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Das Altpapier am 13. Juli 2021Sehr geehrte, liebe ... mit hoffnungsvollen Grüßen

13. Juli 2021, 09:55 Uhr

Viele offene oder veröffentlichte Briefe kursieren: ein böser aus Brüssel, der die föderalistische deutsche Medienpolitik in Unruhe versetzen dürfte, einer an Bundeskanzlerin Merkel vor ihrer letzten Dienstreise in die USA und einer von ARD-Mitarbeitern, die gute Gründe für regelmäßige Politmagazine nennen. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Die EU-Kommission und die deutsche Medienpolitik

Politik ist das Bohren dicker oder, originalnäher: harter Bretter. Das über 100 Jahre alte Max-Weber-Zitat wird noch immer gerne bemüht. Und es trifft außer für die große, günstigenfalls breit wirkungsvolle Politik auch für die kleinen, wenig be- und geachteten Ressorts zu. Zum Beispiel die Medienpolitik. Mitunter scheint es so, als würden die handbetriebenen Bohrer, die es zu Webers Zeiten bloß gab, auf unterschiedlichen Seiten der Bretter angesetzt, oben, unten und seitwärts.

Die deutsche Medienpolitik ist bekanntlich recht stolz auf den Medienstaatsvertrag, der sich um Regeln für "Intermediäre" wie Google und Facebook bemüht, die zuvor unreguliert die Medienlandschaft umpflügen konnten. Um in seinen Auswirkungen eingeschätzt werden zu können, ist er noch nicht lange genug in Kraft. Er gilt ja seit noch nicht mal einem Jahr. Positiv formuliert, schafft er "erstmals einen einheitlichen Rechtsrahmen für alle Nachrichtenmedien, also sowohl traditionelle Print- und Rundfunkmedien sowie reine Internetmedien" (netzpolitik.org). Und jetzt droht die EU-Kommission mit einem Vertragsverletzungsverfahren, einem ihrer schärfsten Schwerter (um ungefähr im Bohrer-Bild zu bleiben), weil sie den MStV für unvereinbar mit EU-Gesetzen, bereits geltenden nud geplanten künftigen wie dem Digital Services-/Digitale-Dienste-Gesetz, hält. Das berichtet netzpolitik.org und verlinkt dazu einen "bösen Brief aus Brüssel" ("Sir", lautet die Anrede an den Adressaten Heiko Maas). Einer der Kritikpunkte sind eben die "Auflagen für Konzerne wie Google und Facebook":

"Die deutschen Regeln verstoßen aus Sicht der EU-Kommission gegen die seit zwei Jahrzehnten geltende E-Commerce-Richtlinie. Diese schreibt ein Herkunftslandprinzip fest: Da, wo ein Konzern wie Facebook seinen europäischen Firmensitz hat, soll er reguliert werden. Im Fall von Facebook, Google und anderen Internetkonzernen ist das Irland."

Heißt: Die EU-Kommission, die unter ihrer überraschend ins Amt gelangten deutschen Präsidentin noch dysfunktionaler wirkt als zuvor, setzt sich jedenfalls dafür ein, dass sich Irland weiterhin Datenkraken aus Kalifornien, aber auch China als Datenschutz-Schlupfloch andienen kann.

Um das, einerseits, nicht zu dramatisieren: Ein Vertragsverletzungsverfahren ist theoretisch möglich, doch hält netzpolitik.org-Korrespondent Alexander Fanta das für unwahrscheinlich, da Brüssel durchs Digitale-Dienste-Gesetz "Fakten schaffen" wolle. Ist das erst mal beschlossen, müssen alle EU-Mitgliedsstaaten es in nationales Recht umsetzen. Allerdings läuft ja, unter noch nicht sehr großer Beachtung, ein in seiner Bedeutung schwer einzuschätzendes Vertragsverletzungsverfahren, in dessen Rahmen irgendwann der Gerichtshof der Europäischen Union wird entscheiden müssen, ob das deutsche Bundesverfassungsgericht oder eben der EuGH mehr zu entscheiden hat (wie etwa der Europarechtler Ulrich Haltern in einem SZ-Beitrag [€] schilderte).

Andererseits, an tagespolitischer Komplexität mangelt es auch nicht: Zu den Projekten der EU-Kommission gehörte einmal die "europäische Digitalsteuer". Deutschland war dagegen, vor allem Frankreich dafür. Jetzt hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen diesen Plan offiziell "auf Eis gelegt", wie z.B. taz-Korrepsondent Eric Bonse berichtet: "Man wolle die Arbeit an einer globalen Mindeststeuer für Unternehmen nicht behindern, hieß es". Diese 15-Prozent-Mindeststeuer feiert der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz gerade sehr ("Das wird die Welt besser machen"), weil er den Plan vorantrieb und gemeinsam mit der US-amerikanischen Finanzministerin Yellen präsentierte. In der Tat mag bemerkenswert sein, dass sich die G20, die "führenden Industrie- und Schwellenländer", inklusive der USA, auf so etwas geeinigt haben. Allerdings setzte sich Yellen außerdem gegen europäische Steuern für bislang quasi steuerfreie US-amerikanische Datenkonzerne ein – mit schnellem Erfolg. Und uneins ist sich die EU, in der drei kleinere Mitgliedsstaaten gegen die Mindeststeuer sind: Estland, Ungarn  – und Irland, das außer Datenschutz- ja auch ein erfolgreiches Steuerschlupfloch ist.

ARD-Programmreform, Direktorenkonferenz, Altersversorgung

Weitere Briefe wurden öffentlich verschickt. "Sehr geehrte Intendant:innen, sehr geehrte Direktor:innen", schreiben "mehrere Dutzend Autor:innen, Journalist:innen und Mitarbeiter:innen der Politischen Magazine und Dokumentationen der ARD" an die Führungsetagen ihrer Anstalten. Sie protestieren gegen die kürzlich bekannt gewordenen Pläne, die ARD-Politmagazine im linearen Umfang zu reduzieren (Altpapier). "#UnserFernsehenEuerAuftrag" lautet der Betreff, uebermedien.de veröffentlicht diesen Brief:

"Es ist die kontinuierliche Berichterstattung über ein konkretes Thema, die den Wert der Politikmagazine ausmacht. So können sie immer wieder ein Schlaglicht auf bestimmte politische Zusammenhänge und gesellschaftliche Missstände werfen, die sonst in Vergessenheit gerieten. Die Autor:innen der Magazine ermöglichen es mit ihrer Fachkompetenz und ihren Recherchen, die Berichterstattung über einen Themenkomplex über eine lange Zeit fortzuschreiben. Das zeigt sich etwa bei der regelmäßigen Berichterstattung zu CumEx-Geschäften, zu Rechtsextremismus, zum Attentat auf dem Breitscheidplatz, die wesentlich zur Aufklärung beiträgt",

argumentierten die Unterzeichner. An der Liste könnte auffallen, dass "niemand von SWR und BR unterzeichnet hat". Könnte das damit zusammenhängen, dass ARD-Programmdirektorin Christine Strobl aus dem Südwesten kommt und in München ihren Dienstsitz hat? Es kann aber auch andere Gründe haben. Dieser Daniel-Bouhs-Thread führt weiter ("PR-technisch ist das mal wieder erstaunlich unterirdisch").

Für die SZ aus München behandelt Claudia Tieschky den neuen Brief gemeinsam mit der vorige Woche, ebenfalls in Brief-Form ("Liebe Intendant:innen, liebe Direktor:innen, liebe Chefredakteur:innen") veröffentlichten Stellungnahme von 45 Auslandskorrespondenten gegen die ebenfalls geplante Verlegung des ARD-"Weltspiegels", die natürlich auch Altpapier-Thema war. Selbstredend hat die SZ frische Strobl-Zitate. Befürchtungen seien unbegründet, denn es sollten sowohl die ARD-Auslandsberichterstattung im "Umfang gestärkt ... und um filmische Formate wie 30-minütige Dokus erweitert" werden als auch die Politmagazine.

Am heutigen Dienstag beginnt eine ARD-Direktorensitzung, auf der genau darüber diskutiert werden dürfte. Da passt noch ein Link zum aktuellen epd medien-Tagebuch, in dem Michael Ridder ausgewogen die kürzlich (Altpapier) veröffentlichten Grundgehälter der ARD-Intendantinnen und -Intendanten einordnet. Sie lägen "im Rahmen des international Üblichen" und eigneten sich einerseits wenig zur erwartungsgemäß angelaufenen Skandalisierung, schreibt er. Andererseits:

"Übersehen wird bei den Gehaltsskandalisierungen gern, dass auch die stattlichen Altersversorgungszusagen für Führungskräfte hohen Druck auf das Budget der Sender ausüben. So lag der Barwert der Pensionsverpflichtungen beim WDR für Intendant Buhrow, Justiziarin Eva-Maria Michel, Programmdirektor Jörg Schönenborn und Produktionsdirektor Wolfgang Wagner zum 31. Dezember 2019 bei insgesamt 11,1 Millionen Euro, wie aus dem Geschäftsbericht des Senders hervorgeht. Das zeigt, welche Summen auch auf Direktorenebene fließen."

Merkel für Assange?

Und noch ein Offener Brief geht rum, prominent unterzeichnet von Jakob Augstein bis Ranga Yogeshwar. Dazwischen unterschrieben Mitglieder recht unterschiedlicher Parteien wie Dietmar Bartsch und Gerhart Baum (sowie der Top-Prominente Karl Lauterbach!). Es ist der "Brief der 120 für die Freiheit von Julian Assange", aufgesetzt von Günter Wallraff. Adressatin ist die "Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin", die sich auf ihrem Abschieds-Staatsbesuch beim US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden bitte für die Freilassung des auf US-amerikanische Inititative in London eingekerkerten Julian Assange einsetzen soll:

"Es wäre eine starke, bleibende humanitäre Geste zum Ende Ihrer Amtszeit und für Präsident Joe Biden schließlich Gelegenheit, die Ära Donald Trump auch im Sinne des Schutzes von Presse- und Meinungsfreiheit gänzlich hinter sich zu lassen",

heißt es im Brief. Nüchtern ließe sich einwenden, dass Merkel sich für dieses Themenfeld öffentlich noch niemals engagiert und Biden in der Ära Barack Obama, in der Assange ja keineswegs weniger verfolgt wurde, eher im Gegenteil, eine tragende Rolle gespielt hatte. Aber wer würde sich den "hoffnungsvollen Grüßen" am Ende nicht anschließen?

Jetzt noch was Schönes, zumindest formal.

Der Journalismus im (bisherigen) dritten Jahrtausend

"Klick. Das war das Ende der alten Zeit. So um 2001 herum."

Das ist nun kein Offener Brief, sondern eine kleine, durchaus ein bisschen zu Herzen gehende Journalisten-Autobiografie in der netten Form einer Glosse, die außerdem neu bei uebermedien.de erschienen ist. Klaus Ungerer berichtet unter der Überschrift "Die Verleger, die Abwickler und ich" von der Entwicklung der klassischen Medienlandschaft, mit der es ab circa dem zweiten Jahr des laufenden Jahrtausends abwärts ging:

"Zuerst starb die Zeitung, die es nur im Internet gab, ein hippes Projekt, da war ich kurz ein Teil der Redaktion. Als ich ankam, war alles schon heillos zerstritten, man sprach von Intrigen aus der Chefetage, Geld gab es auch keins, manchmal kam man morgens rein und wurde von niemandem zurück gegrüßt."

Das dürfte die sehr ehemalige Netzeitung sein (bei der einst ja auch das Altpapier entstanden war; auch ich hatte dort, ein paar Monate lang intern, gearbeitet. Gegrüßt wurde in der Tat selten, aber gezahlt schon, meiner Erfahrung nach ...). Was für Trends in den beiden jüngsten Jahrzehnten vorübergehend galten, glossiert Ungerer dann auch und erfreut dabei durch elegante Verschlüsselung:

"Wochenzeitungen sind die Zukunft. Diese hier ganz besonders. Sie gehört einem Millionär, und der Millionär tingelt gern als 'Verleger' durch die Talkshows",

... und kam in diesem Altpapier auch schon vor. Diese bereits vollständig frei online verfügbare Glosse sollten Sie in jedem Fall lesen.


Altpapierkorb (von Verbrechern verhinderte Fernsehsendung, Verband kinderreicher Familien, Ditib, RTLs "Klima Update", Youtubes Empfehlungsalgorithmus)

+++ Auf der FAZ-Medienseite (Blendle) schildert Klaus Max Smolka ausführlich die Lage in den Niederlanden nach dem Mordanschlag auf Peter de Vries und der Räumung des RTL-Studios in Amsterdam: "Justizminister Ferdinand Grapperhaus sprach von 'sichtbaren und auch unsichtbaren Maßnahmen', die ergriffen worden seien. Einen 'neuen Tiefpunkt' sah [De Telegraaf-Journalist John] van den Heuvel darin. Auf Instagram schrieb er: 'Sie lesen richtig: Verbrecher sind in der Lage, eine Fernsehsendung zu verhindern und wiederum Angst zu säen.'"

+++ Der Verband kinderreicher Familien Deutschland e.V. bekommt einen Sitz im WDR-Rundfunkrat, berichtet spiegel.de und hält das für problematisch, da zum Beirat des Verbands ein Opus Dei-Mitglied und ein "emeritierter Bevölkerungswissenschaftler", der 2015 beim AfD-Bundesparteitag auftrat, gehören. Verbindungen zu Nathanael Liminski, dem Chef von Armin Laschets Staatskanzlei (und damit eigentlichen Medienpolitiker des nominellen Medienministers), der selber aus einer kinderreichen Familie stammt und inzwischen vier Kinder hat, liegen nahe.

+++ Hat der Spiegel eigentlich auch die am vorigen Mittwoch hier erwähnte rot-grüne Hamburger Entscheidung, die staatlich türkische Ditib in den NDR-Rundfunkrat zu holen, problematisiert? Nicht die Redaktion tat das, sondern der unerschrockene Sascha Lobo in seiner sehr lesenswerten Kolumne "Verstörende Gleichgültigkeit/ Von der linksbürgerlichen Islamismustoleranz", mit einem Link nicht zu spiegel.de, sondern zu mopo.de.

+++ Fußballturnier-Endspiele mit deutscher Beteiligung erzielten in Deutschland doch immer höhere Einschaltquoten als solche ohne deutsche Beteiligung (Tagesspiegel).

+++ Die Initiative "Klima vor Acht" hat nun auch mit der bereits erwähnten neuen ARD-Programmdirektorin Strobl gesprochen, allerdings ohne große Ergebnisse (dwdl.de). Unterdessen hat RTL mit der Ausstrahlung von "Klima Update"-Sendungen begonnen. Sie sind so kurz, dass öffentlich-rechtliche Sender so etwas eigentlich schon dann ausstrahlen könnten, wenn sie auf ein paar ihrer Eigenwerbe-Trailer verzichten würden.

+++ "Der Algorithmus steuert die Menschen zu diesen Inhalten, und wenn diese erst einmal 'drin' sind, bietet er immer extremere Ideen an", zitiert netzpolitik.org aus der Mozilla-Studie "YouTube Regrets/ A crowdsourced investigation into YouTube's recommendation algorithm", der zufolge Youtubes Empfehlungsalgorithmus auch gegen Youtubes eigene Richtlinien verstoße, und zwar in nicht-englischsprachigen Länder deutlich mehr als in englischsprachigen.

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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