aber auch zu einem großen Teil der Polizei – wie unsensibel sie mit uns umgegangen ist."

Wie schon gestern kritisiert auch sie den Umgang der Polizei mit den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde. Sie berichtet vom fehlenden Verständnis für die Gläubigen und reservierten Hotelzimmern, die es nach dem Attentat für Beamte gab, aber nicht für den Rabbiner Jeremy Appelbaum Borowitz.

Dieser hatte bereits gestern erklärt, dass er zu Jom Kippur mit seiner Familie eigentlich in einem Nebenraum der Synagoge schlafen sollte, nach dem Anschlag dort aber nicht mehr hinein durfte – nicht einmal, um nötige Sachen für ein Baby herauszuholen. Die Zeugin berichtet zudem von einem offensichtlich rücksichtslosen Beamten, der die traumatisierte Gruppe noch im Krankenhaus befragen sollte.

Ein großes Danke an das Krankenhauspersonal

Wie gestern sind es sehr emotionale Aussagen, die von Applaus begleitet werden. Die beiden Zeuginnen finden aber auch sehr warme und dankbare Worte für die Mitarbeitenden des Krankenhauses St. Elisabeth und St. Barbara in Halle. Zu diesem wurden sie nach der Evakuierung der Synagoge gebracht. So erzählt Christina Feist mit tränengeladener Stimme, wie der ärztliche Leiter sie empfing: "Herzlich Willkommen! Sie sind hier nicht Patienten, sie sind Gäste." Es sei das erste Mal gewesen, dass sie sich sicher gefühlt hätten. Ein Ort, an dem sie kein Störfaktor waren, ein Ort an dem sie sein durften.

Und der Angeklagte? Er folgt den Aussagen durchaus interessiert. Kommentiert sie aber auch mit abfälliger Gestik und Mimik. Zu Wort meldet er sich bei einer Zeugin, die gemeinsam mit Jana L. die Straßenbahn verließ. Sie war nur wenige Meter hinter ihr und sah, wie der Angeklagte sie erschoss. Noch heute plagen die Hallenserin Schlafstörungen. "Ich will nur sagen, dass es mir leid tut", sagt der Angeklagte am Ende ihrer Aussage. Welch Hohn gegenüber all den anderen Menschen, die er treffen wollte, die er getroffen hat und deren Leben er für immer verändert hat, denke ich. Und die Zeugin? "Ok. Ich habe dazu nichts weiter zu sagen." Sie hoffe, dass er keinen Tag mehr in Freiheit verbringt. Auch für dieses Statement und den letzten Zeugen dieses Tages gibt es Applaus.

Der 73-jährige Rentner ist derjenige, der mit seinem Auto bei der am Boden liegenden Jana L. anhielt, um erste Hilfe zu leisten. Er floh nur, weil der Angeklagte ihn mit einer Waffe bedrohte. Rechtsanwalt David Benjamin Herrmann, der ganz andere Mandanten vertritt, spricht ihm dafür zum Schluss seinen Dank aus. "Wir haben hier ganz viel Schreckliches gehört und dass Sie den Mut hatten, in dieser Situation aus dem Fahrzeug zu treten, um einen Menschen zu retten, dafür haben Sie meine volle Anerkennung." Er hat nicht nur die Anerkennung dieses Anwalts, sondern auch die vieler weiterer Menschen an diesem Tag im Gerichtssaal.

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Über die AutorinMarie-Kristin Landes ist in Dessau-Roßlau geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur zog es sie für ein Politikstudium erst nach Dresden, dann für den Master Journalistik nach Leipzig. Praktische Erfahrungen sammelte sie bei der Sächsischen Zeitung, dem ZDF-Auslandsstudio Wien und als freie Mitarbeiterin für das Onlineradio detektor.fm. Nach ihrem Volontariat beim Mitteldeutschen Rundfunk arbeitet sie jetzt vor allem für MDR Kultur und das Landesfunkhaus Sachsen-Anhalt. Wenn sie nicht gerade für den MDR unterwegs ist, ist sie am liebsten einfach draußen. Zwischen Meer oder Berge kann sie sich dabei genauso wenig wie zwischen Hund oder Katze entscheiden.

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Quelle: MDR/olei,kb

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 02. September 2020 | 19:00 Uhr

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