Lexikon Interview mit Buchhänndler Wolf-Diethelm Zastrutzki

27. Oktober 2004, 22:28 Uhr

Wolf-Diethelm Zastrutzki (Jahrgang 1941) ist seit über 40 Jahren als Buchhändler tätig. Der heutige Geschäftsführer der Franz-Mehring-Buchhandlung in Leipzig erzählt über das Leseland DDR.

MDR: Gab es denn in der DDR die Möglichkeit, ganz normal Bücher zu beschaffen, also beim Verlag eine bestimmte Anzahl zu bestellen und auch zu bekommen?

Zastrutzki: Ja, bestellen konnte man schon bei den etwa 120 DDR-Verlagen und den Importen aus den Bruderländern, davon abgesehen, was man bekam. Alle neuen Titel wurden sechs bis acht Wochen vorher angekündigt. Der Vorankündigungsdienst war die Grundlage für die Bestellungen und stand auch den Kunden zur Verfügung. Und dann musste der Buchhändler warten, was auf ihn zukam. Es gab einen Bestellschlüssel, der für den gesamten Buchhandel galt. Am Wochenanfang, wenn der Vorankündigungsdienst kam, standen die Kunden schon Schlange, um ihre Vorbestellungen abzugeben. Wenn die uns zugeteilten Exemplare eines Titels dann kamen, landeten sie bei mir auf dem Schreibtisch mit einem Berg Zettel drin. Ich musste entscheiden, welcher Vorbesteller die Bücher bekommt. Etwa 70 Prozent aller Bücher gingen diesen Weg. Die restlichen Titel waren immer verfügbar, vor allem Fachbücher und in erster Linie aus dem Bereich der Gesellschaftswissenschaften.

Wie sind Sie mit dem Frust der Leute umgegangen, die ihre bestellten Bücher nicht bekommen haben?

Die Kunden kannten die Probleme und wussten, dass der Buchhändler die Bücher nicht herbeizaubern kann. Wir haben versucht, ein gewisses Maß an Gerechtigkeit zu üben, so dass jeder Kunde mal in den Genuss irgendeiner Rarität kam. Wir haben aber vor allen anderen die Bibliotheken beliefert. So war das Buch einem größeren Kreis an Menschen zugänglich und ist nicht in einem Privathaushalt verschwunden. Es gab aber auch Bücher, wie etwa Landolf Scherzers "Der Erste", da bekamen wir eine exakte Liste, wem das Buch zu verkaufen ist. Und so musste man sich vor allem bei problematischen Titeln, an denen das Interesse besonders hoch war, die eine oder andere Beschimpfung anhören. Man musste damit leben, dass Kunden böse oder unzufrieden waren, weil sie ihr Buch nicht bekommen haben.

Wie haben Sie das organisiert, hatten Sie eine Kundenkartei?

Wir hatten unendlich viele Karteikästen und sechs Mitarbeiter, die unentwegt Zettel einsortierten und Bestellungen bearbeiteten. Man kann sich das heute kaum noch vorstellen. Das hat natürlich das Buch zu etwas Besonderem gemacht. Heute ist es im täglichen Alltag fast ein reiner Handelsgegenstand geworden. Damals war es schon spannender.

Und die Kunden standen immer Schlange?

Bücher kamen jeden Tag, wie das heute auch der Fall ist. Die Kunden haben natürlich unentwegt gefragt. Oft verschoben sich die Lieferzeiten. Dadurch war das Haus ständig voll. Sie können sich vorstellen, dass wir bei der Menge von Bestellungen nicht jedem Kunden eine Absage schreiben konnten. Er hatte das zur Kenntnis zu nehmen, wenn das Buch dann auf dem Markt war.

Wer hat denn die Rechenschlüssel gemacht, wie viel Bücher eine Buchhandlung bekommt?

Das wurde immer mal anders gehandhabt. Die Bücher wurden auf die Bezirke aufgeteilt und dort gab es so genannte Abteilungen für Literaturvertrieb und Propaganda. Die hatten meistens eine Halbtagskraft, die nichts weiter tat, als die Kürzungen für die Buchhandlungen nach einem bestimmten Schlüssel festzulegen.

Die Nichtlieferung hing sehr stark mit der Papierkontingentierung zusammen. Hat es Probleme gegeben, weil Bücher wieder zurückgezogen wurden?

Das gab es auch. Dann kamen die Bücher entweder in veränderter Nachauflage oder gar nicht zurück. Aber das war nicht das Tagesgeschäft. Es hat nur jedes Mal sehr viel Aufsehen erregt. Und meistens waren dann die Mengen nicht mehr komplett. Wenn die Bücher einmal in den Händen des Buchhändlers waren, sind sie meistens nicht in der gelieferten Stückzahl zurückgegangen. Es war nicht vermeidbar, dass schon das eine oder andere Exemplar verkauft worden war.

Man war sehr stolz auf das so genannte "Leseland DDR" - sah die Wirklichkeit da nicht etwas anders aus?

Auf der einen Seite träumen wir heute davon, solche Mengen zu verkaufen. Wir hatten in unserem Haus damals etwas das Vierfache unseres heutigen Umsatzes, obwohl die Bücher jetzt entsprechend teurer sind. Die Beispiele, die ich Ihnen erzähle, drücken zwar totale Armut aus, aber es waren immerhin doch 7000 verschiedene Titel, die in einem Jahr erschienen sind. Und es unterlagen auch nicht alle Titel der Kürzung. Wir haben zum Beispiel bei der ersten Auflage von Kuczinskys "Dialog mit meinem Urenkel" 150 Stück bestellt. Ein Mitarbeiter hatte das Buch sofort gelesen und gesagt, dass es ein Renner würde. Bevor der Verlag das gemerkt hatte, haben wir 7000 Stück bestellt und auch bekommen. Kuczinsky war eben nicht gerade bestsellerverdächtig. Nachdem die Nachfrage dann richtig groß geworden war, hat der Verlag sogar bei uns zurückgekauft. Heute wäre das Buch innerhalb von vier Wochen wieder verfügbar. Aber in der DDR dauerte es im Durchschnitt zwei Jahre, bis eine Nachauflage gedruckt wurde.

Man könnte sich vorstellen, dass Reisebeschreibungen das ganze Jahr über Renner waren ...

Für Reisebeschreibungen ist heute gar kein Markt mehr. Heute verkaufen sich Reiseführer, damals waren Reisebeschreibungen wirklich gefragt. Da gab es aber nicht die großen Mengen an Vorbestellungen. Die Bücher wurden gekauft, wenn sie im Laden lagen, weil die Leute eben doch Fernweh nach fremden Ländern hatten. Allerdings war die Qualität der Bilder sehr schlecht. Wenn man diese Bücher heute sieht, könnte man glauben, es wurden extra die miesesten Fotos ausgewählt, um den Menschen die Reislust nicht noch schmackhafter zu machen.

Gab es denn Bücher, von denen sie mehr bekommen haben, als Sie brauchten?

Es gab manchmal Fälle, da wurde eben nicht gekürzt. Das führte dann schon mal dazu, dass sich längerlebige Bestände anhäuften. Es gab ja auch keine Remissionen an die Verlage wie heute. Was sich nicht verkaufte, blieb über Jahre in den Lagerbeständen der Buchhandlungen und wurde meist irgendwann vernichtet. Da hatte man mitunter seine Probleme, wenn man den Hals nicht voll genug kriegen konnte.

Gab es bei den gesellschaftswissenschaftlichen Werken Vorgaben, wie viele davon Sie verkaufen mussten?

Es gab immer mal Wettbewerbe, bei denen man möglichst viele Gesamtausgaben Marx/Engels oder Lenin verkaufen sollte. Aber die wurden ja auch ständig an den Hochschulen und Parteischulen benötigt. Das war eine Nachfrage, die wir eigentlich immer befriedigen konnten, weil wir die geforderten Mengen auf jeden Fall bekommen haben.

Wie war es denn generell mit Kinderliteratur in der DDR?

Es gab ein gutes Angebot an Kinderbüchern. Aber es war natürlich auch nie ausreichend. Gerade in der Vorweihnachtszeit hat man schon täglich auf die Neuerscheinungen gewartet. Oft haben wir schon im Sommer angefangen, ein bisschen zu sammeln, um das Weihnachtsgeschäft versorgen zu können. Grimms Märchen haben zum Beispiel nie gereicht, etwa die schöne, von Werner Klemke illustrierte Ausgabe aus dem Kinderbuchverlag.

Wie haben Sie als Buchhändler diese Situation empfunden?

Der Beruf des Buchhändlers war spannend. Natürlich hatte der Buchhändler bei den Leuten einen gewissen Stellenwert, der ihm unter normalen Umständen nicht zugekommen wäre. Aber er hatte ein Monopol: Bücher - etwas Hochbegehrtes. Und man war demnach in einer Branche tätig, die schon einigermaßen privilegiert war. Zum Beispiel haben viele Kunden versucht, zu bestimmten Mitarbeitern Kontakte aufzubauen. Was hier in der Vorweihnachtszeit für Geschenke angeschleppt wurden! Es brauchte viel Disziplin, gerade in einer Buchhandlung mit sehr vielen Mitarbeitern. Wenn man das dem Selbstlauf überlassen hätte, hätte man auch keine Bestellungen annehmen brauchen. Die Mitarbeiter hätten die Ware an ihre Kunden verteilt.

Hat es Kontakte zwischen Buchhändlern und Autoren gegeben?

Zu den DDR-Autoren gab es sehr viele Kontakte, vor allem natürlich zu denen in Leipzig. Und wir haben auch zu vielen Verlagen Kontakte gehabt, die Lizenznehmer von westdeutschen Autoren waren. Außerdem haben die Verlage zu Veranstaltungen geladen.

Wie haben denn die DDR-Autoren das Versorgungsproblem gesehen?

Die haben damit gelebt, dass es war, wie es war. Sie haben sicherlich trotz alledem mehr Geld gehabt als heute. Die Auflagen waren damals viel höher. Heute mutet man den Autoren zu, Auflagen von 2000 bis 3000 Exemplaren zu haben. Davon kann man nicht leben. Früher waren die meisten freischaffend und konnten von ihren Honoraren und von Stipendien ganz gut existieren. Sie waren privilegiert.

(Erstveröffentlichung 1999)