Illustration - ein junger Mann vor einem Haus.
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MDR INVESTIGATIV - Hinter der Recherche (Folge 60) Kaputte Kindheit, kaputtes Leben? Erwachsenwerden im Jugendhaus

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Vier Jugendliche aus Leipzig, die eine schwere Kindheit hinter sich haben. Sie alle leben jetzt im sogenannten Jugendhaus, wo sie versuchen, mit ihre ganz unterschiedlichen Probleme zu lösen. Thomas Kasper hat die jungen Erwachsenen ein halbes Jahr lang in dieser einzigartigen Einrichtung begleitet. Wie konnte das Jugendhaus helfen und wie geht es den Jugendlichen heute?

Ich bin hierhergekommen, weil es zu Hause ziemlich Probleme gab, finanziell auch viele Probleme. Ich musste die Hälfte meines Lohns immer abgeben und dabei zur Hälfte wahrscheinlich die Miete bezahlt.

O-Ton Justin

Ich war ja nicht direkt her gekommen, sondern mich war zwischendurch mehr oder weniger obdachlos. Ich habe in einem Obdachlosenheim gelebt, für zweieinhalb Monate, und ich war halt damals aber noch mitten in der Abi-Zeit. Und ich denke, dass ich das halt, wenn ich hier den Platz nicht gefunden hätte, ich das zum Beispiel nicht geschafft hätte.

O-Ton Lisa

-Weil ich einfach auch keinen anderen Ausweg mehr gesehen habe, habe ich dann auch zu den Drogen gegriffen. Und ich wollte auch wissen, wie es ist.
-Und wie wars?
-Scheiße.

Leon und Thomas Kasper

Also meine Eltern kenne ich nicht. Ich habe mit meiner Mutter sporadischen Kontakt durch meine Schwester. Sie hat den Kontakt immer noch aufrechterhalten können.

O-Ton Metin

Esther Stephan (ES): Justin, Lisa, Leon und Metin. Vier Jugendliche in Leipzig. Sie haben eine schwierige Kindheit hinter sich, alle auf eine ganz unterschiedliche Art und Weise. Das Jugendhaus in Leipzig will helfen. Wie, das schauen wir uns heute an.

Vorab aber noch eine Triggerwarnung: In diesem Podcast geht es unter anderem um selbstverletzendes Verhalten, Alkohol- und Drogenmissbrauch und auch um Gewalt.

Sie hören den Podcast "MDR Investigativ – Hinter der Recherche". In diesem Podcast sprechen wir mit Journalist*innen über ihre Recherchen, über das Thema und die Erfahrungen, die sie während der Dreharbeiten gemacht haben. Ich bin Esther Stephan und ich arbeite für die politischen Magazine des Mitteldeutschen Rundfunks. Und bei mir ist heute Thomas Kasper, der die jungen Erwachsenen im Jugendhaus in Leipzig ein halbes Jahr lang begleitet hat.

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Illustration - ein junger Mann vor einem Haus. 28 min
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Hallo Thomas!

Thomas Kasper (TK): Hallo Esther!

ES: Ja, man hört schon so ein bisschen. Du hast noch eine recht belegte Stimme. Du bist krank, ne.

TK: Ja, ja. Ich habe mich leider mit dem Coronavirus infiziert und liege seit 5 Tagen flach, mehr oder weniger. Aber jetzt geht es schon wieder.

ES: Okay, wir sprechen jetzt heute trotzdem und gucken mal, wie das funktioniert und machen ganz langsam.

Vielleicht können wir mal direkt einsteigen und über das Jugendhaus sprechen. Was ist denn das überhaupt?

TK: Na, das Jugendhaus ist so ein ziemlich spezielles Wohnprojekt für junge Erwachsene so zwischen 16 - 17 und 25 Jahren. Es gibt ja eine sehr breit gestreute Betreuungslandschaft in Deutschland, und viele Angebote ähneln sich. Aber dieses Haus ist besonders weil es Einzelwohnungen für Jugendliche anbietet. Also es sind zwei komplette Miethäuser, die von der LWB, der Leipziger Wohnungsbaugesellschaft, dem Verein Südpol zur Verfügung gestellt wurden. Und diese Wohnungen stehen quasi nicht dem freien Wohnungsmarkt zur Verfügung, sondern werden von dem Verein Südpol an Jugendliche und junge Erwachsene vermietet, die in problematischen Lebenssituationen sind. Und das Besondere ist, dass die ihre eigene Wohnung kriegen. Die kriegen Schlüssel, einen Mietvertrag, können die Tür hinter sich zu machen, abschließend und haben ihre Ruhe. Und ganz viele brauchen das. Die brauchen genau diesen Rückzugsraum. Auf der anderen Seite ist eben das Besondere, dass in diesem Haus eben auch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zur Verfügung stehen und eben auch die anderen Jugendlichen mit in diesem Haus wohnen mit ihren eigenen Geschichten. Das heißt, obwohl sie alleine wohnen und sich zurückziehen können, sind sie nicht wirklich allein. Also ich habe das erlebt. Bei den Dreharbeiten ist es manchmal, ich habe immer gesagt Klassenfahrtfeeling. Also die Türen fliegen auf, man trifft sich, man quatscht miteinander, unten gibt es eine Tischtennisplatte. Man kocht gemeinsam, feiert Party natürlich oder sitzt einfach im Treppenhaus oder vorm Haus, raucht eine Zigarette. Also es gibt eine wirklich starke Gemeinschaft, und zwar auch von jungen Menschen, die ähnliche Schicksale miteinander verbindet. Und trotzdem gibt es aber nicht diesen, was ja häufig in WGs ist, eine Gruppendynamik, also, wo sich Schwächere den Älteren unterordnen müssen beispielsweise oder wo Gruppendynamiken entstehen. Sondern jeder hat wirklich seine eigene Wohnung und sagt: So, jetzt geht es mir nicht gut. Ich ziehe mich zurück. Und das macht diesen besonderen Charakter dieses Hauses aus.

ES: Damit ich mir das so ein bisschen besser vorstellen kann und natürlich auch unsere Hörer*innen: Wie viele Menschen wohnen denn da?

TK: Ja, in diesem Haus gibt es 20 Wohnungen. Also sind zwei Aufgänge in dem Haus, jeweils zehn Wohnungen. Die haben zwei Zimmer und drei Zimmer. Also die sind nicht sehr groß. Die Zweiraumwohnungen haben, ich glaube 40, vielleicht 45 Quadratmeter Wohnfläche. Und da leben insgesamt, also in diesen Einzelwohnungen wohnen die Leute immer alleine, auch wirklich. Sie können eine Partnerin oder einen Partner mit nach Hause nehmen, für einige Tage oder auch mal eine Woche, aber nicht auf Dauer. Also es sind Einzelwohnungen, da wohnen diese Menschen, und dann gibt es zwei WGs, und insgesamt wohnen somit, das variiert mal, bis hin zu zwischen 20 und 25 Bewohnerinnen und Bewohner in diesen beiden Häusern.

ES: Du hast gerade am Anfang aber schon gesagt, also so im entferntesten Sinne betreutes Wohnen. Das ist ja jetzt auch nicht ganz unüblich. Trotzdem fällt das Jugendhaus in Leipzig so ein bisschen raus. Was denn das Besondere? Gibt es das auch in anderen Städten? So, in dieser Form?

TK: Also in Berlin gibt es ähnliche Projekte, aber viel kleiner. Mal drei Wohnungen und mal vier Wohnungen, die von Vereinen dann auch jungen Leuten zur Verfügung gestellt werden. Aber die sind zum Teil auch über die Stadtteile verteilt, also dass sie so kompakt in zwei Häusern sind, das ist relativ einzigartig. Also zumindest in Sachsen, das hat mir der Leiter dieser Einrichtungen Guntram gesagt, gibt es kein vergleichbares Projekt, und auch deutschlandweit dürften sie sehr, sehr rar sein. Das Besondere ist nochmal: also wirklich jeder kriegt einen Mietvertrag, kriegt seine eigene Wohnung, macht die Tür zu und hat seine Ruhe. Und wie ich schon vorhin sagte, sie brauchen ihre Rückzugsräume, haben mit Depressionen zu kämpfen, mit Panikattacken. Manchmal ertragen sie eben nicht die Gemeinschaft von anderen Leuten oder haben ein großes Tief, in das sie fallen. Beim Leon war das häufig so, da muss der einfach auch die Chance haben, seine Tür zuzumachen, sich zurückzuziehen. Zugleich sind sie nicht komplett sich selbst überlassen. Es gibt eben diese Betreuerinnen und Betreuer, insgesamt sechs Leute, das sind dreieinhalb Stellen. Ich wurde nochmal darauf hingewiesen, dass kann ich mal sagen, es hört sich so viel an. Sechs Betreuerinnen und Betreuer, aber tatsächlich 3,5 Stellen, die bezahlt werden. Und die schauen regelmäßig nach den Jugendlichen. Es gibt zum Beispiel einmal im Monat so etwas wie eine Wohnungsbegehung. Da gucken die, ist aufgeräumt, bildet sich Schimmel, wird die Wohnung gelüftet, sind da abgelaufene Lebensmittel, die sich schon verselbständigen, in den Kühlschränken oder in der Küche? Und das bringt so ein bisschen auch Strukturen, ein bisschen Druck zu den jungen Leuten. Ich habe das bei Leon erlebt. Als ich bei ihm mal drehen durfte, stand so ein Begehungstermin kurz bevor. Und da hat er tatsächlich aufgeräumt. Also ich kenne seine Wohnung, ich glaube, ich darf das sagen, ich kenne die ganz anders. Also da konnte man kaum treten drin. Also diese regelmäßigen Termine führen doch dazu, dass sie hin und wieder doch aufräumen. Und dass sie sich natürlich auch was sagen lassen von den Betreuerinnen und Betreuern. Dann gibt es regelmäßige Zusammenkünfte, alle 14 Tage, da werden Dinge im Haus besprochen, wie Nachbarschaftsstreitereien, die überall vorkommen. Der eine macht die Musik zu laut, der andere muss früh aufstehen, zur Schule gehen oder zur Arbeit. Und da werden so Konflikte besprochen. Auch gemeinsame Fahrten oder Freizeitaktivitäten, Grillfeste oder kürzlich letzte Woche waren sie zu einer Paddeltour unterwegs, also bei diesen 14-tägig stattfindenden Zusammenkünften treffen sich auch alle, begegnen sich natürlich, und das bringt so ein bisschen das Gefühl: wir gehören alle zusammen. Hier sind Leute, die sich um uns kümmern. Dieses Gefühl wird dabei auch vermittelt.

ES: Und wie kommen die Jugendlichen dahin? Kann man sich da ganz einfach anmelden?

TK: Sie kommen auf unterschiedlichen Wege dorthin. Vieles ist so durch Mund-zu-Mund-Propaganda inzwischen. Also dieses Haus ist bei Jugendlichen inzwischen relativ bekannt. Weil viele haben natürlich Freunde, die kommen dann auch zu eben besagten Grillfesten oder übernachten mal, machen einen Filmabend gemeinsam. Und man kennt das Haus, und viele stellen sich dann auch von selbst vor und sagen: Bei mir zu Hause geht es auch nicht gut, ich muss da weg, ich halte es nicht mehr aus. Habt ihr eine Wohnung frei? Andere werden vermittelt durch die Jugendämter. Das findet auch statt. Und wiederum andere werden vermittelt von Therapieeinrichtungen. Also Leute, die eine Therapie abgeschlossen haben, sei es eine Sucht oder eine psychische Therapie. Die werden dann von den Therapieeinrichtungen, wo auch diese Adresse bekannt ist, dorthin vermittelt. Also der Andrang ist riesig groß. Der Guntram sagte sie machen nie Werbung also sie haben keine Außenpräsentation außer ihrer Website, aber sie machen keine Werbung für sich, weil sie gar nicht die ganzen Bewerber aufnehmen könnten.

ES: Gerade die Ämter kennen dann das Jugendhaus wahrscheinlich auch schon ganz gut. Oder?

TK: Ja, also bei Justin war es so, dass er mit Hilfe des Jugendamtes dorthin vermittelt wurde.

ES: Genau, du hast jetzt schon so ein paar Namen fallen lassen. Es gibt vier Bewohner*innen, die begleitest du in deinem Film ganz besonders eng. Und das sind Lisa, Justin, Leon und Metin. Lass uns mal mit Leon anfangen. Der hat eine Drogenvergangenheit und sich auch zusätzlich immer wieder auch mal selbst verletzt. Wie ist das so weit gekommen?

TK: Ja, der Leon ist so ganz spezieller Typ. Also, der ist sehr groß, sieht gut aus, hat dunkle Knopfaugen und kann einen auch wirklich um den Finger wickeln. Hat es aber auch faustdick hinter den Ohren. Also, das kann ich sagen. Der ist der älteste von insgesamt elf Geschwistern. Er hat zehn Schwestern und Brüder, und seine Mutter war alleinerziehend. Im Zuhause gab es nur Streit, hat er mir gesagt. Und er als Ältester hatte immer die Verantwortung. Egal, was schiefging. Er bekam sofort immer den Stress, wurde angebrüllt, hat Strafen bekommen für Kleinigkeiten. Und da war er selbst noch sehr jung. Also mit sieben, acht, neun ging es los. Er hat mir Situationen beschrieben, beispielsweise die Mutter hatte auch Hunde. Sie hatte nicht nur elf Kinder, sondern auch noch mehrere Hunde in diesem Haushalt. Keiner kümmerte sich um die und die machten dann in die Wohnung, und die Mutter kam nach Hause. Dann war Leon, obwohl er gar nicht da war, aber er war schuld dafür, dass die Hunde nicht Gassi geführt wurden und bekam sofort wieder die nächste Strafe. Und irgendwann hat er das einfach nicht mehr ausgehalten. Also der wurde dann auffällig in der Schule. Und beschreibt er auch im Film ganz gut seine Karriere mit neun, das erste Mal in einer Psychiatrie und dann Kinderheim und wieder nach Hause und wieder Psychiatrie und immer hin und her. Also er sagte, er war am Ende nicht länger als ein halbes Jahr am Stück zu Hause. Und mit 16 hat er einfach die Schnauze voll gehabt und ist abgehauen, ist zu einem Freund gezogen. Dann zu einem anderen Kumpel ja, und dann begann seine Drogenkarriere. Also der hat dann alles genommen, also Crystal geballert und auch sehr viel getrunken. Und das hat er bis heute nicht wirklich im Griff. Dieses Suchtverhalten, dieses Suchtproblem.

ES: Darüber hinaus spricht er ja auch viel über die Selbstverletzungen, die er sich immer wieder auch zufügt. Wie gehst du denn als Reporter eigentlich damit um? In einem Interview, wenn jemand so etwas erzählt und dann später eben auch in der Postproduktion von dem Film?

TK: Es hört sich jetzt ein bisschen abgebrüht an, aber wenn während des Interviews er mir davon erzählt, dann will ich es auch sehen. Dann frage ich ihn auch, ob ich es filmen darf und bin froh, wenn er einwilligt. Gleichwohl ist es so: Ich bin ja selber Vater von drei Kindern, bewegt mich das natürlich unglaublich. Ich drehe viel so im sozialen Bereich, habe mit Haftentlassenen gedreht, mit dem Toni, oder mit den Leuten vom Hauptbahnhof in Leipzig. Sigi und die ganze Clique. Da gehen mir viele Geschichten auch nah. Aber diese Geschichten der Jugendlichen gehen mir als Vater nochmal besonders nah. Und da war es dann tatsächlich so, dass ich in der Postproduktion dann auch schon manchmal dachte: Mein Gott! Ich mache mir dann als Erwachsener selbst schon Vorwürfe. Also wie können wir Erwachsene es zulassen, dass Kinder so reagieren? Und also das nimmt mich total mit. Es macht mich wütend, aber auch natürlich unglaublich betroffen.

ES: Ja, das kann ich mir vorstellen. Dabei ist es ja, wie gesagt, nicht das erste Mal, dass du dich damit beschäftigt. Auch mit Drogenabhängigkeit. Also du hast für Exakt auch Alex zum Beispiel, mal begleitet. Secilia und du, ihr habt in Folge 21 dieses Podcast darüber gesprochen. Das ist die Folge "Crystal Meth - Wie eine Droge die Provinz im Griff hat". Also der Alex, der war er auch drogenabhängig und hat damals eine Therapie gemacht. Soweit ich mich erinnere, ist das damals alles gut gelaufen. Was macht das denn für einen Unterschied, wenn man jetzt im Jugendhaus wohnt, als drogenabhängige Personen?

TK: Der Alex, bei dem ist die Problematik anders gelagert. Also da geht es darum, dass er in eine Betreuungseinrichtung kam, wo nur drogenabhängige Jugendliche, also Minderjährige leben. Und die gibt es relativ selten auch im Deutschland. Und es ist eine Einrichtung in Sinntal in Hessen. Der Träger heißt Par-Se-Val. Und da kommen Jugendliche hin, so ab 13, 14. Also diese Jugendlichen werden sehr, sehr eng betreut. Das sind Tagesabläufe, die sie haben, die sind in 15 Minuten Abständen zum Teil getaktet, also frühmorgens aufstehen, ein Spaziergang durchs Dorf. Das ist kein Frühsport. Aber dass sie aufstehen, rausgehen, sich bewegen, dann müssen sie ihre Betten machen. Dann müssen sie ihre Zimmer herrichten. Dann gibt es Frühstück, Schule, Arbeitstherapie und so weiter. Also der Alltag ist von früh bis spät durchgetaktet, und das Ziel, das dahintersteckt, ist, dass diese Jugendlichen, die jetzt in der Pubertät stecken, schon mit einer Suchtproblematik behaftet sind. Dass die überhaupt Struktur und Alltag wieder erlernen. Und die könnten in einer Einrichtung wie dem Jugendhaus in Leipzig gar nicht leben. Also das würden die hier nicht schaffen. Im Jugendhaus sind sie auch ein bisschen älter. Also 17 ist schon eher der Ausnahmefall. In der Regel sind die Leute 18, 19, 20 wenn sie dorthin kommen. Und sie sind nicht so, ich sage mal kaputt, dass sie nicht ihren Alltag doch auf die Reihe bekämen. Also wenn sie nicht alleine wohnen können, dann können sie da auch nicht einziehen. Also da gibt es schon Abstufungen. Also deshalb auch: Wer aus einer Therapie kommt und als alleine wohnfähig eingestuft ist, der kann sich dort bewerben oder wird dorthin vermittelt. Also das ist so grob gesagt der Unterschied zwischen der Therapieeinrichtungen, wo der Alex hinkam, als suchtkranker Mensch und diesem Jugendwohnhaus in Leipzig.

ES: Und trotzdem sind die in Leipzig aber ja auch total liberal, eigentlich, wenn es jetzt um Rückfälle geht. Das habe ich gedacht, als ich dann Film gesehen habe, dass sie eben auch sehr viel Wert darauf legen, eben nicht zu bestrafen. Wenn dann jemand wie Leon zum Beispiel doch rückfällig wird.

TK: Genau also das ist ja ganz häufig so in Therapieeinrichtungen oder in betreuten Wohneinrichtungen, dass es so ein Dogma der Drogenfreiheit gibt und Beteiligte wissen, dass das illusorisch ist. Also jemand, der suchtkrank ist, kann jetzt nicht sagen: Okay, ich höre jetzt wieder auf. Sie sind einfach abhängig. Und insofern gehen Sie dort relativ tolerant und gelassen um. Gleichwohl gibt es natürlich ein Verbot. Also sie dürften natürlich dort nicht Drogen lagern, handeln oder irgendwelche wilden Partys feiern. Wenn jemand einen Rückfall hat, dann ist es eine Etappe auf dem Weg zur Gesundung oder zu einem cleanen, abstinenten Leben und es passiert einfach. Also Rückfälle gehören dazu. Und insgesamt sind die Betreuer ziemlich cool. Also die sind sehr gelassen und sprechen mit den jungen Erwachsenen auch wie mit Erwachsenen, also jetzt nicht wie mit Minderjährigen. Also sie begegnen ihnen auf Augenhöhe, und das fand ich ziemlich gut. Und gleichwohl können Sie ihnen natürlich auch immer wieder Lebenshilfe geben. Sie sind tatsächlich Elternersatz. Es geht um Betriebskosten, also jeder, der dort eine Wohnung hat, muss natürlich auch selbst seine Kosten regeln und tragen. Muss sehen, wie er die Miete bezahlt, wie er die Betriebskosten bezahlt, dann aber: Betriebskostenabrechnungen werden auch gemeinsam durchgeguckt. Oder überhaupt auch: Wie komme ich mit meinem Geld, das mir zur Verfügung steht, wie komme ich damit über den Monat? Und da gibt es von den Betreuerinnen und Betreuern schon sehr viel Hilfe auch und auch bei der Schuldenberatung. Also da stehen die einfach auch mit ihrem Fachwissen und ihrer Lebenserfahrung helfend zur Seite. Gleichzeitig werden die jungen Leute, die dort wohnen, aber nicht bevormundet. Und das ist, glaube ich, diese gute Balance, die die gefunden haben und die eben dieses Haus auch so einzigartig macht.

ES: Von den vieren, die du begleitet hast, muss ich einmal sagen, dass mich Lisa extrem eindruckt hat. Kannst du nochmal zusammenfassen, wie die eigentlich im Jugendhaus gelandet ist?

TK: Also Lisa hat eine ganz komplizierte Kindheit hinter sich. Da gab's traumatisierende Ereignisse, die ich nicht erzählen soll, aber die dazu führten, dass sie massive psychische Probleme hatte, bis hin zu Suizidversuchen. Sie war mehrfach in einer Klinik, in psychiatrischer Behandlung, und als sie 18 wurde, häuften sich auch die Konflikte mit der Mutter, der sie Vorwürfe für ihr bisheriges Leben gemacht hat. Die Mutter ist, ich habe sie nicht kennengelernt, aber Lisa hat sie als schwach beschrieben. Also die Oma ist in dieser Familienkonstellation der problematische Teil, glaube ich. Die Oma sehr streng, sehr fordernd und bringt dann eine gute Dynamik rein. Also um es kurz zu machen, als Lisa 18 wurde, häuften sich die Konflikte, und Lisa ist von zu Hause weg und war dann obdachlos. Also lebte einige Monate im Obdachlosenheim und war in der Zeit aber noch in einer Abi-Phase.

ES: Genau also das war das, was ich sagen wollte. Warum ich so beeindruckt war. Dass sie ja echt mitten in dieser Abi-Zeit aus dem Obdachlosenheim ins Jugendhaus gezogen ist. Allein, das irgendwie zu managen, stelle ich mir schon wahnsinnig krass vor. Auch obdachlos zu sein und es schaffen, noch zur Schule zu gehen, das Abi durchzuziehen, dann noch einen Umzug zu managen. Fand ich schon krass.

TK: Ja, die Lisa ist eine Starke. Also sie hat es geschafft. Und sie sagt ja auch selbst, das Jugendhaus hat ihr geholfen, überhaupt das Abi zu schaffen. Sie kam da rechtzeitig an, hat ihre Wohnung bekommen, und die Wohnung ist, ich will jetzt keine Jungen-Mädchen-Unterschiede machen, beim Justin war es auch ordentlich. Aber aber das war ein richtig schöne, gemütliche Wohnung. Also die war schön eingerichtet, da stand auch immer mal ein Blümchen auf den Tisch und Weihnachten der kleine Weihnachtsbaum und an den Wänden waren schöne Bilder. Und so das war irgendwie, sie hat es sich da wohnlich eingerichtet und fühlt sich da auch, glaube ich, sehr wohl. Und sehr geborgen.

ES: Mit im Haus wohnt auch noch Justin. Der ist quasi unteren Ende der Altersspanne, der ist erst 19. Und der hat trotzdem schon einen Riesenhaufen Schulden von seinen Eltern mitbekommen. Konnte das Jugendhaus ihm da helfen?

TK: Ja. Also das mit den Schulden, die man als Achtzehnjähriger übernimmt, das hat mich selbst auch überrascht. Das kannte ich so als Problem nicht. Und ich habe mich mal ein bisschen belesen. Und es gab gerade im April eine Anfrage der FDP an das Bundesarbeitsministerium. Und die haben bestätigt, dass in Deutschland 570.000 Minderjährige Schulden beim Staat haben. Und die belaufen sich auf 162 Millionen Euro. Und das ist eine Konstruktion, die eigentlich nicht möglich sein dürfte. Weil es 2018 einen Gerichtsbeschluss des Bundessozialgerichts gab, wonach eben 18-Jährige, wenn sie volljährig werden, nicht mit Schulden ins Erwachsenenalter starten dürfen. Aber diese Schulden laufen tatsächlich auf, wenn in der Regel alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern von ALG II, also dem Hartz IV, abhängig sind und beispielsweise eine Überzahlung bekommen haben. Und das war bei der Justin so. Die Mutter hat offensichtlich zu viel Hartz IV bekommen, hatte ihren Anteil zurückgezahlt, aber nicht Justins Anteil. Als Justin 18 wurde, bekam er einen Brief von der Inkassogesellschaft der Bundesarbeitsagentur. Und da war dann sein Schuldenbetrag aufgelistet.

ES: Gibt es da irgendeine Möglichkeit, ihn da rauszuboxen? Ich meine er selber ist da nicht dran schuld.

TK: Ja, genau. Es gibt eine einfache Regelung. Man könnte einfach in den Widerspruch gehen. Dazu braucht man natürlich aber eine gute Beratung, erstmal. Er lebte zu dem Zeitpunkt noch bei seiner Mutter, und mit der Mutter gab es auch nur Streit und Stress. Und die Mutter zog dann auch irgendwann aus. Die wohnten auch in einer zu großen Wohnung. Und Justin hatte natürlich mit der Mutter keine Partnerin, um über diese Schuldenproblematik zu sprechen. Und erst als er ins Jugendhaus kam, da war die Widerspruchsfrist schon abgelaufen, konnte er sich um seine Schulden kümmern, die zahlt er jetzt noch immer ab. Und er hat so einen Schuldenplan, mit den Betreuerinnen ausgearbeitet. Und ja, die Schulen werden jetzt nach und nach abgetragen. Aber prinzipiell ist es eine Problemlage, die ist natürlich katastrophal. Also Jugendliche, die sowieso schon aus so benachteiligten Verhältnissen stammen, dann beim Start ins Erwachsenenalter mit 18 diesen Schuldenbrief zuzustellen, also es einfach unter aller Sau, sag ich mal.

ES: Du hast diese Jugendlichen ein ganzes halbes Jahr begleitet. Wie hat denn das so insgesamt mit den Drehs geklappt? Ich kann mir vorstellen, dass es bei Menschen, die zum Beispiel drogenabhängig sind, dass da auch so eine Drehplanung vielleicht schwierig ist.

TK: Genau, da sind wir wieder bei Lisa. Also vieles hat dann über Lisa funktioniert. Also Lisa konnte ich immer anschreiben und sagen: nächste Woche würde ich mal wieder vorbeikommen. Wie sieht es bei euch aus? Kannst du etwas organisieren? Und ich hatte auch von den anderen die Nummern, aber wollte auch, dass die Jugendlichen sich so selbst untereinander abstimmen. Und das hat die Lisa immer ganz gut gemanagt. Es war so, dass ich sehr, sehr lange brauchte, um das Vertrauen der jungen Leute zu erlangen. Also man muss sich vorstellen, die haben ja alle schlechte Erfahrungen mit Erwachsenen gemacht, mit den eigenen Eltern und haben keinen Grund, mir jetzt als Fremden plötzlich zu vertrauen und ihre Lebensgeschichten zu erzählen. Und wir haben uns mehrfach getroffen und haben lange gesprochen, und ich habe auch weitestgehende Zugeständnisse gemacht, habe ihnen gesagt: Ihr könnt jederzeit beim Dreh sagen: Das ist jetzt eine Frage, die geht mir zu weit, beantworte ich nicht. Oder auch am Ende, nach Fertigstellung des Films bin ich hingefahren und habe ihnen diesen Film vorgestellt. Und wir haben uns ihn gemeinsam angeschaut und haben darüber gesprochen. Das war so ein Teil dieser Vorschuss-Vertrauens-Vereinbarung. Ich habe gesagt, ich werde nichts ins Fernsehen oder ins Netz bringen, was ihr nicht freigegeben habt. Und sie haben mir dann tatsächlich auch viel erzählt aus ihrem Leben, Und je länger wir uns kennengelernt haben, umso offener wurden sie. Und man sieht es ja dann beim Justin. Er hat uns ja zum Schluss überrascht mit seinem Coming-out. Und dann stand er da mit seinem Freund am Fenster und war so über beide Ohren verliebt, und die knutschten herum. Und ich sage: Du Justin, darf ich das filmen? Und er hatte so viel Vertrauen zu mir inzwischen, dass er gesagt hat: ja, mach. Und das war eine tolle Erfahrung. Also, es war aber ein Weg, der – um noch einmal auf deine Frage zurückzukommen - der nicht immer glatt lief. Also der Leon hat auch immer mal Drehs abgesagt oder hat sich entschuldigt oder Metin, den habe ich auch lange nicht gesehen. Also ich habe ihn schon gesehen, aber er hatte dann keine Lust oder als er dann arbeitslos wurde, seinen Job quasi geschmissen hat, da wollte er dann auch mit mir nicht darüber sprechen. Er fühlte sich da irgendwie schuldig oder so, obwohl ich seine Situation gut verstehen konnte. Aber er wollte dann mit mir nicht drehen, beziehungsweise wir haben uns verabredet. Und dann war da plötzlich keiner, also außer Lisa und Justin, die waren relativ zuverlässig.

ES: Der letzte Drehtag ist jetzt vermutlich schon eine ganze Weile her. Weißt du, wie es den vieren jetzt geht?

TK: Fangen wir an mit Lisa. Lisa hat tatsächlich ihre Ausbildung begonnen. An der Universität Leipzig, macht heute glaube ich eine Ausbildung zur Chemielaborantin und hat mir geschrieben, dass sie jetzt viel um die Ohren hat. Schule hat begonnen und ihr Ausbildungsort, also die Schule ist glaube ich in Radebeul. Dahin ist sie jetzt gefahren. Sie hatte mal gesagt, dass sie eigentlich den Wunsch hat wenn ihr das wirklich Spaß macht, und wenn sie dort Feuer fängt, dann würde sie auch Chemie studieren wollen oder an der Uni auf jeden Fall bleiben und dann dort weiter studieren. Der Metin, der ist doch nicht in die Gastro gegangen, sondern hat sich wieder selbständig gemacht als Bauhelfer und Montagearbeiter und dem geht es ganz gut, schreibt er. Justin hat sein zweites Ausbildungsjahr begonnen. Das erste hat er ganz gut abgeschlossen. Er hatte ein tolles Zeugnis, hatte ein paar Weiterbildungskurse im Sommer, und jetzt hat das zweite Ausbildungsjahr begonnen. Und wie gesagt, der macht auch seinen Weg. Und Leon, hatte einen Rückfall. Er ist von der Therapie entlassen worden und ist wieder in Leipzig, im Jugendwohnhaus. Immerhin darf er dort wieder hin zurück. Also er weiß, wohin er kann und landet nicht auf der Straße oder irgendwo in irgendeinem Obdachlosenheim. Ja, und ich drückt dem Leon die Daumen, dass er doch irgendwie die Kurve kriegt und ganz zum Schluss noch ein Satz, den die Lisa mir gesagt hatte. Ich hatte sie gefragt was können Erwachsene, was kann die Elterngeneration denn eigentlich besser machen? Und sie sagte den sehr klugen und fast schon weisen Satz: Dass Eltern Fehler machen, ist völlig normal. Was sie sich wünscht, ist, dass sich Eltern entschuldigen, dass sie ihre Fehler einsehen und dass sie Kindern und Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf Augenhöhe begegnen. Und das fand ich irgendwie eine gute Zusammenfassung.

ES: Lieber Thomas, vielen Dank und eine gute Besserung. Ruh dich gut aus und schon deine Stimme noch ein bisschen.

TK: Mach ich! Vielen Dank für dein Interesse und euer Interesse!

ES: Das war der Podcast "MDR Investigativ - Hinter der Recherche". Den Film "Im Krisenmodus - Erwachsenwerden im Jugendhaus", den finden Sie noch immer in der ARD Mediathek und bei YouTube. Da finden Sie auch die anderen Filme von Thomas. Zum Beispiel seine Reihe zu obdachlosen Menschen am Leipziger Hauptbahnhof "Betteln, saufen, sterben", zu der er damals auch eine Podcast-Folge gegeben hat. In zwei Wochen gibt es dann wieder eine neue Folge dieses Podcast, dann wieder mit Secilia Kloppmann. Machen Sie es gut, bleiben Sie gesund, tschüss!

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Exakt | 31. August 2022 | 20:15 Uhr

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