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Das Altpapier am 22. Dezember 2021Die Krise des Arguments

22. Dezember 2021, 12:43 Uhr

Viele Medien geben gern rechten Protestierenden aus Sachsen Raum, aber kaum der dortigen Zivilgesellschaft. Die AfD stilisiert einen Corona-Toten aus den eigenen Reihen zu einem Helden. "Die Story im Ersten" wird eingestellt. Ein Altpapier von René Martens.

Zu wenig Berichte über die sächsische Zivilgesellschaft

Medienkritik in auch eigener Sache findet man in den großen Nachrichtenmagazin-Sendungen von ARD und ZDF eher selten, und insofern ist es erfreulich, dass am Montagabend im "Heute-Journal" (ab 9:43) Derartiges anklang. In dem Beitrag wird zivilgesellschaftliches Engagement in Sachsen gewürdigt - und konstatiert, dass es für dieses bisher kaum "Resonanzraum" gibt.

Medien und Politik schauten "auf die Falschen, schon seit Pegida", heißt es in dem Beitrag mit Bezug auf dann folgende Aussagen des Politikwissenschaftlers Michael Lühmann. Ein längeres Statement aus dem Gespräch mit ihm hat das ZDF bei Twitter veröffentlicht.

Lühmann sagt, zivilgesellschaftliches Engagement in Sachsen gebe es "bis in die kleinsten Dörfer". Aber: "Die Resonanz in den Medien ist bisweilen sehr gering gewesen", ganz anders als es bei Pegida und Co. der Fall gewesen sei. Inwiefern ist das relevant? "Man braucht, wenn man sich zivilgesellschaftlich engagiert, irgendwann einmal ein Selbstwirksamkeitserlebnis, das über das Selbstbestätigen hinaus geht", so Lühmann weiter.

Ein anderer Punkt: Man müsse in Sachsen immer erinnern an die "gewaltvolle" Geschichte von "rechtsaußen" organisierter Demonstrationen, betont Lühmann. Seine Stichworte in dem Kontext unter anderem: Freital und Heidenau 2015, natürlich auch Chemnitz 2018. "Und jetzt, wo es mal wieder Morddrohungen gibt, ist man überhaupt erst bereit, da genauer hinzugucken", kritisiert der Politologe.

Im Bericht ist unter Bezug auf rechte Demos zudem erfreulicherweise von "sogenannten Spaziergängern" die Rede, es wird also nicht unkommentiert das rechte Wording übernommen - ganz im Sinne des Politikberaters Johannes Hillje, der am Wochenende gegenüber dem BR auf Folgendes hinwies:

"Es gibt viele Begriffe, die sich diese Bewegung anheftet, die eigentlich eine Form der Selbstverharmlosung erzeugen sollen. Unangemeldete Demonstrationen, oder Proteste oder sogar Fackelaufmärsche werden zu Spaziergängen umgedeutet. Das ist ja ein sehr harmloser, ein sehr bürgerlicher Begriff, mit dem sich viele Menschen identifizieren können."

Friedliche Gewalt

Und wo bleibt das Negative? Da wäre zum Beispiel eine Äußerung einer Sprecherin der Polizei Magdeburg, die im Nachgang einer Demonstration am Montag mal wieder (siehe Altpapier, Altpapier) zeigte, dass Redaktionen Mitteilungen oder Äußerungen von Sprechern der Polizei nicht als privilegierte Quellen behandeln sollten. Besagte Sprecherin jedenfalls bezeichnete besagte Demo in Magdeburg als "friedlich", obwohl Teilnehmende eine Polizeikette durchbrochen hatten. Die Erstberichterstattung der dpa hinterließ dann den Eindruck, es wäre tatsächlich alles friedlich gelaufen. Am Morgen des Folgetags hingegen veröffentlichte MDR Sachsen-Anhalt einen Bericht, in dem der Aussage der Sprecherin die Beobachtungen eines eigenen Reporters gegenüber gestellt werden.

Nun kann die dpa natürlich nicht zu jedem rechtsextremistischen Aufmarsch eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter schicken. Was aber schon möglich sein sollte: Dass jemand in der Agentur die Echtzeit-Berichterstattung etwa auf Twitter verfolgt.

Warum die Sprecherin ihre von Freunden des Nahkampfs aus dem Weg bzw. zu Boden gerammten Polizistenkollegen am Montagabend zumindest implizit veräppelte, entzieht sich meiner Kenntnis. Möglich aber auch, dass sie den Begriff "friedlich" eigenwillig interpretiert. So etwas wäre ja nicht völlig unüblich in diesen Zeiten, in denen Anhänger der größtmöglichen Form der Barbarei rufend vorgaukeln, sie stünden für "Frieden, Freiheit, keine Diktatur".

Wobei Freiheit der wohl am meisten missbrauchte Begriff sein dürfte. In diesem Zusammenhang noch eine neue Facette liefert uns aktuell der Kreisvorstand der AfD Stuttgart in einem Facebook-Post, in dem er dem ungeimpft an Corona verstorbenen AfD-Landtagsabgeordneten Bernd Grimmer nachruft: "Für uns ist er ein Held der Freiheit und der Liebe zur Wahrheit. Freiheit ist nicht umsonst."

"AfD-Parteikollegen heroisieren Impfgegner Grimmer" lautet die Überschrift der Stuttgarter Zeitung dazu. Der Opfer- und Märtyrerkult, der hier betrieben wird, bezieht sich recht deutlich auf die nationalsozialistische Ideologie, und so etwas findet man in offiziellen Statements der AfD nach meinem Eindruck sonst eher selten. Angesichts dessen, dass noch mehr Menschen aus diesem Milieu in den nächsten Wochen ihrem ganz persönlichen Stalingrad zum Opfer fallen werden, ist damit zu rechnen, dass die Öffentlichkeit solche vermeintlichen Heldengeschichten noch öfter zu hören bekommen wird.

Wenn der Himmel grün ist

Die FAZ geht auf ihrer heutigen Medienseite darauf ein, wie sich "das Redaktionsnetzwerk Deutschland gegen die Verbreitung eines gefälschten Zitat-Bilds wehrt". Einer der Verbreiter ist ein in rechten Kreisen beliebter Schlagersänger, das Opfer ist neben dem RND der vom Netzwerk interviewte CDU-Gesundheitspolitiker Erwin Rüddel. Aus dessen per Sharepic geteilter Äußerung "Ich rechne mit vollständiger Normalität ab März 2022. Bis dahin müssen die Ungeimpften abwägen, was ihnen wichtig ist" machten Fälscher eine irre Version: "Ich rechne mit vollständiger Normalität ab März 2022. Bis dahin müssen die Ungeimpften der Endlösung zugeführt werden."

Der FAZ-Artikel bezieht sich vor allem auf einen aktuellen RND-Beitrag von Imre Grimm, in dem er schreibt:

"Jede noch so absurde Behauptung wie die von der ‚Endlösung‘ (wirkt) plötzlich (…), als könne sie doch einen Funken Wahrheit enthalten. Wenn nichts mehr ‚wahr’ Der ist, ist die Lüge auch keine Lüge mehr. Deutungsmacht ist reale Macht. Wir erleben eine tiefe Krise des Arguments. Die Verfechter dieser postmodernen Wahrheitsauflösung behaupten dabei gern, letzte Mythen auf den Müll zu werfen und den Denkraum zu weiten."

Die "Symptome des Postfaktischen" hätten "nicht erst in der Coronakrise epidemische Ausmaße angenommen", schreibt Grimm weiter und zitiert in dem Kontext aus einem Artikel, in dem Marina Weisband 2017 für Die Zeit "die sich ähnelnden Methoden" der Trump-Regierung und der UdSSR beschreibt:

"Wenn ich Ihnen sage: ‚Der Himmel ist grün‘, dann ist es gar nicht so sehr mein Ziel, dass Sie mir auf Anhieb glauben. Mein Ziel ist es vielmehr, so häufig zu behaupten, der Himmel sei grün, bis Ihre Ressourcen, den Widerspruch auszuhalten, erschöpft sind und Sie einlenken und sagen: ‚Das ist Ihre Meinung. Ich denke, der Himmel ist blau. Es gibt wohl keine Möglichkeit, die Farbe des Himmels objektiv festzustellen.‘ Steter Tropfen höhlt den Schädel."

Im Zuge der Pandemie haben etablierte Medien Positionen à la "Der Himmel ist grün" meinem Eindruck nach nun in noch stärkerem Maße verbreitet als bei anderen Themen - was sich nicht nur auf fragwürdige Expertinnen und Experten bezieht, sondern unter anderem auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmern von rechtsextremen Demonstrationen, die zur allerbesten Nachrichtensendezeit zu Wort kamen und kommen. Die "Krise des Arguments" besteht auch deshalb, weil Journalistinnen und Journalisten während der Pandemie noch weniger als sonst willens oder in der Lage waren, für die Debatte relevante Argumente von irrelevanten zu trennen.

Zum Ende von "Die Story im Ersten"

Nachdem in den letzten Tagen hier schon das Ende der Medienkorrespondenz (zum Beispiel in diesem Altpapier) und das Ende der gedruckten Ausgabe des Jahrbuchs Fernsehen (in dieser Kolumne) Thema waren, bieten sich in der vorletzten regulären Altpapier-Ausgabe des Jahres 2021 auch ein paar Abschiedsworte zu der vor 21 Jahren eingeführten Dokumentations-Reihe "Die Story im Ersten" an. In einem für die letzte Ausgabe der Medienkorrespondenz verfassten Ausblick auf die Veränderungen, die die ARD-Programmreform für das Informationsangebot mit sich bringen wird, gehe ich unter anderem darauf ein.

Im Januar sind noch einige Ausstrahlungstermine auf dem bisher regelmäßigen Sendeplatz am Montag um 22.50 Uhr vorgesehen.

Es gibt zwar eine Art Nachfolgeformat, das "ARD Story" heißt, aber laut ARD-Informationen nur noch "gelegentlich" (und auf einem schlechteren Sendeplatz) laufen soll.

Obwohl "Die Story im Ersten"-Filme in den vergangenen Jahren oft unter einer starken Formatierung litten und die qualitativen Unterschiede groß waren, kann man hier aus TV-historischer Perspektive durchaus von einer sehr renommierten Reihe sprechen (von der im Altpapier zuletzt Anfang Dezember anlässlich des Films "Hass im Netz" die Rede war). Die Dokumentation "Warum Kinder keine Tyrannen sind", die eine der herausragenden fernsehjournalistischen Leistungen des Jahres 2021 war und weitere Berichterstattung über einen dubiosen Kinderpsychiater und Medienliebling möglich machte, lief im August übrigens unter dem Dach dieser Reihe.

Die Dokumentations-Redaktionen der ARD-Landesrundfunkanstalten, die bisher für das Format "Die Story im Ersten" produziert haben, sind nun die großen Verlierer der ARD-Programmreform.

Es bleibt ein Rätsel, warum die Reformplaner diese Redaktionen in den Sendeanstalten schwächen – gleichzeitig aber die Teams der Politikmagazine "Panorama" (NDR), "Monitor" (WDR), "Kontraste" (RBB), "Fakt" (MDR), "Report München" (BR) und "Report Mainz" (SWR) auserkoren haben, zusätzlich zu den Magazinen 30-minütige, auf die Mediatheken-Nutzung ausgerichtete Dokus zu liefern (siehe Altpapier). In diesem Zusammenhang werden die Magazin-Redaktionen als "ARD-Kompetenzzentren für Qualitätsjournalismus" gepriesen, und tatsächlich haben sie ja die Kompetenz, 30-minütige Dokus zu produzieren, weil sie das schon seit Jahren gelegentlich tun (siehe auch dazu das eben verlinkte Altpapier).

Warum die auf Dokus spezialisierten Redaktionen diese Kompetenz nach Meinung der ARD-Oberen nicht haben, ist eine andere Frage.


Altpapierkorb (Enissa Amani, Svenja Flaßpöhler und Konsorten, Georg Stefan Troller, Ranking der Dritten Programme)

+++ In einem Beitrag fürs SZ-Feuilleton (€) setzt sich Miryam Schellbach mit der Ankündigung der Comedian Enissa Amani auseinander, eine Geldstrafe für eine Beleidigung des AfD-Politikers Andreas Winhart nicht zu zahlen, sondern statt dessen (und nachdem sie ihre Twitter-Community um Einschätzungen gebeten hatte) eine 40-tägige "Ersatzfreiheitsstrafe" anzutreten. Anlass der strafrechtlich relevanten Äußerung Amanis - siehe dazu etwa auch ein Interview mit ihr bei stern.de - war unter anderem, dass der Rechtsaußen "in einer Wahlkampfrede 2018 über vermeintlich Krankheiten importierende Schwarze und klauende Albaner lamentiert" hatte. Schellbach schreibt unter anderem: "Formal sind die beiden Beleidigungen - Winharts rassistische Äußerungen auf der einen Seite, Amanis Kommentare auf der anderen - nicht miteinander verknüpft. Die Volksverhetzung, die Amani in Winharts Äußerungen sieht, verfolgt die Staatsanwaltschaft nur, wenn sie eine Störung des öffentlichen Friedens erkennt. Dass dies nicht der Fall sein soll, wenn schwarze oder albanische Einwanderer pauschal beleidigt werden, öffnet den Raum für Folgefragen: danach, wer eigentlich mitbestimmt, wie dieser öffentliche Frieden aussehen soll, und auch danach, wer sich bemerkbar machen kann, wenn er gestört zu sein scheint. Anders als in den USA gibt es in Deutschland keine Bestimmung der besonderen Verletzlichkeit marginalisierter Gruppen." Amanis Protest zeige, "dass Hassrede und symbolische Abwertung oft wie Kavaliersdelikte behandelt werden. Das zu skandalisieren, ist Enissa Amani 40 Nächte im Gefängnis wert".

+++ "Wenn wir davon ausgehen, dass die Philosophie versucht, durch die Prüfung der eigenen Aussagen und das Denken über das Denken zu hinterfragen, zu bekräftigen oder zu widerlegen, ob und dass ihre Aussagen tatsächlich etwas Tiefgründiges über die Wirklichkeit beinhalten, dann müsste zu allem eine Meinung zu haben beziehungsweise diese artikulieren zu können das Gegenteil davon sein. Genau das aber ist es doch, das den Philosophen in den Medien offenbar als solchen nicht nur auszeichnet, sondern sogar überhaupt erst qualifiziert". Das schreibt Samira El Ouassil bei Übermedien (€) über Philosophinnen und Philosophen, "die auf verschiedenen Kanälen breit zugänglich, aber mitunter nur noch gelegentlich auf dem Campus zu sehen sind – und die aufgrund ihrer Medienkompatibilität eine größere Popularität genießen", also natürlich unter anderem Richard David Precht und Svenja Flaßpöhler (siehe Altpapier).

+++ Dietrich Leder wirft für sein letztes "Journal" für medienkorrespondenz.de einen ausführlichen Blick auf den ORF-Dokumentarfilm "Auslegung der Wirklichkeit – Georg Stefan Troller", den 3sat anlässlich des 100. Geburtstages des Protagonisten am 13. Dezember ausstrahlte. Leders Kolumne wird nach der Abschaltung von medienkorrespondenz.de übrigens unter dem Dach des Filmdienstes fortgeführt.

+++ Der Tagesspiegel fasst das Jahresquoten-Ranking der Dritten Programme zusammen. Das erfolgreichste war das des MDR, Tabellenletzter ist der RBB.

Das letzte reguläre Altpapier des Jahres gibt es am Donnerstag. Ab dem 24.12. erscheinen monothematische Jahresrückblicke.

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