Kirche im Sozialismus Gehen oder bleiben: Die Rolle der Kirchen

01. März 2019, 15:41 Uhr

Dem Staat westwärts den Rücken kehren oder im Lande bleiben und es verändern? Jedem, der sich in der DDR kritisch verhielt, stellte sich diese Frage. Sie spaltete auch die kirchlichen Gruppen.

Die ersten Leipziger Montagsdemonstrationen im September 1989 machten den Zwiespalt für jedermann erkennbar: Die Kameras der ARD filmten Menschen, die "Wir wollen raus!" riefen und die für ihre Ausreise demonstrierten. Daneben aber gab es die "Wir bleiben hier!"-Rufer: Menschen, die in der Ausreise keine Alternative sahen und die auf die Straße gingen, um für Freiheit, aber gegen das Ausbluten des Landes zu demonstrieren. Seit Jahren hatte der Konflikt zwischen beiden Fraktionen insbesondere die Debatten in den kirchlichen Gruppen geprägt. Am Ende trugen beide Strömungen zum Zusammenbruch des Regimes bei.

Vom Friedensgebet zu Grundsatzfragen

In Leipzig hatte alles mit den Friedensgebeten Anfang der Achtzigerjahre angefangen. Der aus Dresden gekommene Pfarrer Christoph Wonneberger veranstaltete kirchliche Friedensseminare, in denen die Logik des Wettrüstens hinterfragt wurde. In kirchlichen Basisgruppen und unter dem schützenden Dach der Kirche etablierte sich eine Art Friedensbewegung der DDR. Ihr Symbol ist der Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" - wer ihn am Ärmel trug, machte sich als Friedensfreund und Gegner der atomaren Hochrüstung kenntlich, geriet aber oft auch in Konflikt mit der Staatsmacht. Denn der radikale christliche Pazifismus stand der DDR-Doktrin entgegen, wonach der Friede als Abwehrkampf gegen den aggressiven Imperialismus bewaffnet sein muss.

Und so führten die Auseinandersetzungen immer tiefer hinein in die Systemfragen: Was hat Friede mit Freiheit zu tun, was die Abschottung des Landes mit der Bewahrung lieb gewordener Feindbilder? Wie drückt sich im militärischen Zwang in der NVA und in der Nichtzulassung ziviler Friedensdienste das Allmachtsbestreben des vermeintlich am Wohl des Volkes orientierten Staates aus?

Flucht oder Widerspruch?

Das Nachdenken in den kirchlichen Diskussionsrunden führte viele auf den Weg in den Westen. Zu starr erschien das System DDR, um es von innen zu verändern. Dazu kamen zunehmend Erleichterungen bei der Ausreise - die DDR hatte auf der Suche nach internationaler Anerkennung Menschenrechtskonventionen unterschrieben und entließ seit Mitte der 80er-Jahre immer mehr Antragsteller aus der Staatsbürgerschaft.

Ausreisewillige werden schikaniert

Allerdings wurden auch immer wieder Ausreisewillige systematisch schikaniert. Und auch sie suchten den Schutz der Kirche, um sich zu formieren und zu formulieren. Deutlich wurde das am Beispiel Nikolaikirche in Leipzig. Seit Januar 1988 hielt Christian Führer, Pfarrer der Nikolaikirche, auch Fürbitt-Andachten für die 120 Menschen, die auf der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration verhaftet worden waren, weil dort ein Plakat mit dem Rosa-Luxemburg-Zitat "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden" gezeigt wurde. Dass einige der Inhaftierten in den Westen abgeschoben wurden bzw. ihre Verhaftung nutzten, um ihren Freikauf in die Bundesrepublik zu beschleunigen, verdeutlichte den Zusammenhang zwischen Protestbewegung und Ausreisewelle. In Leipzig kamen daraufhin immer mehr Ausreisewillige und Oppositionelle zu den Andachten. Einige Male kam es nach den Gebeten auch zu Demonstrationen. Im März 1988 zogen etwa 100 Menschen schweigend von der Nikolaikirche zur Thomaskirche und zurück.

"Wir lassen uns nicht auf den innerkirchlichen Raum begrenzen"

Nach dem "Sommer der Ausreise" trieb die angespannte Lage etwa 1.000 Teilnehmer zum ersten Montagsgebet nach der Sommerpause in die Nikolaikirche. In der Predigt dieser Woche, genau 50 Jahre nach Kriegsbeginn, ging es um die deutsche Kriegsschuld und um Versöhnung, aber auch das Thema der Ausreise wurde besprochen und die Reformunwilligkeit der SED und die Haltung der Kirchen dazu. Wörtlich hieß es, dass "wir uns bei aller Respektierung der Trennung von Staat und Kirche nicht auf einen innerkirchlichen Bereich begrenzen lassen".

Nach diesem Montagsgebet vom 4. September 1989 gingen etwa 800 Menschen auf die Straße. Sowohl die Hierbleiber als auch die Ausreiser nutzten die Chance, dass anlässlich der Leipziger Herbstmesse die internationale Presse in der Stadt war. Und während ein Teil der Demonstranten zum Bahnhof zog und "Freie Fahrt nach Gießen" skandierte, hielten andere Transparente hoch mit Aufschriften wie "Für ein offenes Land mit freien Menschen", "Reisefreiheit statt Massenflucht" und "Versammlungsfreiheit - Vereinigungsfreiheit".

Der harte Zugriff von Staatsschützern in Zivil forderte den erneuten Protest der Leipziger heraus. Und eine Woche später waren es wieder die Ausreiser und die Hierbleiber, die sich zum Montagsgebet trafen - der Auftakt zur Friedlichen Revolution in Leipzig. Einen Monat später liefen bereits 70.000 Menschen um den Ring.