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Das Altpapier am 3. Dezember 2021Der größte Wortbruch seit dem frühen Neolithikum

06. Dezember 2021, 16:24 Uhr

Julian Reichelt meldet sich bei Twitter und bastelt im Furor an einer Legende. Samira El Ouassil sieht einen Vertrauensbruch nicht im Versprechen zur Impfpflicht, sondern woanders. Und: Domino Day in den Alpen. Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Reichelts Rückkehr

Nach der kleinen Posse über seine Zukunftspläne hat sich der im Moment noch arbeitslose Schürzenjäger Julian Reichelt gestern zurückgemeldet. Am Tag zuvor hatte er mit Marvin Schade über seine berufliche (Servus TV?) und private Zukunft (Skiurlaub) gesprochen, und vielleicht ist er dabei wieder etwas auf den Geschmack gekommen, wenn es darum geht, in der Öffentlichkeit etwas Druck abzulassen. Müsste nun eine von einer Zeitungsredaktion trainierte künstliche Intelligenz einen Text über diese Rückkehr schreiben, würde er vermutlich so beginnen: "Julian Reichelt ist sauer. Richtig sauer."

Julian Reichelt ist richtig, richtig sauer – auf die Bundesregierung und auf alle übrigen im Politikbetrieb mitwirkenden Menschen, die in den vergangenen Monaten behauptet haben, es werde keine Impfpflicht geben. Und das nutzt er ganz nebenbei, um an einer Legende über seinen Abgang zu arbeiten. Sie lautet, "er sei über seine politische Linie gestolpert und nicht über seine heruntergelassenen Hosen", fasst turi2 treffend zusammen. Reichelts vierteiliger Tweet beginnt so:

"Ich weiß, wie viele Politiker es herbeigesehnt und befeuert haben, dass man mir die Möglichkeit nimmt, BILD als klarste und unüberhörbare Stimme des freiheitlichen Denkens zu verteidigen. Aber das wird mich nicht davon abhalten, klar zu benennen, was in unserem Land passiert (…)"

Gleich wieder in die Offensive. Das passt auch zu dem, was Kress pro in seiner aktuellen Ausgabe schreibt (€). Nachdem Reichelt sich bei seiner Rückkehr von seiner zwölftägigen Auszeit im Frühjahr beim Personal entschuldigt hatte, soll er im kleinen Kreis gesagt haben, er wisse überhaupt nicht, wofür er sich da entschuldigt habe.

Reichelt poltert, die Impfpflicht sei "der größte politische Wortbruch in der Geschichte der Bundesrepublik". Viel größer geht es nicht. Damit ist auch die toxische Aura zurück, die Reichelt bis Mitte Oktober über seine "Bild"-Schlagzeilen transportierte. Daniel Schönwitz nennt es in dieser verstärkten Form "das Tichy-Syndrom" und "Radikalisierung nach Rauswurf". Julius Betschka bemerkt: "Dieser inquisitorische Eifer, dieser heilige Zorn, diese unfassbare Hybris in diesem Thread von Julian Reichelt zur Impfpflicht, da bin ich ehrlich: Das finde ich erschütternd."

Den Vermerk "E-i-C BILD", Editor in Chief, hat Reichelt aus seinem Twitter-Profil gelöscht. Dort steht nun: "I’ll be back", das Zitat aus dem ersten Terminator-Film, falls es denn so gemeint ist. Zur Wirkung würde es passen. Allerdings: Beim Terminator sind bis zur Rückkehr sieben Jahre vergangen. Und eines kann man wohl schon sagen: Bei Reichelt wird es schneller gehen.

War es wirklich eine Impf-Lüge?

Aber was ist denn nun eigentlich mit dem gebrochenen Versprechen, es werde keine Impfpflicht geben, also der "Impf-Lüge", wie Reichelt sagen würde? Samira El Ouassil hat sich das Ganze in ihrer Spiegel-Kolumne mit etwas kühlerem Kopf angesehen. Man könnte "ganz unemotional" feststellen, das Versprechen sei nicht gehalten worden, schreibt sie. Einen größeren Vertrauensbruch sieht sie jedoch an anderer Stelle. Und dass es so kam, hat mit der Art und Weise zu tun, in der politische Botschaften übermittelt werden, nämlich möglichst so wasserdicht, dass die Reichelts des Landes, daraus keine verbogenen Schlagzeilen basteln können.

Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn Jens Spahn vor einem Jahr gesagt hätte: "In der aktuellen Situation sehen wir für eine Impfpflicht keine Notwendigkeit." Dann wäre die Schlagzeile gewesen: "Spahn schließt Impfpflicht nicht aus."

Im Rückblick hätte er es dennoch so sagen müssen. Aber: Jedes Versprechen sei "auch eine Haltung auf Grundlage eines Wissens über eine erhoffte Zukunft", schreibt Samira El Ouassil. Und bei der Einschätzung dieser erhofften Zukunft spielen wieder mal unterschiedliche Wahrnehmungsverzerrungen eine Rolle, die in der medialen Bewertung gern unterschlagen werden.

Christian Drosten wies am Mittwoch bei Twitter auf eine Stellungnahme des Robert-Koch-Instituts vom 8. Juli 2021 hin, in der es um eine zu erwartende vierte Welle, die Impfquote und die Notwendigkeit von Booster-Impfungen geht. In dieser Studie stehen Sätze, die im Rückblick einen Ausblick auf das geben, was wir nun erleben. Im Fazit der Einschätzung zur Impfquote schreibt das Institut etwa, es halte eine Impfquote von 85 Prozent in der Altersgruppe der 12- bis 59-Jährigen für möglich. Und wenn diese Quote erreicht werde, erscheine eine vierte Welle im Winter unwahrscheinlich. Das heißt: Erreichen wir diese Quote nicht, wird die vierte Welle wahrscheinlicher.

Aus dem Framing geht aber im Prinzip schon hervor: Wir schaffen das. Wenn man bedenkt, dass Menschen dazu tendieren, nach Bestätigungen ihrer Erwartungen zu suchen (Confirmation Bias) und man in die Bewertung die Tatsache mit einbezieht, dass im Rückblick schnell übersehen wird, dass bei der Entscheidung nicht nur diese Information vorlag, die sich im Nachhinein als wichtig herausgestellt hat (Rückschaufehler), dann kommt man zur Frage: Und was war mit den Medien?

Natürlich, da ist immer die Hoffnung, dass die Politik schon irgendwie mehr weiß und vorausschauender agiert, als man es selbst könnte. Aber Medien hätten die Chance gehabt, immerzu auf diese Gefahr hinzuweisen. Jens Spahn warnte im Juli vor einer vierten Welle, Angela Merkel ebenfalls. RKI-Chef Wieler warnte Anfang September.

Vielleicht muss man die Erzählung überdenken, dass nur die Politik mit Blick auf die bevorstehende Wahl von einer vierten Welle nichts habe wissen wollen. Das war sicher auch der Fall. Vieles hätte schon viel früher passieren müssen. Aber auch die Medienöffentlichkeit unterschätzte diese Gefahr zu dieser Zeit massiv. Man sprach über die Bundestagswahl und hoffte, dass die Impfungen schon irgendwie für einen besseren Winter sorgen würden. Die Umstände gaben Anlass zur Hoffnung, dass alles vorbei sein könnte.

In diesem Umfeld gab die Politik das Versprechen: Es wird keine Impfpflicht geben. Warum?

Samira El Ouassil:

"Gerade in der Pandemie ergibt sich bei jedem getätigten Versprechen das Problem der 'Diktatur der Dringlichkeit', wie es der Autor Gilles Finchelstein formuliert. Es wird von politischen Ansprachen eine glaubwürdige Gegenwärtigkeit eingefordert, die während einer Krisensituation schlicht nicht einlösbar ist."

Und je nachdem, ob man als Motiv nun Hoffnung oder den Blick auf die Wahl unterstellt, ergeben sich unterschiedlichen Deutungen. Im zweiten Fall wären wir bei Reichelt, der die größte politische Mega-Lüge in der Geschichte des Universums identifiziert (aus der Erinnerung zitiert), im ersten Fall könnte man sagen, wie Samira El Ouassil es macht:

"Im Grunde war der Satz 'Es wird keine Impfpflicht geben' eine Vertrauensgeste, weil er im Subtext sich fortsetzen lässt mit: '…weil wir keine brauchen werden, weil wir Sie alle für vernünftig genug halten'."

Daraus ergibt sich ein Vorwurf, denn in der Ankündigung liege auch ein implizites Versprechen, "das der Entschlossenheit bei der Eindämmung des Virus", also die "Behauptung, alles nur Mögliche zu tun, um es unter Kontrolle zu bringen".

Sich darauf zu verpflichten, statt irgendetwas zu versprechen, wie El Ouassil es fordert, würde allerdings ein anderes Problem mit sich bringen. Denn was wirklich möglich gewesen ist und gewesen wäre, darüber lässt sich im Nachhin ziemlich gut streiten.

Kurzschluss im Mediensystem

Was ist noch passiert gestern? Ach ja, die österreichische Regierung hat Domino gespielt. Erst ist Sebastian Kurz umgefallen, kurz darauf der Bundeskanzler, später der Finanzminister. Sebastian Kurz hat eine gute Geschichte gefunden, um seinen Rücktritt zu erklären: die Geburt seines Sohnes.

Ob das tatsächlich der Grund war, werden wir vielleicht nie erfahren, möglicherweise ergeben sich aber noch Hinweise, und das könnten zum Beispiel neue Enthüllungen sein, von denen Kurz oder die Parteiführung schon wussten, oder es könnten Neuigkeiten aus der Justiz sein, von denen Kurz und seine Sekundanten vielleicht schon jetzt etwas ahnen. Darauf, dass die Geschichte mit der Familie vielleicht doch nicht der einzige Grund sein könnte, deutet jedenfalls hin, dass zufälligerweise auch dem Finanzminister genau am gleichen Tag wie Sebastian Kurz die Erkenntnis gekommen ist, dass die Familie doch wichtiger ist als die Karriere. Auch er gab familiäre Gründe für seinen Rückzug an. Der Rücktritt von Kurz habe dafür den Anstoß gegeben, sagte er.

Laut Übermedien war Kurz nicht das erste Steinchen, das umgefallen ist. Der Titel des Beitrags von Jonas Vogt lautet: "Vor Sebastian Kurz ist schon sein Mediensystem abgestürzt", oder um im Bild zu bleiben, eben: umgestürzt. Vogt schreibt: "Die Story des Kanzlers Kurz muss man aber anhand seines Verhältnisses zu den Medien erzählen."

Ganz zentral ist darin der Strategiebegriff "Message Control", also das "Steuern der Kommunikation (…) von harmloser Professionalität (Minister widersprachen sich nicht mehr öffentlich) bis hin zu inakzeptablen Interventionsversuchen".

Vogt schreibt:

"Kurz-Kenner beschrieben den jungen Kanzler als von der Berichterstattung über sich selbst besessen und unfähig, Medien nicht in Freund oder Feind einzuteilen."

Aus so einer gesteuerten Inszenierung ergibt sich schnell ein Effekt jenseits des Tatsächlichen. Im Rückblick habe das System wahrscheinlich nie so viel Macht gehabt, wie ihm zugeschrieben worden sei. "Es war ein gut geöltes System, das aber auch deshalb funktionierte, weil alle daran glaubten", so Vogt.

Zu kippen begonnen habe es mit den Hausdurchsuchungen im Finanzministerium und dem Kanzleramt Anfang Oktober. Dann sei es bergab gegangen, ebenfalls in Begleitung der Medien, auch mit deren Schubkraft.

Das Dilemma des staatlich organisierten Belohnungssystems, des Inseraten-Handels, um den es im Altpapier mehrfach ging (zuletzt hier), das einen Teil der Probleme verstärkt, wird sich vermutlich so schnell nicht lösen, und das liegt laut Vogt nicht am grundsätzlichen Bewusstsein für die Probleme.

Dass dieses System, also Geld gegen eine wohlwollende Berichterstattung, "ein Skandal ist, da sind sich fast alle Journalisten des Landes einig". Aber letztlich habe die Debatte den Haken, und der liege darin, dass zwar alle gegen öffentliche Inserate seien, "aber insgeheim wissen, dass die Anzeigen Jobs in der Medien-Branche sichern". Einige Medien hätten die Krise nur deshalb überstanden. Vogt schreibt: "Das tut weh, ist aber die Wahrheit."

Und damit zum…


Altpapierkorb (CDU-Townhall, Drogenkonsum im TV, Scholz bei ProSieben, Valerie Weber, Deutsche Welle, Leistungsschutzrecht )

+++ Die CDU inszeniert ihre Kandidatensuche für den Vorsitz als "Townhall Meeting", also als Versammlung, in der nicht Moderatorinnen oder Moderatoren die Fragen stellen, sondern Menschen aus dem Publikum. Bekannt schon aus dem letzten Wahlkampf. Aber die Partei selbst richtet das alles aus, die ersten vier Fragen stellen Frauen, möglicherweise um das Ungleichgewicht bei den Kandidaten zu kaschieren. Am Ende ruft der CDU-Generalsekretär auf, Parteimitglied zu werden. Und Phoenix überträgt das Ganze, auch in anderen Medien erfährt man über diesen Hintergrund nichts oder kaum etwas. Christoph Sterz spricht darüber im Deutschlandfunk-Medienmagazin @mediasres mit der Medienwissenschaftlerin Marion G. Müller, die sagt, es müsse klar sein, von wem genau die gemachten Aufnahmen stammen.

+++ Lea Eichhorn ist für das NDR-Medienmagazin "Zapp" ins Frankfurter Bahnhofsviertel gefahren, um mit Menschen zu sprechen, die in der RTL II -Sendung "Hartes Deutschland" aufgetreten sind. Dort sind Menschen zu sehen, die vor der Kamera Drogen konsumieren. Ist das Aufklärung oder Voyeurismus? Die Medien-Ethikerin Claudia Paganini sagt mit Blick auf die gezeigten Menschen: "Wir schreiben die da fest in ihrem Elend, mit einem (…) sehr hierarchisch von oben nach unten gerichteten Blick, der im besten Fall ein bisschen Mitleid enthält."

+++ Fast zwei Millionen Menschen haben am Mittwoch "Joko & Klaas Live" bei ProSieben gesehen. Ein Mediziner erzählte von seinen Erlebnissen auf der Corona-Station, eine Long-Covid-Patientin von ihrem Leiden und Bald-Kanzler Olaf Scholz warb fünf Minuten lang fürs Impfen. Joachim Huber ist schwer begeistert. Er schreibt im Tagesspiegel, das Format steche heraus. "Es ist diese Direktheit, diese Unmittelbarkeit, es sind diese Emotionen, die einen nicht loslassen", so Huber. Die Sendung sei "Menschenfernsehen", "von Menschen für Menschen gemachtes Fernsehen." Stets dringe Mitmenschlichkeit durch, es werde der Beweis geführt, dass Menschen andere Menschen nicht egal, nicht gleichgültig seien. "Wenn immer die Rede von der Kälte in der Gesellschaft die Rede geht, dann passiert hier das Gegenteil, dann steigt die Temperatur", schreibt Huber.

+++ Die WDR-Programmdirektorin Valerie Weber verlässt den Sender. Stefan Fischer schreibt auf der SZ-Medienseite: "Webers Bilanz (…) ist gemischt. Die Literatur hat im Programm der Kulturwellen an Bedeutung eingebüßt. Andererseits hat sie dem Hörspiel einen täglichen Sendeplatz um 19 Uhr eingeräumt (der aktuell allerdings wieder zur Disposition steht) und für die Reihe Miniaturen der Zeit ein Dutzend Kompositionsaufträge für zeitgenössische Musik erteilt. Eines hat Valerie Weber immer klargemacht: Die Relevanz einer Sendung bemisst sich für sie stets auch am Zuspruch der Hörerinnen und Hörer."

+++ Nach den Antisemitismus-Vorwürfen der Süddeutschen Zeitung gegen Beschäftigte der Deutschen Welle hat der Sender eine externe Untersuchung in Auftrag gegeben (Altpapier am Mittwoch). Rundfunkrat und Verwaltungsrat des Senders begrüßen das, melden dpa und epd, hier nachzulesen bei der Jüdischen Allgemeinen.

+++ Dann noch zum Leistungsschutzrecht: Die Verwertungsgesellschaft Corint Media möchte von Facebook für die Nutzung ihrer Inhalte 190 Millionen Euro im Jahr haben. Das Unternehmen teilte am Donnerstag mit, man habe Facebook einen Lizenvertrag vorgeschlagen. Das hatte Corint im Oktober schon mit Google probiert, dort hielt man allerdings die geforderten 420 Millionen Euro für eine "haltlose Forderung". Facebook äußerte sich gestern noch nicht dazu.

+++ Nachdem die Rundfunkräte des Hessischen Rundfunks sich in der ersten Runde nicht einigen konnten, treffen sie sich heute zum zweiten Mal, um über die Nachfolge für den Intendanten Manfred Krupp abzustimmen. Michael Hanfeld schreibt auf der FAZ-Medienseite (€): "Auf der nach oben offenen Transparenzskala liegt das Verfahren etwa bei null. Dazu passt, dass die Wahl unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Der Rundfunkrat will künftig zwar öffentlich tagen, heute aber noch nicht. Fehlt nur noch, dass jemand die zwischendurch ventilierte Schnapsidee – angeblich der Wunsch anonymer 'Mitarbeiter' des HR – aufgreift, eine 'Doppelspitze' zu bilden."

Ihnen ein schönes Wochenende!

Neues Altpapier gibt es am Montag.

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