Jörg Blech
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Interview "Wir verwandeln zu viele normale Lebensumstände in eine Krankheit"

Ein Interview mit dem Wissenschaftsjournalisten Jörg Blech

24. September 2014, 15:54 Uhr

Jeder Mensch ist krank, auch der Gesunde. Vergesslichkeit, Unlust oder Heißhunger, wer kennt das nicht? Die Pharmaindustrie macht daraus Krankheit und Diagnose. Für fast alle Symptome - von Jucken bis Kratzen - hat die Medizinwirtschaft eine Krankheit gefunden, um selbst zu überleben. Komplette Gesundheit kann also niemand mehr erreichen. Pillen gibt es für jede Beschwerde des Alltags. Der Wissenschaftsjournalist und Sachbuchautor Jörg Blech hat recherchiert, wie die pharmazeutische Industrie mit dem Erfinden von Krankheiten Geld verdient.

Gibt es überhaupt noch den gesunden Menschen?

Ein gesunder Mensch ist eigentlich nur jemand, den die Ärzte noch nicht gründlich untersucht haben. Sobald ein Patient zum Arzt geht, wird bei einer Untersuchung mit Sicherheit eine angebliche Krankheit gefunden.

Das heißt, dass jedes von der Norm abweichende Merkmal als behandlungsbedürftig eingestuft wird?

Manche Ärzte und pharmazeutischen Firmen können es nicht lassen, Patienten zu behandeln, die eigentlich gesund sind. Der ideale Patient ist der, dem eigentlich nichts fehlt, sich aber um seine Gesundheit sorgt. Er nimmt dann Medikamente ein, um Schlimmeres zu vermeiden. 

Werden dafür Krankheitsbilder erfunden beziehungsweise erschaffen?

Ja, ein Beispiel dafür ist der Cholesterinwert. Dieser Wert wird immer strenger betrachtet und deshalb sind immer mehr Menschen von der Krankheit betroffen. Schon heute leidet die Hälfte der Deutschen an einem zu hohen Cholesterinwert – weil der Grenzwert abgesenkt wurde.

Werden Krankheiten nur anhand von Richtwerten diagnostiziert? 

Krankheitsbilder können regelrecht fabriziert werden. Ein gebrochenes Bein ist ein gebrochenes Bein. Da ist es nicht möglich etwas zu interpretieren. Heutzutage ist es aber so, dass Krankheiten zunehmend zu einem Industrieprodukt werden, weil Unternehmen behandlungswürdige Zustände definieren. Ich habe das Gefühl, dass viele Krankheiten aufgebauscht werden. Die Menopause der Frau ist ein Paradebeispiel für das Fabrizieren einer Krankheit. Die gängige Meinung ist, dass eine Frau in der Menopause an einem Hormonmangel leidet. Eine ganze Generation von Frauen ist mit diesem Krankheitsbild aufgewachsen und ließ sich auch mit Medikamenten behandeln. Das analoge Krankheitsbild wird, mit einer gewissen Verzögerung, auch für den Mann fabriziert. Auch die Wechseljahre des Mannes wurden erfunden, um Geld zu verdienen. Der Arzt misst in diesem Fall den Testosteronwert des Mannes. Wenn dieser unter einer willkürlich festgelegten Schwelle liegt, dann leidet der Mann an einem Hormonmangel. Der Arzt verschreibt ein Testosteronmittel, und die Pharmafirma verdient daran. In allen Fällen leidet der Patient, denn dieser geht zur Behandlung und vertraut darauf, dass nur Krankheiten diagnostiziert werden, die wirklich eine Krankheit sind. Aber hier liegt das Problem: Es gibt viele Diagnosen hinter denen kein Krankheitswert steht.

In Ihrem Buch erwähnen Sie unter anderem das Sissi-Syndrom. Was hat es damit auf sich?

Das Sissi-Syndrom ist ein Paradebeispiel für eine erfundene Krankheit. Im Jahr 1998 hat eine Pharmafirma mit ihren Mitarbeitern behauptet, dass es Frauen gibt, die eine Art versteckte Depression haben. Frauen sind also depressiv, ohne dass man es ihnen anmerkt. Den Frauen wurde eine Krankheit angedichtet, die durch einen Schlag bekannt wurde. Um der Krankheit einen Namen zu geben, hat das Pharmaunternehmen nach einer Identifikationsperson gesucht. Dabei ist man auf die Kaiserin Elisabeth ("Sissi") gestoßen und hat das Syndrom nach ihr benannt.

Ist in diesem Punkt auch der Staat gefragt, der den Patienten vor fabrizierten Krankheiten schützen muss?

Ich fordere, dass es eine Art "Stiftung Warentest" für neue Krankheiten gibt. Der Staat muss sich mehr als bisher einmischen. Es müsste Kontrollen und Prüfungen von Krankheitsbildern geben, ob diese  überhaupt stimmig sind und einen Krankheitswert haben.

Wie kann der Patient sich vor erfundenen Krankheiten schützen?

Ich glaube, ganz wichtig ist die Aufklärung. Der Patient sollte wissen, dass Krankheiten nicht irgendwelchen Naturgesetzen folgen und auch nicht von Gott gegeben sind. Sondern dass es eben auch die Möglichkeit gibt, dass eine Krankheit aus finanziellen Interessen fabriziert werden kann. Das ist der erste Schritt. Ist man als Patient skeptisch, ist eine zweite Meinung eines Arztes besonders wichtig.  Natürlich ist nicht jede Krankheit erfunden, aber bei umstrittenen Krankheiten, sollte man vorsichtig sein. Letztendlich ist Wissen auf der Seite des Patienten die beste Medizin.