Cyberchondrie Die Angst klickt mit

24. September 2014, 18:55 Uhr

Kräuterweiblein und Wunderheiler von einst haben Konkurrenz bekommen. Im Zeitalter von Internet und Smartphone wird "Dr. med. Google" befragt. Bei Beschwerden klicken sich Menschen aus allen Altersgruppen zuerst durch das Internet und erproben sich selbst in der Diagnostik ihrer Symptome.

Es geht so leicht

Schätzungen zufolge haben fast zehn Prozent der Deutschen krankhafte Angst vor Krankheiten. Jeder 20. Patient leidet unter Symptomen, die sich aus medizinischer Sicht nicht erklären lassen. Und wenn die Wartezimmer mal wieder voll sind, der Arzt im Urlaub ist, oder man nur den Anrufbeantworter mit der Stimme der Schwester erreicht, hilft oft das Internet weiter. Es liefert so viele Informationen über Krankheiten wie noch nie. Hausmittel gegen Schnupfen? Für Google kein Problem. Ein Ziehen im Hals, plötzliche Bauchschmerzen, Atemnot … Symptome, die auf alles hin deuten können. Die Angst richtig krank zu sein, macht sich bei den Betroffenen vor den Bildschirmen breit.

Besonders Frauen schauen bei diversen Symptomen gerne zuerst ins Internet oder nutzen entsprechende Smartphone-Apps. Schon praktisch, aber ein großer Teil der Online-Diagnosen ist schlicht und einfach falsch, warnen Experten.

Die Suche im World Wide Web kann zu einer regelrechten Sucht werden. Fast sechs Millionen sogenannte Cyberchonder, also eingebildete Kranke durchs Internet, soll es mittlerweile in Deutschland geben. Laut einer Umfrage googeln 63 Prozent der Deutschen bei Gesundheitsfragen zuerst, bevor sie zum Arzt gehen.

Risiken und Nebenwirkungen

Auch der 22-jährige Paul aus Leipzig setzt sich an seinen Computer und fängt an zu googeln, wenn er erste Anzeichen von Unwohlsein spürt. Er recherchiert im Internet nach seinen Symptomen. Die Stichworte in der Google-Suchmaske sind Schwindel, Schweißausbrüche und Zeckenbiss. Vor wenigen Wochen hatte Paul eine Zecke an seiner Wade entdeckt und entfernt. Welches Krankheitsbild passt zu seinen Symptomen?

Google sucht und findet innerhalb von wenigen Sekunden Pauls Krankheit: Borreliose. Alle Kennzeichen passen. In einem Gesundheitsforum stößt er auf die Folgen der Erkrankung: "Das Bakterium kann auch die Nerven und Nervenwurzeln befallen. Brennende Nervenschmerzen, Lähmungen oder Gefühlsverlust in bestimmten Hautbereichen. Borreliose-Erreger verbreiten sich durch den ganzen Körper, so dass auch Herz und Gelenke betroffen sein können [….] potentiell lebensbedrohlich." Bei dem Wort "lebensbedrohlich" bekommt Paul Panik und die Symptome tauchen plötzlich verstärkt auf. Er entscheidet sich zum Arzt zu gehen und fährt mitten in der Nacht in die Notaufnahme. Nach stundenlangem Warten erhält er um sechs Uhr morgens dann die erleichternde Nachricht: Der Bluttest hat keine Auffälligkeiten ergeben. Trotz der guten Diagnose leidet Paul aber weiterhin an dem flauen Gefühl im Magen, den Kopfschmerzen und schwarz vor Augen wird ihm immer noch. Die Ärzte konnten keine Ursachen feststellen, also geht es in die zweite Phase der Internetrecherche. Denn Paul ist sich sicher: Er ist krank. "Meine Symptome sind klar, ich bin mir sicher, dass ich Borreliose habe."

Meistens googeln die Betroffenen, um sich selbst die Angst zu nehmen. Doch oft tritt das Gegenteil ein und Ängste werden zusätzlich geschürt. Man stößt auf Gesundheitsportale und Selbsthilfeforen. Vor allem die Hypochonder unter den Suchenden laufen schnell Gefahr, vom schlimmsten Fall auszugehen: Hirntumor! Dabei war es vielleicht nur ein Bier zu viel. Seiten wie "www.was-fehlt-mir.net" sind deshalb mit Vorsicht zu genießen. "In 30 Sekunden zur Online-Diagnose" lautet hier das Versprechen. Aus einer langen Liste von Symptomen können die eigenen ausgewählt werden, so, als würde man über den Belag der nächsten Pizza entscheiden. Irgendetwas wird immer passen.

Das Geschäft dahinter

Nach Ausführen der Web-Diagnose werden dann alle Krankheiten angezeigt, die vorliegen könnten. Die Erscheinung der Selbstdiagnose durch die Internetrecherche ist mittlerweile so verbreitet, dass es sogar einen Namen in der Fachwelt dafür gibt: "Cyberchondrie". Auch diese Krankheit kann natürlich jeder Betroffene wieder im Internet erforschen.

Beim Googlen nach Cyberchondrie stößt man auf ein Online-Medizin-Lexikon für Gesundheit, in dem Auslöser und Verlauf der Krankheit erläutert werden. Und natürlich gibt es auch Hinweise zur Behandlung: Es wird dazu geraten, rezeptfreie Medikamente gegen diese Angststörung einzunehmen. Der Link in diesem Kapitel führt übrigens direkt zu einer Onlineversandapotheke. Wer braucht da noch eine ärztliche Beratung oder einen leibhaftigen  Apotheker?

Für die Pharmaindustrie ist der Trend zur Selbstdiagnose mittlerweile ein lukratives Geschäft geworden. Gesundheitsexperten allerdings befürchten, dass sich durch die Möglichkeiten des Internets ein ohnehin schon großes Problem noch verschlimmern könnte. Es verwandelt Millionen Menschen mit diffusen Beschwerden in Hypochonder.

Bei den zahlreichen Seiten aus dem Internet handelt es sich keinesfalls immer um Hobbymediziner, die ihre Kristallkugel befragen. Darum gilt, auf die Glaubwürdigkeit der Quelle zu achten. Es ist wichtig, die Informationen im Internet kritisch zu hinterfragen. Durchaus können Internetseiten, wie beispielsweise die der AWMF, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., zur Informationsbeschaffung genutzt werden.

Kritisch wird es jedoch, wenn gänzlich auf die fachkundige Diagnose eines Mediziners verzichtet wird. Laien ohne medizinische Kenntnisse, sollten also nicht ausschließlich auf die Meinungen und Anweisungen des "Dr. Web" vertrauen. Schließlich bringt man ja das kaputte Auto auch lieber in eine fachkundige Werkstatt und wechselt nicht selbst den Motor nach Rezepten aus dem Internet.

Für alle, die dennoch auf die unzähligen Foreneinträge und Gebrauchsanweisungen zur Selbstheilung schwören: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie besser Ihren Arzt oder Apotheker.