SelbstbestimmtVergeblich gesucht in Erfurt: Barrierefrei und bezahlbar wohnen
Deutschlandweit fehlen bezahlbare Wohnungen. Aber richtig schwer wird es, als Mensch mit Behinderung eine passende Bleibe zu finden. Besonders in Erfurt und ganz Thüringen haben Betroffene kaum Chancen, wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) ergab. Woran das liegt und welche Alternativen es andernorts, etwa in Leipzig, gibt, haben wir mit "Selbstbestimmt"-Host Tan Caglar erkundet. "Wie geht besser wohnen?", heißt die neue Folge des inklusiven Formats, ab jetzt zu streamen in der Mediathek.
"Die Wohnung ist eigentlich ein Kompromiss, sagt Sabrina Kliesch. Die 41jährige Erfurterin ist auf einen Rollstuhl angewiesen, sie lebt mit Mann und Tochter auf 60 Quadratmetern in einer Wohnung, die einige Barrieren hat. Die Fenster kann sie nur schwer alleine öffnen, dafür sind die Griffe zu weit oben, im Bad kann sie sich kaum drehen, ins Schlafzimmer geht es nur über einen schmalen Gang. Seit 12 Jahren sucht sie eine Alternative, aber jetzt drängt es aus Kostengründen wirklich. Wegen ihres Index-Mietvertrags: Immer, wenn die Inflation steigt, wird die Miete angehoben.
IW-Studie: Besonderer Mangel an barrierefreiem Wohnraum in Thüringen
Sabrina Kliesch steht mit allen größeren Wohnungsanbietern Erfurts in Kontakt und schaut sich ständig auf dem freien Wohnungsmarkt um. Beim Filtern in der Onlinesuche werden aus 200 verfügbaren Wohnungen schnell 12, die als barrierearm noch in Frage kommen. Zu Besichtigungen kommt es selten, weil sich oft schon im Vorgespräch herausstellt, dass es doch zu viele Barrieren gibt: etwa die Einbauküche, die nicht mehr angepasst werden darf oder die Feuerschutztür am Haus-Eingang, die sie gar nicht alleine öffnen könnte – oder es hapert am Preis.
Sabrina Kliesch ist Sozialarbeiterin und bezieht Rente, ihr Mann Ronny Rolapp ist Zerspanungstechniker. Ihr gemeinsames Einkommen ist zu hoch für den Wohnberechtigungsschein, aber zu knapp für den freien Wohnungsmarkt – und Preise um die 14 Euro kalt pro Quadratmeter, die inzwischen aufgerufen werden. Günstige Wohnungen, wie sie die Kommunale Wohnungsgesellschaft oder die Genossenschaften anbieten, gibt es derzeit keine. Auch weil Sabrina Kliesch und Ronny Rolapp, wie andere Menschen auch, das Viertel, in dem sie leben, selbst bestimmen möchten.
Nicht nur in Erfurt, in ganz Thüringen gibt es sehr wenige barrierefreie Wohnungen. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) analysierte die verfügbaren Daten und legte kürzlich das Ergebnis der Studie vor, wonach im Freistaat von 100 Menschen, die eine barrierearme oder barrierefreie Wohnung brauchen, nur 16 eine Chance darauf haben. Deutschlandweit liegt der Schnitt demnach bei immerhin 33 von 100.
Stereotypen wirken fort: "Behinderte leben nicht in Familien"
Insgesamt fehlen hierzulande laut IW-Studie rund zwei Millionen barrierefreie Wohnungen. Trotzdem erfüllt nur ein kleiner Teil der Neubauten dieses Kriterium. Und ein Zugzwang im Bestand umzurüsten, existiert angesichts der Wohnraummangels offenbar nicht wirklich: In Erfurt gebe es nur zwei Prozent Leerstand, bekam Sabrina Kliesch einmal bei ihrer Suche zu hören. So bleibt alles beim Alten, auch weil Stereotypen weiter wirken: "Etwa, dass Menschen mit Behinderungen nicht in Familie leben. Bestimmte Rollen sind nicht vorgesehen. So gibt es dann, wenn überhaupt, eben immer nur barrierefrei oder barrierearme Ein-Raum- oder Zwei-Raum-Wohnungen", bedauert Sabrina Kliesch.
Wider die Bauordnung?
Wieviele barrierefreie Wohnungen in Erfurt existieren, weiß die Stadtverwaltung nicht, verweist nach MDR-Anfrage aber auf die Thüringer Bauordnung, nach der "in Gebäuden mit mehr als zwei Wohnungen" "die Wohnungen mindestens eines Geschosses barrierefrei erreichbar sein" müssen. Und: "In diesen Wohnungen müssen die Wohn- und Schlafräume, eine Toilette, ein Bad, die Küche oder Kochnische sowie die zu diesen Räumen führenden Flure barrierefrei, insbesondere mit dem Rollstuhl zugänglich, sein." So weit die Theorie.
Leipziger Architekt: Barrierefreiheit als Selbstverständlichkeit begreifen
In Leipzig lässt sich auch keine konkrete Zahl in Erfahrung bringen, dafür gibt es deutlich mehr praktische Beispiele. 2022 waren laut Stadtverwaltung knapp zwei Drittel der neu gebauten Sozialwohnungen in Leipzig barrierefrei oder rollstuhlgerecht. Dass diese Art zu bauen insgesamt nachhaltiger für alle ist, betont der Architekt Dirk Stenzel, der gerade für die Genossenschaft "Inklusiv Leben" ein Haus mit 10 Sozialwohnungen komplett barrierefrei geplant hat: "Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, die geändert werden müssen. Zum Beispiel gibt es hier eine Rampe, um vom Hof ebenerdig in das Gebäude reinzukommen. Wenn man so etwas von Anfang an mitdenkt, wird es nicht teurer."
Teurer als geplant wird der Bau, weil die Preise aufgrund Inflation, gestiegener Materialkosten und Kreditzinsen gestiegen sind. Glücklicherweise sprang die Kommune mit einer Sonderförderung ein. Es ist, wenn man so will, eine Vorzeigeobjekt, dass Barrierefreiheit als Selbstverständlichkeit auffasst, was Architekt Dirk Stenzel so erklärt: "Es geht darum, dass es völlig egal ist, in welcher Wohnung Menschen mit oder ohne Handicap wohnen, sondern darum gemeinschaftlich in diesem Haus wohnen, so dass diese Grenze zwischen mit und ohne Handicap so ein bisschen verschwimmt."
Gefunden in Regensburg: Eltern gründen WIR-Genossenschaft
Was aus so einem Ansatz werden kann, zeigt das Ausnahme-Projekt "Wohnen Inklusiv Regensburg"-Haus (WIR). Darin leben 75 Menschen mit und ohne Behinderung, alt und jung, in eigenen Wohnungen und doch zusammen. Das Projekt erlaubt Rückzug und Gemeinschaft – und das in dem Maß, wie es die Bewohnerinnen und Bewohner möchten. Das Haus ist genossenschaftlich organisiert und geht auf eine Elterninitiative zurück.
Die vier Gründerinnen und Gründer wollten für ihre geistig behinderten Kinder eine möglichst vielfältige Wohnumgebung schaffen, auf die sie lebenslang Wohnrecht haben, wie Annette Purschke erklärt: "Es war nicht nur eine Idee, sondern auch eine Not, weil es nichts gibt für Menschen mit einem hohen Unterstützungsbedarf." In den letzten sechs Jahren entstand eine ganze Wohnanlage mit insgesamt 3.050 Quadratmetern Wohnfläche, begrünten Innenhöfen, Gemeinschaftsräumen. Ein Zehn-Millionen-Projekt. Zu den Mietern gehören auch 12 Menschen, die Assistenz brauchen, darunter Annettes Sohn Julius. Wie alle anderen ist er Mitglied der Genossenschaft und besitzt auch Stimmrecht in der Generalversammlung. Das Zusammenleben funktioniert so gut, dass bisher keiner wegziehen wollte – und sich auch unkonventionelle Lösungen finden: Wenn dem einen die Wohnung im Alter zu groß wird und die Familie nebenan Zuwachs bekommt, kann sie darin bestehen, zu tauschen.
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt | 03. Dezember 2023 | 08:00 Uhr