Jutta Voigt lehnt auf dem 20. Literaturfestival des Vereins Erfurter Herbstlese an einem Bücherregal.
Die Journalistin und Autorin Jutta Voigt Bildrechte: IMAGO / VIADATA

Journalistin Jutta Voigt Wichtigste Zutat: Erinnerung

19. Januar 2010, 14:11 Uhr

Die Journalistin Jutta Voigt erinnert in ihrem Buch "Der Geschmack des Ostens" an Spreewaldgurken, Grilletta und Goldbroiler und das einzige japanische Restaurant der Republik. Wir haben die Autorin nach den Unterschieden in den Küchen in Ost und West befragt.

Ihr Buch heißt "Der Geschmack des Ostens" - wie schmeckt(e) denn der Osten?

Ja, wie schmeckte der Osten? Nach Gleichheit und Schnitzel mit Mischgemüse? Nach Geborgenheit zwischen Schweinefleisch und Schnaps? Nach Anpassung und Sättigungsbeilage? Nach Jägerschnitzel und Scheitern? Die wichtigste Zutat des Geschmacks ist die Erinnerung.

Wo sehen Sie die prägnantesten Unterschiede zwischen Essen/Küche Ost und West?

Im Osten spielte das Essen eine größere Rolle, und weil immer irgendein Mangel drohte, waren auch die Portionen größer. Man aß aus Lust und Appetit, keiner besuchte ein Restaurant aus Statusgründen. Auch im Politbüro stand das Essen oft im Mittelpunkt, weil Macht und Mangelwirtschaft nun mal zusammengehörten. Da wurde die "Leberwurstlücke" debattiert, die Butter-Kartoffel- und "Edelfleisch-Krise" besprochen. Wenn dem Bürger der Kaffee nicht schmeckte, zitterten die Regierenden, und Erich Honecker tröstete sich in der Politbüro-Kantine mit Makkaroni an Tomatensauce.

Und Gemeinsamkeiten?

Wir sind Deutsche. Die braune Sauce, die über alle Gerichte der DDR-Gemeinschaftsverpflegung gekippt wurde, findet man heute gar nicht selten in der westdeutschen Provinz. Der Schauspieler Ulrich Tukur isst, wie ich neulich in der Zeitung las, sein Schnitzel am liebsten mit brauner Sauce.

Was kann der Westen vom Osten lernen?

Sich über die kleinen Dinge des Lebens zu freuen: ungarische Salami, Schweinemedaillons, Wernesgrüner Bier. Und dass der einst verhasste Krautsalat plötzlich besser schmeckt als das von Rohkostaposteln aller Klassen gepriesene Frisée-Batavia-Lollo Rosso-Gebirge.

Und umgekehrt - der Osten vom Westen?

Maß halten. Kleine Portionen. Nicht so viel Fettes essen. Keinen Schnaps trinken.

War es denn angesichts der leereren Kaufhallen-Regale und einiger schwer erhältlicher Zutaten überhaupt möglich, strikt nach Kochrezepten zu kochen?

Natürlich nicht. Auf dem Gebiet des Kochens wurden wie auf allen anderen Gebieten des Ostlebens Vorschriften nicht eingehalten, umgangen oder ignoriert. Improvisation war alles.

War die Ost-Küche aufgrund weniger erhältlicher Früchte etwa weniger gesund als die West-Küche?

Ist ja nun alles schon zwanzig Jahre her. Die Anbetung und Fetischisierung der Gesundheit als Weltanschauung stand noch nicht auf dem Speisezettel. Man behalf sich mit Äpfeln, Rotkohl, Weißkohl und Eingemachtem aus dem Keller.

Was zeichnete die Restaurantkultur in der DDR aus?

Die Kellner waren gut ausgebildet, aber faul, das Essen überwiegend lieblos, die Preise niedrig, die Ausstattung bieder, Holzgetäfeltes unter Fransenlampen.

Was gehört für Sie auf jeden Fall auf einen Tisch, um den "Geschmack des Ostens" zu erzeugen?

Ein Broiler mit Pommes frites, wie es ihn heute noch in der Broilerbar vom Hotel Neptun in Warnemünde gibt und frische Erdbeeren der Saison nach langem Anstehen vor dem Gemüsekonsum.

Wie realistisch sind "West"-Kochbücher, die heute mit DDR-Emblemen versehen "DDR-Rezepte" anbieten (z.B. das "DDR Kochbuch" vom Komet Verlag)? Was halten Sie davon?

Hat mit Realismus nur insofern zu tun als dass es ums Geschäft geht. Um das Geschäft mit verirrten Ostseelen, die meinen, Ostalgie sei ein probates Betäubungsmittel gegen die akuten Schmerzen der gegenwärtigen Gesellschaft: Arbeitslosigkeit und soziale Kälte. Da hilft eine heiße Soljanka nur vorübergehend.

Ihr Lieblingsessen aus DDR-Zeiten?

Die glanzvolle Ausnahme von der elenden Regel: Chateaubriand mit Sauce bernaise und Gartengemüse, serviert auf einem silbernen Tablett im DDR-Nobelrestaurant Ganymed am Schiffbauerdamm in Berlin.

Kurzbiografie: Jutta Voigt In Berlin geboren. Philosophiestudium an der Humboldt-Universität. Nach dem Studium Reporterin und Filmkritikerin bei den Wochenzeitungen "Sonntag", "Freitag", "Wochenpost", "Woche" und "ZEIT". Theodor-Wolff-Preis 2000. Bücher: "Wahlbekanntschaften – Menschen im Café", 2005; "Der Geschmack des Ostens", 2006; "Westbesuch – Vom Leben in den Zeiten der Sehnsucht"; 2009, "Im Osten geht die Sonne auf", 2009 u.a.

Buchtipp Jutta Voigt: Der Geschmack des Ostens. Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR. Broschur, 214 Seiten. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin.

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