Lene Voigt
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Lene Voigt: Die sächsische Nachtigall

14. Juli 2022, 09:33 Uhr

Mit 15 begann Lene Voigt zu dichten und mit 32 Jahren konnte sie bereits von ihren Veröffentlichungen leben. Unter den Nazis geriet sie jedoch in Misskredit, weil sie die "sächsische Sprache verschandle". 1936 wurden ihre Gedichte als "jiddische" Machwerke verboten. Von 1946 bis zu ihrem Tod am 16. Juli 1962 lebte Lene Voigt in einem psychiatrischen Krankenhaus in Leipzig. Ihre Gedichte durften nicht gedruckt werden. Die sächsische Dichterin wurde vergessen. Erst 1983 wurde sie wieder entdeckt.

Es gibt nichts Ulkigeres als einen Sachsen, der sich geniert, einer zu sein.

Lene Voigt

Lene Voigt wurde am 02. Mai 1891 als Helene Alma Wagner in Leipzig geboren. Sie war die Tochter einer Haushälterin und eines Schriftsetzers. Sie besuchte die Volksschule und ließ sich anschließend, auf besonderen Wunsch der Mutter, zur Kindergärtnerin ausbilden. Aber die begabte junge Frau wollte etwas Anderes: "Vom Schrifttum angezogen, widmete ich mich dem Buchhandel, den ich von Grund auf erlernte." 1910 begann sie eine Tätigkeit als Verlagskontoristin im B.G. Teubner Verlag Leipzig und arbeitete Anfang der 1920er-Jahre auch einige Zeit im berühmten Insel Verlag.

"Nebstbei zäumte ich den Pegasus"

Lene Voigt als Baby
Lene Voigt als Baby. Bildrechte: Lene-Voigt-Gesellschaft e.V./MDR

Die Verlagsprokuristin, die 1914 den Orchestermusiker Otto Voigt geheiratet hatte, war seit früher Jugend allerdings auch dichterisch tätig gewesen. "Nebstbei zäumte ich immer schon den Pegasus", erzählte sie in den 1920er-Jahren einem Journalisten. "Schon mit 15 Jahren habe ich gedichtet und wurde sogar gedruckt. Es handelte sich um eine Turnvereinshumoreske." Seit 1923 konnte Lene Voigt von ihren Gedichten und Humoresken in sächsischer Mundart leben. Sie arbeitete als freie Schriftstellerin und publizierte in vornehmlich linken oder linksliberalen Zeitungen und Zeitschriften.

Produktives dichterisches Jahrzehnt

Mitte der 1920er bis Mitte der 1930er Jahre stand Lene Voigt auf dem Höhepunkt ihres literarischen Ruhmes. Ab 1925 erschienen in schneller Folge ihre ersten Bücher, u. a. die "Säk'schen Balladen I" und "Säk'sche Glassigger". Ihr privates Leben war aber von herben Schicksalsschlägen gezeichnet. Ihre Ehe mit dem einarmig aus dem Krieg heimgekehrten Otto Voigt scheiterte 1920, vier Jahre später dann die größte Tragödie im Leben der Dichterin: Ihr fünfjähriger Sohn Alfred starb an einer Hirnhautentzündung. 1926 lernte Lene Voigt den stellungslosen Opernsänger Karl Geil kennen, ihr treuer Begleiter starb jedoch nur drei Jahre später in einem Dresdner Krankenhaus.

"Nicht sächsisch, sondern jiddisch"

Erstaunlicherweise bedeutete die Machtergreifung der Nazis 1933 zunächst keine Beeinträchtigung des Schaffens von Lene Voigt, obwohl sie in den frühen 1920er-Jahren auch in KPD-Zeitungen wie der "Roten Fahne" publiziert hatte. Noch 1935 gab ihr Verlag A. Bergmann unbeanstandet ihr Buch "Leibzcher Lindenblieten" heraus. 1936 aber ließ der Radebeuler Lehrer Erich Rawolle in der Monatsschrift des NS-Lehrerbundes Sachsen ein Elaborat namens "Lene Voigt: Volkstum im Zerrspiegel" erscheinen. Einer seiner Vorwürfe: Die Voigt'schen Mundartformulierungen seien nicht sächsisch, sondern jiddisch.

Lene Voigt mit anderen Leuten an einem Tisch
Lene Voigt mit Freunden. Bildrechte: Lene-Voigt-Gesellschaft e.V./MDR

Ab Mitte der 1930er-Jahre mühten sich die Sächsische Staatskanzlei und das 1936 auf Geheiß des sächsischen Gauleiters Martin Mutschmann gegründete "Heimatwerk Sachsen", den "politischen Erziehungsauftrag der NSDAP" umzusetzen. Dem hehren nazideutschen Versuch standen jedoch aus ihrer beschränkten Sicht "Sachsenkomiker, Witzefabrikanten und verjüdelte Literaten" im Wege, die die "Verschandelung der sächsischen Sprache" verursacht haben sollten. Als besonders gefährlich stufte man ein "Lene Voigt, Leipzigerin und ehemalige Kommunistin (wohnt jetzt in Bremen). Ihre Machwerke, die massenhaft in die Öffentlichkeit gelangten, können nach zwei Gruppen unterschieden werden: a) Parodien und b) Karikierung des Sächsischen."

Über den schönen Satz: "Es gibt nichts Ulkigeres als einen Sachsen, der sich geniert, einer zu sein", den Lene Voigt 1928 geprägt hatte, konnten die deutschtümelnden Nazis überhaupt nicht lachen. Sie postulierten: "Die Voigt hat die schönsten Dichtungen der Weltliteratur durch gesuchte komische Situationen und Sprachluderei in die Minderwertigkeit und Lächerlichkeit hinab gezerrt. Das ist bewußte Zersetzung hoher Kulturgüter. Das ist Kulturbolschewismus ..."

"Diese Schundliteratur ist so gut wie beseitigt"

Im Dezember 1936 verbot das "Reichspropagandaministerium" die "Neuauflage der Bücher von Lene Voigt". Die sächsische Nachtigall antwortete darauf in der ihr eigenen Form:

'Ne Mundart lässt sich nich verbieten,
weil blutsgebunden bis ins Mark,
dr Volksmund selwer weeß zu hieten
sei Vätererbe drei un stark.
Ich mußte neie Mundartlieder
Landsleiten uff e Zettel schreim,
denn meine Schwestern,
meine Brieder
wolln fest mit mir verbunden bleim.

Erster Aufenthalt in der Psychiatrie

Porträt von Lene Voigt
Porträt von Lene Voigt. Bildrechte: Lene-Voigt-Gesellschaft e.V./MDR

Aber das half natürlich nicht. Lene Voigts Verlag musste sich den Nazis beugen und die die Bücher ihrer Autorin einstampfen. Im Mai 1937 wurde Vollzug gemeldet. Lene Voigt, die seit 1929 in Bremen lebte, und nie eine Großverdienerin gewesen war, hatte nun keinerlei Einnahmen mehr. In diese Jahre datiert der erste Aufenthalt Lene Voigts in einer psychiatrischen Klinik. Bei der Dichterin war 1936 "Verfolgungswahn" diagnostiziert worden. Nach der Entlassung aus der "Nervenklinik Schleswig" siedelte sich die beinahe mittellose Autorin zunächst in Lübeck an, später zog sie nach Flensburg, Hamburg, München und Berlin, ehe sie 1940 wieder in ihre Heimatstadt Leipzig zurückkehrte und ein winziges, möbliertes Zimmer bezog. Die Nazis ließen die angebliche Kommunistin nicht mehr aus den Augen und zogen sie zur Mitwirkung am "Endsieg" heran: Sie wurde "dienstverpflichtet" für die Druckerei Giesecke & Devrient.

Vermeintliche Nähe zu Walter Ulbricht

Auch nach dem Ende des Nazi-Regimes konnte Lebe Voigt nicht weiter publizieren. Weder in der sowjetisch besetzten Zone, noch in der DDR. Bis eine Lene Voigt wieder salonfähig war, hatten ausnahmslos alle in Frage kommenden DDR-Belletristik-Verleger mit abenteuerlichen Begründungen abgelehnt, sich der sächsischen Dichterin anzunehmen. Warum es zu diesem beschämenden Boykott kam, lässt sich leicht erklären: Fast alle Verlagschefs lebten in der Annahme, dass Voigtsche Mundart-Texte in Zusammenhang mit dem Sächsisch eines gewissen Walter Ulbricht standen. Nur deshalb bekam sie im Osten Deutschlands keine Chance. Trotz diverser Buchhändler-Empfehlungen an die DDR-Zensoren blieb die Dichterin geächtet.

Mundartdichterin Lene Voigt 6 min
Bildrechte: Lene-Voigt-Gesellschaft e.V.

Leben in der Psychiatrie

Die nirgends mehr gedruckte Dichterin, an Schizophrenie erkrankt, wurde 1946 ins Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie Leipzig-Dösen eingewiesen. Auch nach ihrer Heilung wohnte sie weiterhin im Krankenhaus – sie fühlte sich dort gut aufgehoben und musste sich um die Dinge des Alltags nicht mehr selbst kümmern. Von der Klinikleitung wurde sie als Buchhalterin und Botin beschäftigt. In ihrer freien Zeit dichtete Lene Voigt unverdrossen, unter anderem entstanden in diesen Jahren der "Sächsische Kleinkram" und die "1955er Musenkinder". Sie schrieb die Gedichte in kleine Schulhefte, und verschenkte sie an Leute, die sie mochte. "Im Laufe des Jahres 1962", schrieb ihr behandelnder Arzt in der Krankenakte, "wirkte sie müder als in den Jahren zuvor. Am 16. Juli 1962 trat plötzlich der Exitus letalis ein." Lene Voigt war 71 Jahre alt geworden. Ihr Grab befindet sich auf dem Leipziger Südfriedhof, seit 1985 verziert mit einem Grabstein, auf dem die Zeilen aus ihrem Gedicht "Unverwüstlich" stehen:

Grabstein von Lene Voigt
Grabstein auf dem Leipziger Südfriedhof. Bildrechte: Conrad Weigert

Was Sachsen sin von echtem Schlach, die sin nich dod zu griechn.

1983 erscheint erstes Voigt-Buch in der DDR

Es dauerte nach ihrem Tod 20 Jahre, ehe der Leipziger Verlag "Zentralhaus-Publikation" eine erste Auswahl aus ihrem Schaffen herausgab. Das gelang nur, weil er eine eigene Druckgenehmigung vorweisen konnte und niemand in der Berliner Ministeriums-Bürokratie fragen musste. Das erste Lene-Voigt-Buch der DDR hieß "Bargarohle, Bärchschaft un sächs'sches Gindlrblud" und erschien 1983. "Sind die Texte wirklich schon so alt?", fragte sich verwundert eine Kulturredakteurin der "Leipziger Volkszeitung" im April 1983. "Besonders da, wo Lene Voigt Kleinbürgerliches attackiert, scheinen ihre Texte von merkwürdiger Lebendigkeit."

Kurzvita Wolfgang U. Schütte Der 1940 geborene Publizist, Herausgeber und Redakteur Wolfgang U. Schütte hat sich dem Leben und Werk Lene Voigts verschrieben. 1983 brachte er das erste Buch der fast vergessenen Dichterin in der DDR heraus: "Bargarohle, Bärchschaft un sächs’sches Ginsdlrblud". Seither erforscht Schütte das Leben Lene Voigts und stöbert immer wieder verschollene Texte der sächsischen Dichterin auf. Wolfgang U. Schütte ist Herausgeber der sechsbändigen Lene-Voigt-Gesamtausgabe.

(Der Artikel wurde zuerst am 15.07.2020 veröffentlicht)

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