Zum 120. Geburtstag Anna Seghers: Ein geteiltes Leben
Hauptinhalt
16. Juni 2021, 23:19 Uhr
Sie gilt als eine der Größten der deutschen Literatur: Anna Seghers. Ihr weltberühmter Roman "Das siebte Kreuz" - ein Appell gegen die Barbarei der NS-Zeit - war für Marcel Reich-Ranicki der beste Roman einer Frau in deutscher Sprache. Doch als Anna Seghers in der DDR eine bessere Gesellschaft mit aufbauen wollte und als Präsidentin des Schriftstellerverbands im Mittelpunkt ihrer Zunft stand, wurden ihre humanistischen Ideale stets auf die Probe gestellt.
Als Anna Seghers am 19. November 1900 als Netty Reiling in Mainz geboren wurde, lag vor ihr ein Jahrhundert, das ihr Leben in zwei Hälften teilen sollte. Im ersten Teil ihres Lebens sollte sie unter ihrem Pseudonym weltweit bekannt werden, das sie sich zugelegt hatte, als sie mit Mitte 20 ihre ersten Texte veröffentlichte – laut der Seghers-Expertin Sonja Hilzinger vor allem, um als Autorin nicht aufgrund ihrer jüdischen Herkunft abgetan zu werden.
Glaube an den Kommunismus
Diese sollte ihren Lebensweg freilich wenige Jahre später entscheidend mitbestimmen – obwohl das Judentum für sie vermutlich eher Familienbrauch als ernsthaft praktizierte Religion war. Ihr eigentlicher Glaube galt jedenfalls spätestens ab Mitte der 1920er-Jahre der Sache des Kommunismus. Als sie 1928 der KPD beitrat, war sie bereits drei Jahre mit dem ungarischen Genossen Laszlo Radvanyi verheiratet. Nach ihrem Umzug nach Berlin kamen dort ein Sohn und eine Tochter zur Welt.
Eine Wunde im Leben
Durch ihre ersten sozialkritischen Veröffentlichungen in der Weimarer Zeit und der Auszeichnung mit dem renommierten "Kleist-Preis" war Seghers bereits eine ernstzunehmende literarische Größe, als die Machtübernahme der Nazis Anfang 1933 einen tiefen Einschnitt in ihr Leben bedeutete. Ihre Bücher wurden verboten und verbrannt – Seghers floh nach kurzzeitiger Gestapo-Haft mit ihrem Mann und den Kindern über die Schweiz nach Frankreich und schließlich Mexiko. Ihre Mutter aber wurde nach dem Tod des Vaters ein Opfer des Holocaust.
Im Exil schrieb Seghers nun ihren erfolgreichsten Roman "Das siebte Kreuz" – ein ergreifendes Plädoyer für Menschlichkeit in barbarischen Zeiten, das auch dank einer Hollywood-Verfilmung mit Spencer Tracy in der Hauptrolle um die Welt ging und ihr ein gutes Auskommen sicherte.
Sehnsucht nach dem Guten
Als Seghers nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der NS-Diktatur in ihre Heimat zurückgekehrt und bald darauf mit dem bedeutenden bundesdeutschen "Büchner-Preis" ausgezeichnet worden war, wollte sie schließlich als Mitglied der SED im Osten des Landes "dazu beitragen, dass eine Gesellschaft entstehen möge, in der man ein besseres, gerechteres, gütigeres Leben findet für alle Menschen“ – wie sie später einmal in einem Interview sagte. Diese hehre Zielsetzung sollte allerdings für sie auch eine vielfache Prüfung ihrer Ideale mit sich bringen – und letztlich wohl eine bittere Enttäuschung.
Nach ihrem Umzug nach Ost-Berlin wurde Seghers spätestens 1952 als Präsidentin des Schriftstellerverbands der DDR zur zentralen Figur des ostdeutschen Literaturbetriebs. Ihr Wort oder Schweigen hatte nun umso mehr Gewicht – nicht zuletzt dann, wenn Kollegen mit dem SED-Staat in Konflikt gerieten.
Zwischen Linientreue und Kritik
1957 wurde dem Leiter des Aufbau Verlags, Walter Janka, der auch zahlreiche von Seghers‘ Werken herausgebracht hatte, wegen angeblicher staatsfeindlicher Umtriebe ein Schauprozess gemacht. Seghers war zusammen mit anderen Kulturschaffenden im Gericht anwesend und äußerte öffentlich keinerlei Kritik an dem Verfahren – auch nicht, als Janka schließlich das harte Urteil von fünf Jahren Zuchthaus erhielt. Hinter den Kulissen setzte sich Seghers zwar für Janka ein – ihr öffentliches Schweigen hielt ihr dieser aber später dennoch vor. Doch nicht nur in diesem Fall vermied es Seghers, der SED öffentlich zu widersprechen.
Auch bei Schlüsselereignissen wie dem Volksaufstand in der DDR 1953 und dem Aufstand in Ungarn 1956 wich Seghers in der Öffentlichkeit nicht von der Parteilinie ab. Die gnadenlose Reaktion der Sowjetarmee und der DDR-Behörden auf die Erhebung des 17. Juni 1953 verharmloste sie in ihrer Erzählung "Das Vertrauen" von 1968 mit dem Satz:
Als die Arbeit wieder lief, wurden noch ein paar verhaftet, teils daheim, teils im Betrieb.
Subtile Ansätze von Kritik
Doch bei aller Linientreue nach außen konnte Seghers nach innen durchaus auch ein schneidendes Wort führen – und in ihrem Werk gab es zumindest subtile Ansätze von Kritik. Spätestens ab Ende der 1950er-Jahre ließen sich Passagen ihrer Texte als Vorwurf an den real existierenden Sozialismus lesen. In einem Leitmotiv wie dem, dass man "ohne Freude nicht leben" könne, drückte sich nun offenbar eine tiefe Enttäuschung Seghers‘ darüber aus, dass die DDR ihre Chance auf eine wirklich bessere Gesellschaft in ihren Augen wohl bereits verspielt hatte.
Widersprüchliches Vermächtnis
Es war aber nicht nur ein Ausdruck innerer Widersprüche und eines Festhaltens am SED-Sozialismus mangels Alternativen zum vermeintlich dekadenten westlichen Lebensstil, dass Seghers sich letztlich trotz ihrer Enttäuschung mit der Realität in der DDR offenbar weitgehend abfand. Denn die Tatsache, dass sie selbst als Staatsikone mit mehreren Nationalpreisen und angesichts von Dutzenden Institutionen, die ihren Namen trugen, unter besonderer Beobachtung der Staatssicherheit stand, hielt sie dem Vernehmen nach auch in Angst. Ihre Tochter sagte jedenfalls später, ihre Mutter sei "keine Heldin" gewesen.
Enttäuschte Leser
Selbstaussagen von Anna Seghers waren selten und oftmals unterschiedlich deutbar – im Rückblick bleibt aber zweifellos ein Widerspruch erkennbar zwischen ihrem kämpferischen Humanismus der Exilzeit und der zunehmenden Konformität danach, die letztlich nicht nur für Reich-Ranicki auch der Qualität ihres späteren Werks geschadet hat. Dass Seghers ihre herausragende Stellung im DDR-Kulturbetrieb nicht entschieden zu konstruktiver Kritik am System nutzte, war und ist für viele ihrer Leser zweifellos eine Enttäuschung. Inwiefern sie letztlich vor sich selbst ihren eigenen Idealen treu blieb, muss dahingestellt bleiben.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: Filmmagazin | 24.02.2018 | 00:05