Kinder des Krieges Kriegsende: Kinder auf der Flucht   

21. Juni 2022, 17:44 Uhr

Sie verloren Heimat, Freunde, ihre Kindlichkeit, Familienangehörige, manche ihr Leben. Wie viele Kinder in den Trecks der Geflüchteten und Vertriebenen aus Ost- und Südosteuropa waren, ist nicht bekannt. Doch es müssen viele gewesen sein, denn auf der Flucht waren vor allem Frauen, Kinder und Alte. Bis zu 14 Millionen Deutsche verloren zwischen 1944 und 1947 ihre Heimat. Geschätzt zwei Millionen kamen ums Leben, starben durch Hunger, Gewalt, Krankheiten, Unfälle, Erschöpfung. Wie Kinder die Flucht erlebt haben, ist nicht unmittelbar übermittelt. Nach Kriegsende lag Europa in Trümmern. Für das Leid und die Erlebnisse der Kinder war kein Raum. Über die Zeit der Flucht erzählen die Kinder von einst als Erwachsene im Seniorenalter in dokumentierten Zeitzeugeninterviews.

Ostpreußen war lange vom Krieg verschont geblieben. Auch als deutsche Städte schon längst bombardiert wurden, herrscht hier Ruhe. Die Kindheit verlief recht normal, erinnern sich Zeitzeugen. Obwohl die Rote Armee 1944 immer näher rückte, war es den Menschen von der Führung des Deutschen Reiches verboten, ihre Orte zu verlassen. So begann im bitterkalten Winter eine unvorbereitete, chaotische Flucht, als am 13. Januar 1945 die Roten Armee ihre große Offensive in Ostpreußen startete.

Evakuierungszüge aus Viehwaggons

Heinrich Ehlert war damals zwölf Jahre alt. Er dachte nicht, dass es ein Abschied für immer sein würde, als er mit Mutter und Geschwistern in einen der LKW der Wehrmacht stieg, die die Menschen zu den Evakuierungszügen brachten. Diese bestanden aus Viehwaggons, in denen Heinrich dicht gedrängt mit anderen Kindern und Frauen, ohne Versorgung und in Ungewissheit ausharrte. "Es ging immer nur ein Stück voran, dann mussten wir wieder warten, denn überall, wo Militär- oder Verwundetentransporte erwartet wurden oder vorbei kamen, wurden wir aufs Abstellgleis gestellt. Wir haben manchmal stundenlang auf freier Strecke gestanden, ohne dass die Türen geöffnet wurden. Allenfalls konnte man aus dem Türschlitz nach draußen schauen. Und keiner wusste, wo wir jeweils waren und wohin die Reise ging", erinnert sich Heinrich Ehlert 2001.

Auf der Flucht sind vor allem Frauen, Kinder und Alte

Die erste Zwischenstation war in Bischofsburg. Die Familie kam zu einem günstigen Zeitpunkt an: die Wehrmacht löste gerade ein örtliches Lebensmitteldepot auf. Hunger erlebte Heinrich Ehlert hier nicht, im Gegenteil, alles war wie ein großes Abenteuer. Mit LKWs geht es weiter zur nächsten Station und von dort zum Frischen Haff. Der Weg über den zugefrorenen, lang gestreckten Bodden ist der damals einzig mögliche Weg Richtung Westen. Heinrich Ehlert erinnert sich, wie gefährlich das aussah: an den Rändern war das Eis schon getaut, der sichere Weg über das Haff mit Ästen markiert. Am Abend, im Schutz der Dunkelheit, gingen sie Richtung Danzig, als Teil eines unendlichen Flüchtlingsstroms, darunter auch Bauern mit Wagen und Pferden.

Das war ganz schön beschwerlich, denn auf dieser Eisscholle hatte sich schon längst eine Wasserschicht gebildet, die bis zu den Knöcheln reichte und uns nasse Füße bescherte. Dabei war es auch noch sehr kalt, Minustemperaturen von schätzungsweise 25 Grad.

Erst am Morgen erreichten sie die Küste, doch das Tageslicht brachte Gefahr. "Plötzlich kamen Tiefflieger und fingen an, auf die Flüchtlinge zu schießen. Die Bauern gerieten zum Teil in Panik und versuchten, auch außerhalb der abgesteckten Wege raufzukommen. Nachts war zwar das Wasser an den Uferrändern gefroren, aber es war nicht stark genug, um die Wagen zu tragen - einige sind eingebrochen, Pferde und Menschen ertranken." Heinrich Ehlert berichtete im hohen Alter sachlich und nüchtern von Panik, Todesangst und dem Verlust der Heimat.

Die Historikerin Barbara Stambolis beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema "Kinder im Zweiten Weltkrieg". Sie erläutert: "Es war für die Kinder damals notwendig, sich unauffällig zu verhalten. Klagen oder weinen hätte zusätzliche Probleme auf der Flucht bereitet. Die Menschen waren mit dem Überleben beschäftigt und es war wenig Zeit, sich mit den emotionalen Befindlichkeiten der Kinder zu befassen. Das war normal, weil es vielen so ging."

1944 bis 1945: Nur ein Teil der Deutschen flieht

Mit großem Glück kommt die gesamte Familie von Heinrich Ehlert heil im Gebiet des späteren Westdeutschlands an. Sie sind mittellos, aber unbeschadet. Der Vater und der große Bruder finden sofort Arbeit auf der Werft in Bremerhaven. Ganz anders widerfuhr es Rudolf Kähler. 1945 war er mit neun Jahren in einem Flüchtlingstreck aus Ostpreußen. Auf der schmalen, zugefrorenen Straße, auf der sich Pferdefuhrwerke, LKWs und Fußgänger drängten und zu überholen suchten, spielten sich dramatische Szenen ab: "Zu beiden Seiten der Straße wurde ständig um Hilfe gerufen, geflucht, gebetet und hysterisch geschrien. Doch wer konnte hier noch helfen! Wir beobachteten mehrmals, wie einzelne Frauen mit kleinen Kindern in die eisige Ostsee liefen, um sich zu ertränken."

Truppen der Roten Armee ziehen in Ostpreußen ein
Bildrechte: imago/ITAR-TASS

Seine Eltern begaben sich nur kurz mit ihm und seinem kleinen Bruder auf die Flucht, versuchten dann, in ihren Heimatort in Ostpreußen zurück zu kommen. Seine Mutter war hochschwanger, das vermutet er als einen der Gründe. Seine Eltern wollten später nicht mehr über diese Jahre reden. Mit der Entscheidung umzudrehen, wird die Familie wie viele andere, die in den dann zu Polen gehörenden Gebieten blieben, zum Ziel der Vergeltungsmaßnahmen der Roten Armee. Sie mussten Zwangsarbeit verrichten, wurden interniert und weder mit Lebensmitteln noch Medikamenten versorgt.

Massenvergewaltigungen, Gewalt und Willkür

Drei lange Jahre wird die Familie hin und her getrieben, sie verhungern fast. Rudolf erlebt nicht nur die Geburt des kleinsten Bruders, sondern auch seinen Tod in der eisigen Kälte des Winters 1945. Der zehnjährige wird immer wieder Zeuge von Massenvergewaltigungen, Gewalt und Willkür. Einmal wird sein kriegsuntauglicher Vater fast erschossen. "Während meine Mutter und ich starr vor Schreck daneben standen, ging der Russe zu meinem Vater zurück und griff nach einem kleinen Gegenstand, der aus der aufgesetzten Brusttasche der Joppe ragte. Es war ein perlmuttbelegtes Rasiermesser, das in der Morgensonne wahrscheinlich kurz funkelte, als er genau auf diese Stelle gezielt hatte. Der Rotarmist hatte nun nur noch Augen für sein Beutestück ... warf schließlich seine Maschinenpistole über die Schulter und ging davon, ohne uns weiter zu beachten. Mit diesem Erlebnis hatten wir eine exemplarische Erfahrung gemacht, die sich in den folgenden Jahren unzählige Male bestätigte: Wie sehr unser nacktes Leben nun gleichermaßen von unkalkulierbarer Willkür wie vom glücklichen Zufall abhängig geworden war."

Nicht jammern, weitermachen, durchhalten

Neben "glücklichen Zufällen" helfen Rudolf und seiner Familie vor allem ihr Können, ihre Arbeitskraft und ihr Überlebenswille. Als sie im November 1947 nach Deutschland ausreisen dürfen, haben sie nichts als das blanke Leben gerettet, sie sind alle drei chronisch unterernährt und krank. Das Kind, das Rudolf war, als sie aufbrachen, ist fort. In dem letzten Winter 1946/47, den sie in Ostpreußen verbringen, haben sie wochenlang nichts mehr zu essen. Der kleine Bruder verhungert mit gerade einmal vier Jahren, es ist ein langsames, qualvolles Sterben, das der große Bruder nicht lindern kann.

Sie alle waren in diesen Wochen dem Tod näher als dem Leben: "Mit einem Staubkamm, den wir schon 1945 gefunden hatten, kämmte ich mich bisher täglich mehrmals, um aus dem ungepflegten langen Haar die größten Kopfläuse zu entfernen, die uns, wie auch die Kleiderläuse, sehr plagten. Eines Tages schaffte ich es nicht mehr, die zitternde Hand mit dem Kamm bis über den Kopf zu führen. Dies war eine furchtbare Erfahrung und sie ist mir unauslöschlich in Erinnerung geblieben, deutete ich sie doch als Anzeichen des nahenden Todes."

Ihre Ankunft in der Sowjetischen Besatzungszone in der Nähe von Schönebeck bringt vor allem erst einmal hygienische und medizinische Versorgung. Aber den Hunger werden sie lange nicht los, die Versorgung der Flüchtlinge ist erbärmlich, sie müssen betteln gehen. Jahrelang gingen sie Kartoffeln stoppeln und Ähren auflesen. Sie ziehen von Lager zu Lager, richteten sich dann in einer baufälligen Baracke ein. Sie ist ungeheizt, aber von ungenutztem Land umgeben, dass sie unter jahrelangen Mühen fruchtbar machen. "Obwohl bittere Armut uns noch lange Zeit begleitete - mein Vater starb bereits 1958 im Alter von 58 Jahren und ich habe nach Schlosserlehre, Abitur und Studium erst ab 1963 regelmäßig Geld verdienen können - nahm unser Dasein ab Sommer 1949 ganz allmählich wieder menschliche Züge an. Man war bereit, für eine bessere Zukunft, fleißig zu lernen und zu arbeiten."

Ablehnung und Diskriminierung statt Willkommenskultur

Im Nachkriegsdeutschland waren Flüchtlinge durchaus nicht immer willkommen. Es gab Konflikte mit der alteingesessenen Bevölkerung. Vielen Flüchtlingsfamilien gelang es erst unter Mühen und allmählich, in der neuen Umgebung "anzukommen". "Es gibt Belege dafür, dass bis in die 1950er Jahre in Klassenbüchern eingetragen wurde, wer ein Flüchtlingskind war. Man ging davon aus, dass sie weniger begabt waren, obwohl wir heute wissen, dass das natürlich nicht stimmte", berichtet die Historikerin Barbara Stambolis. Die Kinder dieser Zeit wurden schnell erwachsen, übernahmen Verantwortung, halfen, die wirtschaftliche Existenz ihrer Familie zu sichern und waren gezwungen, neuen Anschluss zu finden. Marianne Engelmann erzählte im Jahr 2018 mit 82 Jahren von der Zeit nach ihrer Ankunft in Sachsen.

Sie kamen 1947 aus Schlesien, wo die deutsche Familie die Lebensgrundlage verloren hatte. "Habenichtse" wurde ihnen hinterher gerufen. Die Kinder erlebten, wie ihre Familien und ihre Herkunft infrage gestellt wurden: "Ihr Habenichtse, und ihr sagt bloß, ihr hattet früher Häuser und was nicht alles, in Wirklichkeit seid ihr in Lumpen rumgelaufen‘." Anfeindungen, Ablehnung und Ausgrenzung kamen für die Kinder zu Hunger, Armut und Verlust hinzu. Da ihre Wurzeln gekappt waren und sie nur nach vorn schauen konnten, gingen Flüchtlinge zum Arbeiten überall hin, auch in ländliche und entlegene Gebiete.

Flüchtlingskinder wollten dazu gehören

Wenn die Flüchtlingskinder von einst heute ihre Geschichte erzählten, dann wollten sie im Rückblick auf ihr Leben nicht als Opfer betrachtet werden, so Barbara Stambolis. Sie hatten ja auch angepackt, aufgebaut, viel geleistet. "Man dachte nach dem Krieg, dass Kinder schwere Belastungen und schlimme Erlebnisse besser wegstecken als Erwachsene. Dass es reicht, wenn sie wieder genug zu essen und medizinische Versorgung bekommen. Doch ihre frühen Erfahrungen haben sie ein Leben lang begleitet. Manchmal melde sich das Kind, das sie einst waren, ungefragt in ihnen zu Wort und mit ihm die damaligen Ängste."

Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: MDR Zeitreise | Kinder des Krieges - Trauma einer Generation | 03.05.2020 | 22:00 Uhr