Mein 21. August 1968

17. August 2018, 17:33 Uhr

Tomáš Rimpel erlebte als junger Mann den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in seiner Heimatstadt Prag am 21. August 1968. Was er in diesen Tagen sah, schockierte ihn. Wenig später verließ er sein Land in Richtung Westen. Erst 1989 konnte er zurückkehren.

Tomáš Rimpel (72) hat die Ereignisse des Prager Frühling hautnah miterlebt. Er war im Frühjahr 1968 als Fahrer für den damaligen tschechoslowakischen Finanzminister unterwegs. Während des Einmarschs der Truppen des Warschauer Paktes und auch in den Tagen danach konnte er in der Stadt alle Straßensperren passieren. Was er dabei erlebte, schockierte ihn. Eine Woche später verließ er sein Land in Richtung Deutschland. 21 Jahre lang lebte er in der Nähe von Köln. Erst zu Weihnachten 1989 konnte er wieder in seine Heimatstadt Prag zurückkehren. Hier sein Erlebnisbericht aus dem August 1968.

Es lag etwas in der Luft

Diese eine Woche im August 1968 habe ich sehr lebendig im Gedächtnis, obwohl seither schon 50 Jahre vergangen sind. Es war eine angespannte Zeit, irgendetwas lag in der Luft. An der Staatsgrenze standen schon wochenlang die Truppen unserer "Freunde" vom Warschauer Vertrag, wir waren also gewarnt, aber keiner konnte die Bedrohung richtig einordnen wegen der allgemeinen Euphorie, die damals noch herrschte.

Am Vorabend des 21. August hatte ich zusammen mit ein paar jungen Kollegen vom Finanzministerium einige Kneipen auf der Prager Kleinseite besucht. Dies hat sich ziemlich hingezogen, so dass ich in meiner Wohnung in Podolí erst weit nach Mitternacht eintraf. So kam es, dass ich am nächsten Morgen verschlief. Ohne Frühstück bin ich zur Bushaltestelle gerannt. Dort standen sehr viele Leute. Viel mehr als sonst. Alle schwiegen, manche hielten sich Transistorradios ans Ohr. Ich wusste sofort, dass etwas passiert war, hatte aber keinen Mut, jemanden zu fragen. Ich ahnte aber etwas. Es war ein dumpfes Rauschen am Himmel zu hören. In regelmäßigen, etwa einminütigen Abständen flogen schwere Transportflugzeuge in Richtung Flughafen Ruzyně.

Panzer auf den Straßen

Endlich kam der Bus. Obwohl er schon ziemlich voll war, gelang es allen Wartenden, sich irgendwie hineinzuquetschen. Die Fahrt ging an der Moldau entlang. Auf einmal musste der Busfahrer am Nationaltheater eine Notbremsung machen - von rechts, aus der Národní třída, kam ein sowjetischer Panzer. Ihm folgten weitere. Es war eine komplette Panzereinheit. Der Bus unterbrach seine Fahrt und blieb stehen. In diesem Augenblick war meine Ahnung zur Gewissheit geworden. Ich begann am ganzen Körper zu zittern und lief, schweißüberströmt, in die Letenská Straße, ins Finanzministerium. Unterwegs, im Stadtteil Klárov, sah ich eine weitere Panzereinheit in einem Park. Das Gebäude des Finanzministeriums war fast leer. Die Leute kamen nicht zur Arbeit, weil der öffentliche Verkehr lahmgelegt war.

Schusswechsel

Später lief ich in den Park in Klárov zurück, wo sich bereits viele Leute versammelt hatten und versuchten, mit den sowjetischen Soldaten ins Gespräch zu kommen. Vergeblich. Es war in den Gesichtern der meist sehr jungen, ängstlichen Soldaten zu sehen, dass sie von der Situation überfordert waren. Ihre Offiziere achteten überdies streng darauf, dass sie keine Gespräche mit den Prager Bürgern führten. Hin und wieder waren von fern Salven aus automatischen Waffen zu hören. Die Soldaten erwiderten die Schüsse. Sie glaubten, sie seien von sogenannten Konterrevolutionären beschossen worden.

Die sowjetischen Soldaten beschossen sich untereinander

Oftmals beschossen sich die ängstlichen und unausgeschlafenen Soldaten aber selbst. So erlebte ich es jedenfalls am nächsten Tag - ich geriet zufällig in ein Gefecht zwischen zwei sowjetischen Einheiten. Die eine war in Smíchov, die andere auf dem Karlsplatz stationiert. In der Annahme, von tschechoslowakischen Aufständischen beschossen worden zu sein, feuerten die Einheiten aus allen Rohren. Ich lag mit etwa zehn anderen Leuten auf dem Bürgersteig, teilweise geschützt durch die Betonbrüstung der Palacký Brücke, und wartete auf das Ende des Schusswechsels. Er dauerte etwa 15 Minuten. Ich bin einige Tage später noch einmal in eine Schießerei geraten, in der Divadelní, der Theaterstraße, diesmal aber im Dienstwagen, als ich vermutlich ein paar Minuten nach dem abendlichen Ausgangsverbot zum Finanzministerium fuhr.

Meine Heimat verlassen

Ich habe während der einen Woche der Okkupation viele schreckliche Erlebnisse gehabt. Ich sah Autos samt Fahrer, die von einem Panzer überrollt worden waren; ich sah auf der Kleinseite junge Leute, die blutverschmierte tschechoslowakische Flaggen schwenkten und in Klárov sah ich eine angeschossene junge Frau auf der Straße liegen.

Ich war jung und voller Ideale. Aber ich wollte jetzt nur noch weg aus meinem Land. Am 28. August 1968 stieg ich in den ersten Zug, der nach der Okkupation in Richtung Westen, nach Deutschland, fuhr. Dass ich meine Heimat 21 Jahre nicht wiedersehen würde, konnte ich damals freilich nicht ahnen.

Über dieses Thema berichtete MDR im TV in "MDR Zeitreise" 14.08.2018 | 21:15 Uhr