Hans-Günther Pölitz: "Wir haben zwischen den Zeilen gespielt"

14. Dezember 2021, 16:59 Uhr

Hans-Günther Pölitz gehört nach Kritikermeinung zu den zehn besten Kabarettisten Deutschlands. Heute ist er der geistige Kopf des Privat-Kabaretts "Magdeburger Zwickmühle". In der DDR war er Autor und Kabarettist bei den Magdeburger "Kugelblitzen". Das Interview führte der MDR 2004 mit Hans-Günther Pölitz.

Was war Kabarett in der DDR?

Hans-Günther Pölitz: Eine Kunstform, die durch die Verhältnisse in der DDR völlig überbewertet wurde. Die Zuschauer setzten uns einen Heiligenschein auf, weil wir angeblich die mutigen Leute waren, die über Tabu-Themen öffentlich nachdachten. Aber das war ja bis zu einem bestimmten Punkt von der Staatsführung gewollt, doch ab einem bestimmten Punkt wurde dieses Nachdenken immer wieder verhindert. Den Freiraum auszuschreiten, lag auch an der Findigkeit der Autoren und Kabarettisten.

Außerdem war der Einfluss der SED in den einzelnen Bezirken unterschiedlich. Die eine SED-Bezirksleitung wollte, dass das Textbuch vorher eingereicht wurde, die andere hat sich erst die Probe angesehen. Generell: Kein Programm hat seine Premiere ohne eine vorherige Abnahme durch die SED erlebt.

Hans-Günther Pölitz
Hans-Günther Pölitz Bildrechte: MDR/Ralf U. Heinrich

Hatte Kabarett die staatlich gewollte Funktion eines Ventils?

Hans-Günther Pölitz: Sicher. Mitte der 70er Jahre gab es den ominösen Ministerratsbeschluss: Jede Bezirkshauptstadt der DDR hat ein Berufskabarett zu gründen. Gleichzeitig wurde immer wieder bestimmt, wie weit die Kritik auf der Kabarettbühne gehen durfte. Insofern ist ja Magdeburg das beste Beispiel der Schizophrenie. Hier wurde extra für die "Kugelblitze" ein neuer Bau hochgezogen - übrigens im gesamten deutschsprachigen Raum der einzige Neubau speziell für das städtische Kabarett.

Trotzdem: Wer nach Meinung der sich dafür zuständig fühlenden Funktionäre die Grenzlinie überschritt, der bekam die Sanktionen zu spüren. Das musste nicht gleich Gefängnis sein. Es reichte ja schon, wenn sie Programme absetzten.

Kabarettisten mit guten materiellen Bedingungen also, andererseits wurde ihnen ein Korsett angelegt...

Hans-Günther Pölitz: Eine Schizophrenie, die zu kulturellen und künstlerischen Leistungen anspornte, weil man sich des Mittels Wort in einer ganz anderen Intensität näherte. Wir waren angehalten zu formulieren, zu konstruieren, sprachliche Bilder zu finden. Diesen Widerspruch zwischen dem, was auf dem Papier aufgelistet war und dem was auf der Bühne durch die entsprechende Betonung, Gesten usw. zum Leben erweckt wurde, das hatte Brillanz.

Das haben die Funktionäre zum Beispiel in Magdeburg sehr bald erkannt. Deshalb gab es ein oder zwei Tage vor der Premiere die sogenannte Interessentenprobe - eine feine Umschreibung für Zensur. Da saßen sieben bis acht Funktionäre im Saal und guckten sich das an, was da auf der Bühne passierte. Hinterher gab es eine Auswertung.

Hatten Sie als Autor beim Schreiben der Texte schon die Schere im Kopf, nach dem Motto "Das lasse ich lieber gleich, das geht sowieso nicht durch?"

Hans-Günther Pölitz: Ich kann nur für mich sprechen, und ich hatte nie eine Schere im Kopf. Für mich machte es gerade den Reiz aus, Tabu-Themen künstlerisch so umzusetzen, dass man sie doch auf die Bühne bringen konnte. Es ging für mich nie um das Ob, sondern immer nur um das Wie.

Da gibt es die Geschichte aus Schwerin, da wurde eine Festveranstaltung aufgeführt - die von den üblichen Jubelveranstaltungen abwich. Der Regisseur baute ins Programm einen grünen Rotarmisten ein. Der lief mal von links nach rechts, dann wieder von rechts nach links - ohne Sinn und Ziel. Daran zogen sich die Genossen hoch, übersahen die kritischen Dinge im Programm. Seither ging unter uns der Satz: Bauen wir doch den grünen Rotarmisten ein. Also etwas, das die Genossen dann verbieten konnten...

Machte das Kabarett unterschiedliche Phasen durch?

Hans-Günther Pölitz: Die reichten von Tauwetter bis Eiszeit und hingen auch von der politischen Großwetterlage ab. Nach einem Frühling kam es von 1986/87 zu einer erneuten Eiszeit. Da wurden landauf und landab Kabarettprogramme verboten. Die Magdeburger "Kugelblitze" hat es mit "Der Fortschritt ist hinter uns her" getroffen.

Wie muss man sich das vorstellen?

Hans-Günther Pölitz: Wir hatten darin alle heiligen DDR-Kühe thematisiert: die Wahlen, das Wohnungsbauprogramm, die Subventionspolitik, den Mikrochip, die sportlichen Erfolge usw. Nach der Probe gab es wieder die Diskussionsrunde. Erst Verbot, dann doch die Erlaubnis, dass wir eine öffentliche Voraufführung machen konnten. Sie schloss mit den Worten "Wahrheit gegen Freund und Feind". Danach brach ein ungeheurer Jubel im Zuschauerraum aus.

Den haben die Genossen gegen uns gerichtet - so agiere nur der Klassenfeind. Verbot! Der Stadtrat für Kultur schrieb erbosten Bürgern, dass das Programm aus "künstlerischen Gründen" nicht zur Aufführung gelangt. Wir wurden verdonnert, nicht zu sagen, dass das Programm verboten wurde. Das haben wir auch nicht. Wir hatten im Foyer unseres Hauses Karikaturen aufgehängt: von Männern mit hochgeschlagenem Mantelkragen und Schlapphut. Jeder wusste, was die Stunde geschlagen hatte...

Gab es einen Pakt zwischen Kabarettisten und Zuschauern?

Hans-Günther Pölitz: Ja! Wir haben zwischen den Zeilen gespielt und die Zuschauer haben zwischen den Zeilen gehört, dafür waren die DDR-Bürger hochsensibilisiert. Die Leute haben die leiseste Anspielung zur Kenntnis genommen, wussten damit etwas anzufangen, haben das in den Kontext zu ihrer Realität gesetzt. Sie hatten ihr Denkvergnügen daran, nicht Ausgesprochenes erkannt und entschlüsselt zu haben.

Was hat Kabarettisten bewogen, sich in dieses Spannungsfeld zwischen Kunst und Macht zu begeben?

Hans-Günther Pölitz: Viele Menschen in der DDR haben dieses Land als ihr Land empfunden. Aber immer wieder wurden sie zurückgepfiffen. Und dann stellten sich nicht wenige die Frage: Wenn nicht gewollt ist, dass ich mich einbringe mit meinem Denken und Fühlen, was soll ich dann noch hier? Der Ausreiseantrag war für viele nur die letzte Möglichkeit.

Auch Kabarettisten wollten sich einbringen, sahen nach Kriegsende in der DDR eine Alternative, eine Hoffnung. Und sie sahen, dass die Schere zwischen Ideal und Wirklichkeit immer größer wurde. Mit ihrer Arbeit wollten sie diese Schere zusammenzudrücken. Andere dagegen wollten in sozialer Sicherheit das System ein bisschen anpinkeln. Mir fällt übrigens niemand ein, der Kabarett zu DDR-Zeiten machte, um die DDR abzuschaffen...

Nach der Wende hat es auch arbeitslose Kabarettisten gegeben...

Hans-Günther Pölitz: Die finden sich bei den sogenannten Kabarettdarstellern, die sich immer nur hingestellt haben und Sätze gesprochen haben, die andere ihnen in den Mund gelegt haben. Das war ja nie ihr eigenes Gedankengut. Die Schöpferischen und die Kreativen hat es nicht getroffen.