Junge Erwachsene Von Krise zu Krise: Leben im Jugendhaus

04. September 2022, 05:00 Uhr

Erwachsen werden ohne Unterstützung der Eltern – das ist für Tausende junge Menschen in Deutschland Realität. Fast immer kommen sie aus schwierigen Verhältnissen, nicht selten leiden sie unter psychischen Problemen oder sind Alkohol- und Drogenabhängig. Auf dem regulären Wohnungsmarkt – noch dazu in großen Städten – haben diese jungen Erwachsenen kaum eine Chance. Doch in Leipzig bietet ein Projekt Hilfe: Mit Wohnungen und Betreuung.

Lisa und Leon waren mit 18 bereits obdachlos. "Ich bin auch nie länger als ein halbes Jahr zu Hause geblieben", erzählt Leon. Das erste Mal sei er im Alter von neun oder zehn in einer Klinik gewesen. Er habe immer wieder zwischen Heim, Klinik und zu Hause wechseln müssen. "Das ging dann immer so weiter, bis ich dann älter wurde."

Leon hat zehn Geschwister. Seine Mutter war alleinerziehend, mit wechselnden Partnern. Zu Hause gab es viel Streit und wenig Liebe, erzählt er gegenüber MDR exactly. Seelischen Druck entlädt Leon bis heute durch Selbstverletzungen. "Ich habe halt viele Zigaretten an mir ausgedrückt", sagt er und schaut runter auf zahlreiche kreisrunden Narben an seinen Armen. "Manchmal habe ich nur das Feuer einfach an den Arm gehalten und habe geguckt, wann es anfängt, weh zu tun."

Irgendwann habe er dann zu Drogen gegriffen. "Weil ich auch keinen anderen Ausweg gesehen habe", sagt Leon. "Und ich wollte auch wissen, wie es ist." Der MDR-Reporter fragt: "Und wie war es?" Leon antwortet trocken: "Scheiße." Er habe zwar auch gute Sachen auf Drogen erlebt, doch heute gehe es ihm viel schlechter. "Das hätte man also weglassen können." Leon hat eine polytoxische Abhängigkeit: Alkohol und illegale Drogen.

Als MDR exactly den jungen Mann Anfang 2022 erneut trifft, hat er sich gerade selbst aus einer Suchtklinik entlassen – doch er will clean bleiben und er hofft, dass ihm die Bewohner und Betreuer des Jugendhauses dabei helfen. Außerdem will Leon im gerade begonnenen Jahr viel liegengebliebenes Aufholen – etwa auch eine Langzeittherapie: "Clean bleiben und die Therapie abschließen und dann auch eine eigene Wohnung beziehen."

Wohnungen sollen Jugendlichen länger zur Verfügung stehen

Eine eigene Wohnung – derzeit wohnt Leon im Jugendwohnhaus in Leipzig. Das ist ein Rettungsanker für in Not geratene junge Menschen und in Ostdeutschland ein fast einzigartiges Projekt. Im Stadtteil Connewitz stehen zwei komplette Miethäuser Leuten zwischen 17 und 25 Jahren zur Verfügung – vor allem mit kleinen Einzel-Wohnungen. Zudem werden die Bewohner auch durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter betreut.

Der Chef des Jugendhauses hat bereits vor 30 Jahren in Leipzig mit der Jugendarbeit begonnen. "Naja, wir haben angefangen und in besetzten Häusern gearbeitet und diese zur Legalisierung begleitet", erzählt Guntram Fischer. Es sei eine andere Form von Wohnen und von sozialer Arbeit gewesen. Aber dort konnten Jugendliche – die keine Wohnung oder kein Zuhause hatten – auch länger wohnen. Daraus sei die Idee für das heutige Jugendwohnprojekt entstanden: "Für uns als Verein ist es wichtig, Wohnungen anzumieten und diese längerfristig Jugendlichen zur Verfügung zu stellen", erklärt Sozialarbeiter Fischer.

Abi-Zeit und dabei im Obdachlosenheim

Es ist ein Projekt, von dem auch Lisa profitiert. "Ich bin hier, weil ich zu Hause verschiedene Probleme hatte", sagt die 20-Jährige. Doch dort sei sie nicht direkt hingekommen. "Ich habe für zweieinhalb Monate im Obdachlosenheim gelebt. Ich war aber damals noch mitten in der Abi-Zeit. Und ich denke, wenn ich hier den Platz nicht gefunden hätte, dass ich das zum Beispiel nicht geschafft hätte."

Nun überlegt Lisa, was sie mit der erreichten Hochschulreife anfangen möchte. Nebenbei muss sie Schulden beim Jobcentern abbauen – Schulden, die sie von ihrer Mutter übernommen hatte. "Ich möchte gern eine Ausbildung oder Studium anfangen", sagt die junge Frau und blickt in die Zukunft. Sie wolle sich da möglichst stabil reinfinden. Denn nebenbei solle ihre Therapie weitergehen. "Weil jetzt ist gerade noch: Dann kommt das, dann kommt das… Und da ist es ganz gut, dass wir halt hier sind." Denn wenn sie wirklich allein in ihrer Wohnung sitze und es komme etwa wegen der Schulden zu einer Vollstreckung: "Dann flippe ich wahrscheinlich für mich allein aus. Deshalb bin ich ganz froh, dass noch ein paar andere Leute da sind."

Tausende Jugendliche sitzen in Deutschland auf der Straße

In Deutschland gibt es mindestens 40.000 Minderjährige und junge Erwachsene, die von Obdachlosigkeit bedroht sind oder bereits auf der Straße sitzen. Was fehlt sind Kleinstwohnungen. Diese bieten den Jugendlichen, die oft auch traumatisiert sind, Rückzugsräume.Genau dort setzt das Leipziger Jugendwohnhaus an. Die Leipziger Wohnungsbaugesellschaft LWB stellt dem Verein Südpol dafür 20 Wohnungen zur Verfügung. Der Bedarf allein in Leipzig sei aber viel höher. Der Leiter des Jugendwohnhauses, Guntram Fischer, sagt, man könnte locker vier solcher Häuser hier in Leipzig betreiben. Die Warteliste beim Jugendhaus sei lang.

Die Zeit im Jugendhaus ist auf zwei Jahre begrenzt. Lisa, die Kümmerin, hatte vor kurzem für einen Mitbewohner eine Wohnung im Netz gefunden, damit dieser ausziehen konnte. Nun – kurz nach Ostern 2022 – hat sie Leon vor einem weiteren Rückfall bewahrt.

"Vorgestern war es wieder soweit, wo ich schon wieder alles hinschmeißen wollte und dann mich besaufen wollte", berichtet Leon. "Also ich saß da in meiner Wohnung und einfach komplett Chaos im Kopf." Alles habe innerlich auf ihn eingeschlagen. "Und da ist logischer Weise der erste Ausweg: Ich muss saufen. Habe ich aber nicht gemacht." Lisa sagt: "Da kannst du stolz auf dich sein."

Beginn einer Ausbildung an der Uni

Sechs Wochen später – im Mai – ist Leon Patient einer großen Suchtklinik. Das sonst leicht aufgedunsene Gesicht wirkt straffer und Leon wie ausgewechselt. Schneller als gehofft, konnte er seine Langzeittherapie beginnen. "Ja ich bekomme jetzt Medikamente gegen die Depression und Angststörungen und Panikattacken und so was", sagt Leon. "Ich bin teilweise noch überfordert, weil es ist auch ziemlich viel ist manchmal. Aber ich fühle mich gut und mir hilft das hier wirklich."

Zu seinen Freunden aus dem Jugendwohnhaus hält er Kontakt – anders als zu seiner Familie. Auf seinem Handy sind zahlreiche Sprachnachrichten von Lisa und den anderen Bewohnern. In der Klinik in Wermsdorf wird Leon sechs Monate bleiben – wenn er durchhält. Danach möchte er seinen Hauptschulabschluss nachholen und eine Ausbildung beginnen, am liebsten als Kindergärtner. Doch das wird wohl nichts, aufgrund seiner Vorstrafen.

Lisa hatte dagegen den Zuschlag für ein Medizinstudium in Ungarn bekommen – und sich dann doch dagegen entschieden. Sie bleibt in Leipzig und beginnt eine Ausbildung an der Universität. Sie kann sich ein Leben ohne die Leute aus "ihrem Haus" kaum noch vorstellen: "Für mich ist es auch einfach wichtig, zu helfen, wo ich kann und vor allem wachsen mir die Leute auch ans Herz. Und das Wichtigste ist, dass wir uns gegenseitig haben."

Quelle: MDR exactly/ mpö

Dieses Thema im Programm: MDR+ | MDR exactly | 15. August 2022 | 08:00 Uhr

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