Weltweit erste Nierentransplantation gelingt - DDR zieht nach

12. Februar 2019, 12:20 Uhr

Der 17. Juni 1950 ist in der Medizin ein historischer Tag: Es gelingt die erste Transplantation einer Niere. Die Patientin ist Ruth Tucker. 17 Jahre später zieht auch die DDR nach. Die Möglichkeit der Organverpflanzung ebnet den Weg für die Gesetzgebung zur Organentnahme und der - bis heute aktuell diskutierten - Frage: Organentnahme mit oder ohne Zustimmung? Zu DDR-Zeiten war das so geregelt: Damals gehörte Transplantation zu den Prestige-Projekten. Die aktuell heftig diskutierte Frage, ob jeder Organspender sein sollte, stellte sich in der DDR nicht. Wer nicht zu Lebzeiten widersprach, dem konnten nach dem Tod Organe zu Spenderzwecken entnommen werden. Teilweise wussten die Angehörigen nichts von der Organentnahme.

Nach drei Jahren Diskussion wird 1975 ein Organtransplantationsgesetz durch den Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik eingeführt. Von nun an dürfen in der DDR allen, die nicht zu Lebzeiten widersprochen haben, nach dem Tod Organe entnommen werden. Die Ärzte entscheiden vor Ort.

Frank von Olszewski war 1976 Oberpfleger am Kreiskrankenhaus in Suhl. Er erinnert sich an die erste Nierenentnahme, die im Suhler Krankenhaus stattfand. Ein junger Skifahrer war bei Zella-Mehlis gegen einen Baum gefahren und wurde hirntot eingeliefert. Ein Entnahmeteam kam mit seinen Spezialinstrumenten und entnahm die Nieren des Mannes. "Ich habe diesen Behälter mit den Nieren zwei Volkspolizisten übergeben, die vor der Klinik mit ihrem Lada standen. Es war Winter und ich hab gesagt: 'Jungs, diese Nieren müssen nach Berlin-Friedrichshain auf dem schnellsten und sichersten Wege'", erinnert sich der Oberpfleger. 

Keine Informationspflicht

Im Gesundheitsrecht der DDR ist festgelegt, dass es zur Entnahme keine Einwilligung der Angehörigen braucht. Das führt teilweise dazu, dass die Angehörigen nichts von der Organspende erfahren, so der Oberpfleger. "Die Eltern von diesem jungen Mann haben ihn beerdigt, denen haben wir davon nichts sagen müssen."

Mehr Organe als Organ-Empfänger

Diese Situation ist einzigartig und führt dazu, dass auch der Westen profitiert. Für die DDR ergeben sich nämlich neue Möglichkeiten der Kooperation auf dem Gebiet der Transplantation. Es wird mit "Eurotransplant", der Vereinigung der transplantierenden Einrichtungen im westlichen Ausland Europas, zusammengearbeitet. Der damalige Urologe und Transplantationsmediziner im Krankenhaus Berlin-Friedrichshain, Prof. Dr. Moritz Mebel, erinnert sich:

Leichennieren, die wir bei uns nicht verwenden konnten, weil es keine immunologische Übereinstimmung gab, wurden dorthin geschickt. Wir haben von dort auch Nieren bekommen. Wir haben immer mehr exportiert, wenn Sie so wollen, als wir bekommen haben.

Prof. Dr. Moritz Mebel

DDR-Koryphäe Moritz Mebel

Mebel ist in seinem Bereich eine Koryphäe. Er wurde am 23. Februar 1923 in Erfurt geboren. Seine Mutter Verkäuferin, der Vater Gießerei-Ingenieur. Die Eltern sind beide Juden und fliehen mit ihrem Sohn vor den Nationalsozialisten nach Moskau. Hier besucht er die Karl-Liebknecht-Schule, die dort als Schule der "Immigrantenkinder" gilt.

Als die deutschen Truppen 1941 vor Moskau stehen, beginnt Mebel gerade sein Medizinstudium. Er wird eingezogen und macht Karriere in der Roten Armee. 1945 kommt Mebel als Garde-Oberleutnant der Sowjetischen Truppen nach Deutschland zurück und wird Besatzungsoffizier in Halle und Merseburg. Doch er kehrt nach Moskau zurück und schließt sein Studium ab. In einem estländischen Krankhaus ist er ab 1951 leitender Arzt. Doch es zieht ihn erneut nach Deutschland und so kehrt er 1958 abermals zurück. Hier wird er vorzeige Bürger der DDR: Über mehrere Stationen steigt er auf zum Chefurologen der Charité, ist Mitglied der SED und ab 1971 bis zum Ende der DDR ist Mebel Mitglied des ZK.

Ab 1962 ist er mit dem Aufbau des ersten Nierentransplantationszentrums der DDR im Krankenhaus am Friedrichshain befasst. 1967 führt er mit den Professoren Harald Dutz und Otto Prokop die erste erfolgreiche Nierentransplantation in der DDR durch, nachdem im Vorjahr Heinz Rockstroh in Halle die erste Nierentransplantation durchgeführt hatte - ohne Erfolg.

Sprung in die internationale Spitzenmedizin

Transplantationsmedizin ist in der DDR auch politisch gewollt. In den 1970er-Jahren ist im Land nur noch weniges international konkurrenzfähig. Daher will sich der Staat auf anderen Gebieten etablieren. Das politische Ziel geht auf: Die Transplantation gehört zu den Projekten, mit denen es die DDR in die erste Reihe der internationalen Spitzenmedizin schafft und glänzt. Ärzte wie Moritz Mebel werden in internationale Gremien gewählt, in Vorstände von Verbänden und Organisationen berufen. Außerdem ebnet das Gelingen der Organverpflanzung den Weg für die Gesetzgebung zur Organentnahme und der - bis heute aktuell diskutierten - Frage: mit oder ohne Zustimmung?

Aktuelle Debatte zur Organspende

Im Januar 2020 hat der Bundestag entschieden, dass für eine Organspende weiter die vorab dokumentierte ausdrückliche Zustimmung des Spenders - und ersatzweise die der Angehörigen - nötig ist. Das in vielen anderen europäischen Staaten eingeführte Modell einer Widerspruchslösung wurde abgelehnt. Es sah vor, dass jeder Bürger Organspender ist - es sei denn, er hat ausdrücklich widersprochen.



(bb/jok/dpa/epd)

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im Radio: MDR AKTUELL RADIO | 13. Januar 2020 | 12:00 Uhr