Wahlen Wird Desinformation die Europawahl beeinflussen? Experten sind skeptisch
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14. August 2024, 18:11 Uhr
Die Verbreitung und die Wirkung von Desinformation im Internet sind geringer als gemeinhin angenommen, glauben Experten. Sie sehen das Problem an einer anderen Stelle: Falschinformationen seien Symptom, nicht Ursache.
Die Verbreitung und die Wirkung von Desinformation im Internet sind geringer als gemeinhin angenommen, zu diesem Ergebnis kommen zumindest eine Reihe von Expertinnen und Experten, die das Science Media Center dazu befragt hat. Der bloße Kontakt mit Falschinformation führe nicht zwangsläufig dazu, dass dieser auch geglaubt werde. Desinformationen bestätigten vielmehr bestehende Einstellungen. Damit sei Desinformation eher ein Symptom größerer gesellschaftlicher Probleme und Schieflagen als die eigentliche Ursache, so lassen sich die Einschätzungen der Expertinnen und Experten zusammenfassen.
"Grundsätzlich ist in Nicht-Wahlkampfzeiten ein Grundrauschen an Desinformationen vorhanden. Studien geben Hinweise darauf, dass es zu Wahlkampfzeiten mehr Desinformationen gibt", sagt Philipp Müller vom Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim. Ist vor diesem Hintergrund die Befürchtung gerechtfertigt, dass Desinformation Einfluss auf die politische Meinungsbildung haben und den Ausgang der Europawahl am Wochenende bestimmen könnte? Es stehe fest, dass kurzfristige digitale Desinformationskampagnen die Umfrageergebnisse nicht massiv in die eine oder andere Richtung lenken werden, so der Experte.
Was sind Desinformationen und was nicht?
Damit es sich bei einer falschen Information um eine Desinformation im wissenschaftlichen Sinne handelt, muss diese nachweislich falsch sein. Ein entscheidendes Kriterium ist also, dass man den Gegenbeweis zu der jeweiligen Aussage antreten kann. Hier ergibt sich bereits die erste Schwierigkeit. "Vieles was auf Alternativmedien-Webseiten oder in rechtspopulistischen Winkeln der Social-Media-Plattformen verbreitet wird, würde man eher als Verschwörungsnarrative, Gerüchte oder üble Nachrede definieren. Wenn man genauer hinschaut, sind es viele Aussagen, die gar nicht so leicht nachweislich mit Fakten zu entkräften sind", so Müller. Aufgrund mangelnder Überprüfbarkeit lasse sich hier nicht von Desinformation sprechen, was die Inhalte jedoch nicht weniger problematisch mache.
Zweitens muss eine Täuschungsabsicht vorhanden sein. Ein Account oder eine Quelle weiß um die Falschheit der Information, die sie streut, und tut es mit Absicht. Der breitere Überbegriff Missinformation meint hingegen alle verzerrten Informationen, unabhängig davon, ob sie mit oder ohne Täuschungsabsicht verbreitet werden.
Mobilisierung der Wählerschaft ausschlaggebender als Desinformation
Laut Josephine Schmitt, wissenschaftliche Koordinatorin am Center for Advanced Internet Studies in Bochum, ist der Einfluss von Desinformation auf Wahlergebnisse schwer isoliert zu bewerten. "Dass jemand sonst nicht die AfD wählt oder ihnen zugeneigt ist, eine Desinformation von ihnen liest und bei der nächsten Wahl AfD ankreuzt, ist relativ unwahrscheinlich." Die Wissenschaftlerin verweist darauf, dass ein vorsichtiger Ton angebracht ist, digitale Desinformationskampagnen nicht mehr Reichweite und Wirkung zuzuschreiben, als sie tatsächlich haben. Man müsse ehrlich sein und die Unklarheit aushalten können, dass man nicht genau sagen kann, welche Wirkung sie haben. Die Schwierigkeit liegt also darin, solche Desinformationskampagnen nicht zu überschätzen, ohne sie gleichzeitig zu verharmlosen.
Bei der Europawahl ist die Desinformation in einem größeren Zusammenhang mit der Wahlkampfkommunikation und der Mobilisierung der Wählerschaft zu sehen. Die Medien und die Politik thematisierten nicht ausreichend, welchen Einfluss die EU auf die nationale Politik und die Lebensrealität der Wählerschaft hat. Akteure an den Rändern mobilisierten eigene Anhängerinnen und Anhänger, die unzufrieden mit der EU sind, stärker als etablierte Parteien, während diejenigen, die am stärksten von der EU profitieren, unverhältnismäßig selten zur Wahl gehen. Diese ungleichmäßige Mobilisierung habe zur Folge, dass europakritische Kräfte einen überproportional hohen Einfluss bekommen, als die reinen Zahlen an Unterstützenden es rechtfertigen würden, so der Politikwissenschaftler Andreas Jungherr von der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.
Reichweite von Desinformation gering, aber spezifisch
In der Praxis sei die Verbreitung und die genaue Wirkung von Desinformation schwer messbar, so Müller und Schmitt. Es lasse sich nicht genau beziffern, wie viele Personen regelmäßig irreführenden und manipulierten Inhalten in ihren Social-Media-Feeds ausgesetzt sind. Das hat mit der Vielzahl verschiedener Plattformen und Messaging-Dienste und ihren unterschiedlichen Architekturen zu tun. Außerdem fehlt bisher der umfassende Zugang zu Daten, um die genaue Reichweite auf den Plattformen zu untersuchen.
Trotzdem lässt sich aber eine generelle Tendenz ausmachen: Die Reichweite von Desinformation ist sehr gering und sehr spezifisch. Ein Team um Jennifer Allen hat den Medienkonsum der US-amerikanischen Bevölkerung anhand einer repräsentativen Stichprobe untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass Nachrichtenkonsum sowohl Mobil, Desktop als auch im Fernsehen höchstens vierzehn Prozent des täglichen Medienkonsums einer durchschnittlichen US-amerikanischen Person ausmacht. "Fake News", also bewusst gestreute Falschmeldungen, die als Nachrichten maskiert werden, machten dabei einen winzigen Anteil von weniger als einem Prozent des täglichen Medienkonsums aus. Die meisten konsumierten Inhalte haben nichts mit Nachrichten oder Politik zu tun.
Die Reichweite deutschsprachiger Alternativmedien, die mit Verschwörungserzählungen und anderen nicht überprüfbaren Unterstellungen arbeiten, ist laut einer Studie, die Webtracking kombiniert mit Umfragedaten, ebenfalls eingeschränkt: Lediglich rund 15 Prozent der deutschen Internetnutzenden besuchen je die Webseiten solcher Alternativmedien, und die allermeisten davon nur sehr selten, so das Ergebnis der Autoren Philipp Müller und Ruben L. Bach. Außerhalb der stark mit Desinformation engagierten Randgruppen kursieren solche Inhalte deutlich weniger. Anders gesagt: Desinformation ist sehr ungleich verbreitet. Es ist eine kleine Minderheit der Internetnutzenden, die sehr viel Desinformation sieht und auch selbst verbreitet.
Wer ist anfällig für Desinformation und warum?
Was sich mit Sicherheit sagen lässt: Desinformation wirkt nicht bei allen und nicht bei allen gleich. Für die Wirkung von Desinformation spielen vor allem soziale und individuelle Faktoren eine wichtige Rolle. "Es handelt sich um einen Tango, bei dem bestimmte Empfänglichkeiten aufseiten der Mediennutzenden auf bestimmte Angebote durch die Desinformationsagentinnen und -agenten treffen", beschreibt Lena Frischlich, Wissenschaftlerin am Digital Democracy Centre in Odense, Dänemark. Es kommt darauf an, welche persönlichen Voraussetzungen die Menschen mitbringen, welche politischen Einstellungen sie haben und ob sie ein sogenanntes "Conspiracy Mindset" mitbringen.
Gerade Personen, die politisch oder ideologisch stark motiviert sind oder sich durch eine geringere Offenheit auszeichnen, zeigen eine höhere Anfälligkeit für Desinformation. Zum Beispiel neigen sie dazu, Verschwörungserzählungen zu glauben, die mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmen. Desinformation wird also vor allem dann geglaubt, wenn sie vorhandene Einstellungen bestätigt und verstärkt eher bestehende Einstellungen, statt sie zu ändern. Je weniger Personen dabei traditionellen Nachrichtenmedien und der Politik vertrauen, desto mehr glauben sie der Desinformation.
Menschen suchen sich die zu ihren Bedürfnissen passenden Geschichten
Am besten entfaltet Desinformation ihre Wirkung, wenn sie an schon bestehende Diskurse und an sozialer Ungleichheit, Polarisierung und Vertrauensverlusten ansetzt. Insbesondere in Zeiten von Krisen und Kriegen kann Falschinformation vorhandene Spaltungen vertiefen. Dabei bedient sie das Bedürfnis von Menschen nach einfachen Antworten und klaren Weltbildern. "Das Kernproblem ist, dass wir es mit Interessenlagen und Konflikten in der Gesellschaft zu tun haben, die deutlicher werden und Menschen dafür anfälliger werden, die Narrative zu wiederholen. Die Ursache für unsere Probleme liegt nicht notwendigerweise in der Desinformation an sich, sondern diese ist ein Symptom. Es zeigt uns letztlich, dass wir an dieser Stelle gesellschaftlich eingreifen müssen", sagt Andreas Jungherr.
Es ist daher nicht auszuschließen, dass die jahrelangen inländischen sowie ausländischen Desinformationsbemühungen das Wahlergebnis am Ende nicht doch in einer gewissen Weise beeinflussen. "Wenn es keine Desinformationskampagnen in den letzten zehn Jahren gegeben hätte, wo stünde beispielsweise die AfD jetzt in Wahlumfragen? Meiner persönlichen Einschätzung nach würde sie wahrscheinlich ein paar Prozentpunkte niedriger stehen", sagt Philipp Müller.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 30. Mai 2024 | 08:17 Uhr
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