NSU-Untersuchungsausschuss Polizei wollte Spitzel in Neonaziszene einschleusen

22. Mai 2020, 10:17 Uhr

Vor knapp 20 Jahren planten Thüringer LKA-Beamte den Einsatz von Spitzeln in der Neonaziszene. Diese sollten Informationen aus dem "Thüringer Heimatschutz" (THS) beschaffen. Zum THS gehörten damals auch das spätere NSU-Trio und weite Teile ihres Unterstützernetzwerks. Die Polizei hatte bisher immer dementiert, bezahlte Quellen in der rechten Szene in Thüringen geführt zu haben. Doch MDR THÜRINGEN liegen interne Akten vor, die deutliche Hinweise auf einen Einsatz solcher Spitzel geben.

Die Vorstellung der Polizeibeamten war klar: "Seitens der Soko 'ReGe' wird angeregt eine VE oder eine VP einzusetzen, um interne Erkenntnisse über den THS zu gewinnen." Was an diesem 28. September 2000 nüchtern auf Beamtendeutsch in einem Bericht des Thüringer LKA vermerkt wurde, ist eines der größten Fragezeichen in der NSU-Aufklärung: Hatte die Thüringer Polizei Spitzel oder verdeckte Polizeiermittler in einer der größten Neonazigruppen in Ostdeutschland eingeschleust?

Im "Thüringer Heimatschutz" hatten sich Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe radikalisiert. Er war der Zusammenschluss einer gewaltbereiten Thüringer Neonaziszene. Ihre Anführer und Mitglieder gehörten teilweise zum unmittelbaren Unterstützerumfeld des NSU. Darunter die NSU-Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben und Carsten Schultze, oder Ex-V-Mann Tino Brandt.

Ermittlungen gegen "Thüringer Heimatschutz"

Der "Thüringer Heimatschutz" war den Ermittlungsbehörden ein Dorn im Auge und sollte zerschlagen werden. Dafür wurde im August 2000, zwei Jahre nach der Flucht des Jenaer Bomben-Trios, im Landeskriminalamt die Sonderkommission "Rechte Gewalt" - kurz Soko "ReGe" - gegründet. Ihr gehörten zeitweilig bis zu sieben Beamte an. Ziel der Soko war es Beweise zu sammeln, um den THS gerichtlich verbieten zu lassen. Dafür ermittelten die Beamten wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung.

Diese Ermittlungen lassen einige Möglichkeiten zu. Dazu zählt auch der Einsatz von Spitzeln, die im Polizeifachjargon "Vertrauenspersonen" (VP) genannt werden. Doch eine solche Operation war in der damaligen Zeit heikel. Denn das Einschleusen von Informanten in der rechten Szene war in der Regel dem Thüringer Verfassungsschutz vorbehalten. Dies war auch nach der Enttarnung des NSU im November 2011 immer wieder die offizielle Sprachregelung des Innenministeriums auf die Frage: Hatte auch die Thüringer Polizei Quellen im Umfeld des NSU?

Zweifel an Aussagen des Innenministeriums

Allein die Mitglieder des NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen haben an dieser Aussage des Ministeriums bis heute ihre Zweifel. In diesen werden sie durch einen vor zwei Wochen bekannt gewordenen Vermerk des Verfassungsschutzes bestärkt. Er hält ein Gespräch vom 2. Oktober 2000 zwischen Beamten der Soko "ReGe" und Verfassungsschützern fest.

Die Soko-Ermittler wollten ihre Geheimdienst-Kollegen in Kenntnis setzen, dass sie einen "kooperationsbereiten Rechtsextremisten aus den alten Bundesländern importieren" wollten. Er sollte als Spitzel im THS eingesetzt werden. Jetzt wolle man wissen, ob dies mit den operativen Interessen des Verfassungsschutzes vereinbar sei. Zudem wolle die Soko einen Hinweis, an welcher Stelle im THS die VP "am effektivsten einzusetzen sei." Es gab also einen klaren Plan für den Einsatz einer Quelle.

Auftrag an LKA-Dezernat

Was dieser Vermerk nicht festhält ist, was aus diesem Plan geworden ist. Eine mögliche Antwort findet sich in einem geheimen Bericht der Soko "ReGe" an das Thüringer Innenministerium, der MDR THÜRINGEN vorliegt. Er ist datiert vom 26. Oktober 2000, also 24 Tage nach dem Treffen mit dem Verfassungsschutz. Dort steht, dass für den Einsatz einer VP eine "Zieldefinition erarbeitet" wurde. Was bedeutet, die Soko hatte eine bestimmte Person für den Spitzeleinsatz im Blick und wusste auch, was diese Quelle für Informationen sammeln sollte.

Dann schreiben die Beamten, dass diese Zieldefinition "an die entsprechende Diensteinheit gegeben" wurde.  Bei der Diensteinheit handelt es sich um das LKA-Dezernat 34 "Verdeckte Maßnahmen". Es gehört zu den sensibelsten Bereichen des LKA. In ihm werden die Quellen geführt, die die Polizei in kriminellen oder extremistischen Szenen angeworben hat. Zudem werden dort die verdeckten Ermittler, also getarnte Polizeibeamte, in solche Szenen durch das Dezernat eingeschleust.

Diese Diensteinheit wurde laut dem Bericht Ende Oktober 2000 mit dem Einschleusen einer Quelle beauftragt. So, wie es in der Besprechung mit dem Verfassungsschutzes drei Wochen vorher angekündigt worden war. Was die Unterlagen nicht aussagen, ist, ob die Operation gelang und welche Informationen durch den Spitzel gewonnen werden konnten.

Soko-Akten wurden vernichtet

Das im Jahr 2019 zu klären, dürfte für den NSU-Untersuchungsausschuss schwierig werden. Sämtliche Akten der Soko wurden nach ihrer Auflösung im Februar 2002 vernichtet. Auch die Vernichtungs-Vermerke, die noch Hinweise auf den Inhalt der geschredderten Akten geben könnten, existieren nicht mehr. Von den Unterlagen sind nur ein paar hundert Seiten interne Berichte und Protokolle der Soko an das Innenministerium übrig geblieben. Offen ist auch, ob sich im Aktenbestand des LKA-Dezernats "Verdeckte Maßnahmen" noch Unterlagen zu der beabsichtigten Operation der Soko "ReGe" aus dem Jahr 2000 befinden.

Es bleiben die ehemaligen Beamten der Soko als Zeugen. Doch der damalige Leiter und seine direkte Vorgesetzte sind beide tot. Am Mittwoch will der NSU-Untersuchungsausschuss nun einen damaligen Soko-Mitarbeiter befragen. Er war laut dem Vermerk vom 2. Oktober 2000 bei dem Treffen mit dem Verfassungsschutz dabei. Die Frage nach der Quelle im THS und dem NSU-Unterstützerumfeld ist auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil das Trio am 9. September 2000 in Nürnberg seinen ersten Mord begangen hatte. Der Blumenhändler Enver Şimşek wurde damals von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hingerichtet. Nur drei Wochen später begann die Soko "ReGe" mit ihren Plänen für die Einschleusung von Quellen in den THS.

Das Thüringer Innenministerium erklärte auf MDR THÜRINGEN-Anfrage, dass die Arbeit der Soko "ReGe" bereits im Abschlussbericht des ersten NSU-Untersuchungsausschusses im Thüringer Landtag ausführlich dargestellt worden sei. "Im Übrigen soll der anstehenden Beweisaufnahme, sowie den Feststellungen und Bewertungen im Abschlussbericht dieses Untersuchungsausschusses nicht vorgegriffen werden."

Quelle: MDR THÜRINGEN

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 03. Juli 2019 | 06:00 Uhr

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