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Polnische Soldaten installieren Stacheldraht entlang der polnischen Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad (Archivbild). Bildrechte: picture alliance/dpa/PAP | Artur Reszko

Grenze zu RusslandPolen: Stacheldraht statt kleiner Grenzverkehr

15. März 2024, 18:57 Uhr

Seit den 1990er-Jahren gab es zwischen Polen und der russischen Exklave Kaliningrad einen regen kleinen Grenzverkehr. Doch damit ist nun Schluss: Wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine haben die polnischen Behörden dem einen Riegel vorgeschoben. Was bedeutet das für die Menschen im polnischen Grenzland?

Langsam rollt der Müllwagen auf der Hauptstraße von Szczurkowo (Schönbruch), einem polnischen Grenzort in der Woiwodschaft Ermland-Masuren. Die Einwohner stellen ihre Müllsäcke vor ihre Häuser und achten dabei überhaupt nicht auf drei russische Soldaten mit Kalaschnikows, die auf einmal aus dem Gebüsch kommen. Die Männer bleiben jenseits des Grenzzauns stehen, der sich nur wenige Meter hinter den letzten Häusern von Szczurkowo entlangzieht, so, als wollten sie einfach die polnische Seite inspizieren. Wenige Minuten später verschwinden sie wieder hinter dem hohen Gebüsch und Bäumen. Die Einwohner bleiben unbeeindruckt von diesem plötzlichen "Besuch". Dennoch wissen sie gut – wie alle im Grenzland – dass sich ihre kleine Welt, so wie ganz Europa, in den vergangenen zwei Jahren stark verändert hat.

Der Grenzzaun in Szczurkowo: Manchmal zeigen sich jenseits des Zauns russische Soldaten mit Kalaschnikows. Bildrechte: Thomas Voßbeck

Messer neben dem Bett

Seit dem Beginn der russischen Aggression in der Ukraine verfolgt man in dieser Gegend deshalb die Nachrichten im Fernsehen und im Internet aufmerksamer als anderswo. Der Krieg tobt zwar tausend Kilometer von hier, doch gefühlt ist er viel näher. Das gepflegte Haus von Stefan Sycz in Ostre Bardo (Klingenberg) steht etwa 500 Meter von der Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad. Der 60-Jährige verbrachte in diesem – aus polnischer Sicht am Ende der Welt gelegenen – Ort sein ganzes Leben und hat sich dort immer wohlgefühlt. Bis zum 24. Februar 2022: "Nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges hatten wir wirklich Angst, dass die Russen auch in Polen einmarschieren. Wir wohnen ja direkt an der Grenze, das hätte für uns schlimme Folgen gehabt. Man ist doch wehrlos, die können einfach herüberkommen und uns umbringen. Sie können darüber lachen, aber in der ersten Phase des Krieges habe ich abends immer ein Messer neben mein Bett gelegt. Das ist immerhin eine Waffe", erzählt Sycz und versteckt seine wahren Emotionen hinter einem Lächeln.

Wie mit dem Lineal gezogen: die Grenze zwischen Polen und der russischen Exklave Kaliningrad. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Das Leben an dieser Grenze war nie eine Idylle. Wie mit dem Lineal wurde sie 1945 quer durch die bisherige Reichsprovinz Ostpreußen gezogen, um polnisch und sowjetisch gewordenes Gebiet voneinander abzutrennen. Mehr als vier Jahrzehnte lang bildete sie eine Art zusätzlichen "Eisernen Vorhang" mitten im Ostblock. Kein Grenzübergang, kein Austausch, kein Kontakt.

Kleiner Grenzverkehr

Erst Anfang der 1990er-Jahre wurden zwischen Polen und der Oblast Kaliningrad die ersten Grenzübergänge eröffnet. Der legale und illegale Handel blühte. Mit dem polnischen EU-Beitritt 2004 kam zwar die Visumpflicht, doch acht Jahre später schien die Einführung des visafreien kleinen Grenzverkehrs eine neue Epoche im Leben der Menschen dies- und jenseits der Grenze einzuleiten.

Von dem weit geöffneten Tor profitierten beide Seiten, erklärt Zdzisław Antoniak, Besitzer einer Pension im polnischen Grenzort Nowa Pasłęka (Neu Passarge). "So wie wir früher nach Deutschland zum Einkaufen gefahren sind, so kamen nun die Russen zu uns. Sie kauften Lebensmittel, Kosmetika und elektronische Geräte. Wir kauften bei ihnen Benzin und Zigaretten. Russische Gäste hatte ich bei mir auch schon, allerdings waren das überwiegend Menschen mit deutschen Pässen, die unterwegs zu ihren Verwandten in Russland waren", so Antoniak.

Soll illegale Grenzübertritte verhindern: die neue Grenzanlage zwischen Polen und der russischen Exklave Kaliningrad in der Nähe von Ostre Bardo. Bildrechte: Thomas Voßbeck

Da vor allem die russischen Grenzbeamten für eine entsprechende materielle Gegenleistung ein Auge zudrückten, boomte auch der Schmuggel. Nach vier Jahren des regen und nicht immer legalen Austausches setzte Warschau 2016 den kleinen Grenzverkehr aus. Die polnische Regierung erkannte in der russischen Annexion der Krim und der Besetzung der Ostukraine eine Rückkehr Moskaus zu seiner imperialen Politik. Der Grenzübertritt war fortan erschwert, aber nicht unmöglich. Abgesehen von der Pandemie, kam er erst 2022 zum Erliegen, nachdem der Kreml einen Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine begonnen und Polen darauf mit der Schließung seiner Grenzen für russische Bürger reagiert hatte.

Neue Grenzanlage

Seither hat sich an der Grenze viel verändert: Und zwar nicht nur, weil der polnische Grenzschutz stark Präsenz zeigt und praktisch jeder, der sich der Grenze nähert, mit den meist freundlichen und professionellen Beamten in Kontakt kommt. Ein deutliches Zeichen für die veränderte Situation ist die elektronische Sperranlage, die Polen an seiner gesamten, rund 200 km langen Grenze zu der russischen Exklave gebaut hat. Die installierte Überwachungstechnik sieht und hört alles, behaupten die Einheimischen. An die 3.000 Kameras, Bewegungsmelder und andere Geräte sollen zusammen mit einem zweieinhalb Meter hohen und drei Meter breiten Stacheldrahtverhau illegale Grenzübertritte von russischer Seite verhindern.

Russische Panzer wird die Grenzsperre im Ernstfall nicht aufhalten, doch das ist auch gar nicht ihre Hauptaufgabe. Mitte 2022 berichteten polnische Medien, Moskau könnte Migrationswillige aus dem Nahen Osten in das Kaliningrader Gebiet einfliegen lassen, um – ähnlich wie Belarus es ein Jahr zuvor versucht hatte – mit einer künstlich hervorgerufenen Flüchtlingskrise die Lage in Polen und der EU zu destabilisieren. Mit dem Bau der Sperranlage wollte Warschau den Kreml von diesem Gedanken abbringen.

Zu Szenen wie an der polnisch-belarusischen Grenze ist es bisher nicht gekommen. Ob das alleine der Grenzsperre zu verdanken ist, ist indes unklar. "Die Grenzbeamten sagen uns natürlich nicht alles, aber wir sehen, dass eine Völkerwanderung, wie es sie an der Grenze zu Belarus gegeben hatte, hier nicht stattfindet", erklärt Jarosław Iwicki. Er ist in Żywkowo (Schewecken) zu Hause – einem polnischen Ort, der zweieinhalb Kilometer Luftlinie von der russischen Stadt Bagrationowsk (Preußisch Eylau) entfernt ist. "Vor dem Bau des Zauns gab es hier vereinzelt Grenzverletzungen. Seit der Inbetriebnahme der elektronischen Grenzsperre – soviel ich weiß – keine einzige. Der Grenzschutz kommt zehn bis 20-mal täglich in unser Dorf. Wenn sich Fremde in der Gegend aufhalten, werden sie fast immer kontrolliert. Bei Autos mit auswärtigen und ausländischen Nummernschildern ist das die Regel", so Iwicki.

Hält im Ernstfall wohl keinen Panzer auf: die neue Grenzanlage zwischen Polen und der Exklave Kaliningrad. Bildrechte: Thomas Voßbeck

Selbst zu Sowjet-Zeiten sei die Stimmung wesentlich besser gewesen als heute, sagt Stefan Sycz in Ostre Bardo: "Meine Eltern haben manchmal mit der Erlaubnis des Kommandanten Gras im Grenzstreifen gemäht. Wenn eine russische Patrouille vorbeizog, unterhielten sie sich immer kurz mit den Soldaten. Das Verhältnis war korrekt", erinnert er sich. Seit Polen EU- und Nato-Mitglied ist, wollen oder – was wahrscheinlicher ist – dürfen die russischen Grenzer keinen Small-Talk mehr führen. Und als der Ukraine-Krieg ausbrach, verging auch vielen Polen im Grenzland die Lust darauf. Kann sich das in absehbarer Zukunft ändern? Stefan Sycz ist wenig optimistisch.

Bis Ende März wird im Kulturzentrum Ostpreußen in Ellingen (Bayern) die Ausstellung "Fotografien einer geteilten Landschaft" von Thomas Voßbeck mit Texten von Dawid Smolorz gezeigt. In Bild und Wort präsentiert sie Momentaufnahmen aus dem polnisch-russischen Grenzland.

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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | Heute im Osten | 23. März 2024 | 07:17 Uhr