
Rio Reiser-Konzerte in Ost-Berlin
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Im Oktober 1988 kam der Politrocker Rio Reiser auf Einladung der FDJ zu zwei Konzerten nach Ost-Berlin. Den legendären "Ton Steine Scherben" - Song "Keine Macht für niemand" durfte Reiser im Arbeiter- und Bauernstaat allerdings nicht singen ...

Die 1980er Jahre in der DDR waren geprägt von einer "lähmenden Langeweile", wie sich der Musiker Lutz Kerschowski erinnert. An der Staatsspitze die gleichen alten Männer wie seit 40 Jahren, auf den Konzertbühnen die gleichen DDR-Bands, die man schon viel zu oft gehört hatte. Das pralle Leben fand - wie immer - anderswo statt. Zwar regten sich zarte Pflanzen - politischer Widerstand, Opposition, Punkbands entstanden -, aber in der Öffentlichkeit herrschte Lethargie, Stillstand, ja Agonie.
"Die Mauer muss weg!"
So kam es, dass sich zu Pfingsten 1987 über tausend junger DDR-Bürger am Brandenburger Tor drängten, um die Töne zu erhaschen, die von der Westseite herüberwehten: Vor dem Reichstag spielten David Bowie, die Eurythmics, Genesis. Bowie grüsste die Ostberliner sogar auf Deutsch und sang "Heroes", das von einer großen Liebe und der Mauer handelt, von den Schüssen, die ihnen nichts anhaben könnten.
Polizei und Stasi drängten die Musikfans ab. Die wollten sich das nicht gefallen lassen: Steine flogen, Flaschen; Rufe schallten durch die Dunkelheit, nach Gorbatschow, nach Perestroika, nach Freiheit, gegen "Russen" und "Bullenschweine". Die Jugendlichen sangen die "Internationale" und riefen dann: "Die Mauer muss weg!" Und das vor Westreportern! Schlagstöcke flogen, Hundestaffeln vertrieben die Jugendlichen, es gab Verhaftungen. Drei Abende lang wiederholt sich das Schauspiel. Danach herrschte wieder Friedhofsruhe.
FDJ-Kulturfunktionär holt Reiser nach Ost-Berlin
Die DDR-Führung reagierte prompt: SED-Chefideologe Kurt Hager wies das Kulturministerium und die FDJ an, mehr attraktive Rock-Konzerte zu veranstalten. Wenn die Jugendlichen auch im Osten die internationalen oder zumindest westdeutschen Stars hören könnten, dann wäre der Frieden wiederhergestellt - so die Überlegung. In der FDJ, sowohl im Zentralrat als auch in den Bezirksleitungen, gab es ja durchaus Interesse an jugendgemäßen Konzerten. In der Berliner FDJ-Bezirksleitung war Rainer Börner Kultursekretär. Er hatte schon Konzerte mit Barclay James Harvest und Joe Cocker organisiert, als er im Sommer 1988 mitbekam, dass der Zentralrat der FDJ dabei war, die Chance zu verspielen, Rio Reiser für ein Konzert nach Ost-Berlin zu holen. Börner bot an, das Konzert über die Bezirksleitung zu organisieren, dann würden die Probleme an ihm hängenbleiben, wenn etwas schiefging - was bei einem anarchistischen Geist wie Rio Reiser nicht ausgeschlossen war.
Eine Vorband aus Ost-Berlin
Börner hatte die Werner-Seelenbinder-Halle ohnehin für eine Woche angemietet, zwei Abende waren noch frei, der 1. und der 2. Oktober 1988. In der ehemaligen Fleisch-Großmarkthalle hatte SED-Chef Walter Ulbricht 1952 den planmäßigen Aufbau des Sozialismus verkündet. Nun fanden dort Radrennen, Boxkämpfe und Rockkonzerte statt. Als Vorband für Rio Reiser verpflichtete Börner Kerschowski, eine Ost-Berliner Band, die einen satten, ehrlichen Rock'n'Roll spielte. Bandchef Lutz Kerschowski hatte Bedenken zuzusagen, schließlich waren im gleichen Jahr Bockwürste, Milchtüten und Buh-Rufe auf die Bühne geflogen, wenn DDR-Bands vor den West-Stars spielten. Trotzdem sagte er zu: Zu groß war die Chance, die Lust, vor 6.000 Menschen zu spielen, noch dazu vor Rio Reiser, der die deutsche Rockmusik wie kaum ein anderer geprägt hat.