Erfahrungsbericht Corinna Thalheim: Jugendwerkhof Wittenberg

04. Januar 2016, 18:55 Uhr

Sie will raus aus dem "asozialen" Milieu und ihren Schulabschluss machen. Corinna Thalheim sucht Hilfe bei der staatlichen Jugendhilfe. Dort rät man ihr zum "Jugendwerkhof". Zwei Wochen später wird sie eingewiesen.

Es ist ein strahlender Frühlingstag im Jahr 1983. Corinna Thalheim sitzt gemeinsam mit ihrer Mutter in einem Regionalzug. Sie wirkt heiter und optimistisch. Lange hat sie mit sich gekämpft, doch jetzt ist sie sicher, das ist der richtige Schritt. Sie will neu beginnen. Nur noch ein paar Kilometer, dann ist sie an ihrem Ziel, dann ist sie im Jugendwerkhof Wittenberg.

Mit 14 hatte Corinna Thalheim begonnen, sich mit Älteren zu treffen. – "Harte Kerle", denkt sie, "arbeitsscheu" nennt sie das Strafgesetzbuch der DDR. Corinna trinkt mit ihnen Bier, schlägt sich die Nächte um die Ohren, fängt an, die Schule zu schwänzen. Nach zwei Jahren hat Corinna genug. Sie will raus aus dem "asozialen" Milieu, raus aus dem Schmutz. Sie will ihren Schulabschluss machen und die staatliche Jugendhilfe soll ihr dabei helfen. Dort rät man ihr zu einem Spezialheim, das nur für Jugendliche wie sie gegründet wurde, einem "Jugendwerkhof". Zwei Wochen später erhält sie die Einweisung.  

"Reinigung" – das Aufnahmeritual

Als Corinna Thalheim am Abend im Jugendwerkhof Wittenberg einschläft, ist sie völlig zufrieden mit sich. Die Erzieher sind freundlich, und alles wirkt so sauber und ordentlich. Mitten in der Nacht wacht sie auf. Die Mädchen ihrer Gruppe stehen vor ihr. Eine schreit: "Du willst sauber werden? Dann ab ins Bad!". "Reinigung" nennt sich das Ritual. Corinna Thalheim muss sich nackt ausziehen. Sie schämt sich. Dann wird mit Scheuermittel überschüttet, unter die kalte Dusche gestellt und solange von den anderen geschrubbt bis sich das Duschwasser rot färbt. Sie windet sich, schreit, hat Schmerzen. Niemand hört sie.

Ab nach Torgau

Am nächsten Morgen teilt man Corinna ihre berufliche Zukunft mit. Sie soll als Reinigungskraft ausgebildet werden. Corinna Thalheim reißt aus, fährt zurück zu ihren alten Freunden. Nach drei Wochen wird sie von der Polizei entdeckt und wieder in den Jugendwerkhof Wittenberg eingewiesen. Sie muss erneut zur "Reinigung". Wieder und wieder. Irgendwann werden die Schläge seltener. Ein paar Wochen später kommen neue Mädchen in die Gruppe. Schließlich lässt man Corinna Thalheim in Ruhe. Eines Morgens, viele Monate später, steht ein Auto vor dem Heim. Sie soll einsteigen. Es geht nach Torgau. Wieso, erfährt sie nicht.

Logo MDR 8 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
8 min

Interview von André Heller mit Corinna Thalheim "Ich bin immer noch im Keller"

"Ich bin immer noch im Keller"

Corinna Thalheim, die als Jugendliche im Jugendwerkhof Torgau war, erzählt im Interview mit André Heller vom Alltag der Heimkinder und den grausamen Erziehungsmethoden.

MDR JUMP So 01.07.2012 14:15Uhr 07:48 min

https://www.mdr.de/geschichte/stoebern/damals/audio397296.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Audio

Im Geschlossenen Jugendwerkhof muss sie sich nackt ausziehen. "Eingangsuntersuchung" heißt das Aufnahmeritual hier. Sie muss sich über einen Spiegel stellen, ihre Körperöffnungen betasten lassen. Sie schämt sich. Nachts wird sie aus ihrer Zelle geholt und in die Wohnung eines Erziehers geführt. Er öffnet seinen Gürtel und ruft "Los! Zieh Dich aus!". Corinna Thalheim ist ihm ausgeliefert. Sie fühlt sich schmutzig. So schmutzig wie noch nie zuvor.

Ihr Martyrium wiederholt sich. Wieder und wieder. Sie zählt die Nächte. An ihrem 18. Geburtstag, nach dreieinhalb Monaten, wird sie entlassen. Heute weiß Corinna Thalheim, dass sie kein Einzelfall war. Vielen Jugendlichen, Mädchen und Jungen, erging es wie ihr.

Jugendwerkhof Wittenberg "Ernst Thälmann" Das Haus in der heutigen Sternstraße 16 wurde 1904 als Lehrlingshaus gebaut. Von 1949 bis 1989 war dort der Jugendwerkhof "Ernst Thälmann" untergebracht.
Seit 2004 befindet sich dort ein Internat für Berufsschüler und das Jugendgästhaus Wittenberg.